XLI | Verpasste Chancen

Als ich sie nur überrascht anstarrte, neigte Daria den Kopf. „Passt es gerade nicht?"

Ich sah zurück in Richtung Wohnzimmer. „Eigentlich..." Kurzentschlossen trat ich zur Seite. „Geh am besten schonmal ins Wohnzimmer. Magst du etwas zu trinken haben?"

Sie hob eine Augenbraue. Ich seufzte und schenkte ihr einen auffordernden Blick. Ich wusste selber, dass diese Situation ungewöhnlich war. Vermutlich hatte sie erst gar nicht damit gerechnet, dass sie soweit kommen würde.

Doch mittlerweile war ich wirklich gespannt, was sie mir zu sagen hatte. Rausschmeißen konnte ich sie später auch noch. Und bis es dahin kam, konnte Tae warten. Das hier war sogar noch seltsamer als seine plötzlichen Erkenntnisse zu Rachel.

„Ich brauche nichts, danke", sagte Daria schließlich. Sie blieb aber im Flur, bis ich die Tür geschlossen hatte und selber ins Wohnzimmer ging.

Tae hatte es sich bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht. Als er uns kommen sah, schaute er fragend von mir zu Daria und wieder zurück. Ich nickte leicht und er stand auf. „Ich gehe dann mal den Liegestuhl suchen. Im Keller, richtig?"

„Genau, höchstwahrscheinlich im ersten Raum links." Ich hängte noch ein tonloses Danke hinterher. Was ich getan hätte, hätte er es nicht verstanden, wusste ich noch nicht.

Sobald wir alleine waren, hockte sich Daria auf das kleinere der Sofas. Ich nahm auf dem größeren Platz und schlug die Beine übereinander. Kurz wanderten meine Gedanken wieder zu Tae. So wie ich ihn einschätzte, würde er diese Unterhaltung nicht von sich aus unterbrechen. Blieb nur zu hoffen übrig, dass er die zweite Treppe in den Garten fand.

Ich blinzelte und konzentrierte mich auf Daria. Tae würde das schon hinbekommen. Was Daria hingegen anging, machte sich nun doch leichte Aufregung in mir breit.

„Also, worüber möchtest du reden?", begann ich.

Sie betrachtete den Raum für einen Moment. Es wirkte, als suche sie etwas, was nicht hier war. Dann wandte sie sich wieder mir zu.

„Du und David, ihr seid beide in diese Alien-Sache verwickelt, richtig?"

Ich konnte nicht anders als sie mit leicht geöffnetem Mund anzustarren. Dass es um ihren Freund gehen würde, hatte ich mir schon fast gedacht – aber nicht, dass es diese Richtung nehmen würde. Wie zur Hölle hatte sie das herausgefunden?

Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Wusste ich es doch. Matilde hängt ja auch drin, genau wie Luis und der Rest deines kleinen Freundeskreises."

Wenn mich ihr erster Satz nicht schon aus dem Konzept gerissen hätte, wäre es nun endgültig vorbei. War sie selber in die Sache involviert? Anders konnte ich mir kaum erklären, wie sie innerhalb ein bisschen mehr als einer Woche an all die Informationen drangekommen war.

Daria gluckste, als sie meine Reaktion beobachtete. Im nächsten Moment atmete sie jedoch tief ein und aus, ihr Gesichtsausdruck plötzlich ernst. Offenbar hatte sie nicht wirklich mit Bestätigung gerechnet. Oder, es war einfach zu absurd zu glauben.

„Ihr seid doch verrückt", murmelte sie. „Sich da einzumischen ist genauso dämlich wie ein Zelt in einem Hurrikan aufzubauen."

„Woher weißt du davon?", brach es endlich aus mir heraus.

Sie sah auf. „Ihr wart nicht besonders unauffällig, wenn man weiß, worauf man achten muss."

„Aber gerade du..." Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen. Genau die Daria, die ich mein ganzes Leben lang gekannt und nicht besonders leiden konnte, hatte es in so kurzer Zeit geschafft, die Puzzleteile zusammenzusetzen?

Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten amüsiert und gekränkt zugleich. „Das hättest du nicht erwartet, oder? Dass jemand so Oberflächliches dahinterkommen könnte."

Die Worte wollten einfach nicht aus mir herauskommen. Daria seufzte. „Mach dir nichts draus, du bist nicht die Einzige. Wie es aussieht, unterschätzen die meisten Leute einen, wenn man einen Ruf wie meinen hat. Jetzt wo du also Bescheid weißt, würde ich gerne die ganze Geschichte hören."

Das brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Vor einer Woche hast du es noch darauf angelegt, mich zu provozieren. Warum sollte ich dir jetzt breitwillig alles unter die Nase reiben?"

„Gut, dann lass mich anfangen. Ob du es glaubst oder nicht, nachdem du offiziell mit David Schluss gemacht hattest, war er ziemlich wütend auf dich. Diejenige, die dabei zuhören durfte, war ich. Und rein zufällig hat er einige Bemerkungen gemacht, die nicht ganz normal gewirkt haben. Etwas von einer neuen Generation, die sich als etwas Besseres aufspielen würde. Dass Leute wie du immer bevorzugt würden.

Dann bist du über Nacht verschwunden. Natürlich habe ich mitbekommen, dass Luis und Chaeyoung dem Ganzen nicht über den Weg getraut haben. Aber noch mehr als die beiden schien David darüber zu wissen. Immer wenn er dachte, ich wäre schon eingeschlafen, hat er mit diversen Leuten aus Linti telefoniert."

„Linti?", rutschte es mir heraus.

„Richtig, genau das Linti." Daria lächelte zufrieden. „Die dachten aber anscheinend nicht im Geringsten daran, ihn weiter als nötig zu informieren. Immer, wenn sie aufgelegt haben, hat er sich darüber beschwert, dass er nur wegen seines falschen und quasi nicht existenten avireischen Erbes benachteiligt würde.

Irgendwann habe ich ihn gefragt, was wir tun sollten, wenn du zurückkommst. Seine einzige Antwort darauf war, dass ich mich von dir fernhalten sollte. Du würdest zu gefährlichen Wutausbrüchen neigen, die in unbekannten Ausmaßen enden könnten."

So langsam ging mir ein Licht auf. Sie hatte mich damals nicht provoziert, um mich eifersüchtig zu machen. Zumindest nicht nur. Sie hatte das zum Vorschein locken wollen, auf was David angespielt hatte. Es war riskant gewesen. Aber auch in einer gewissen Weise brillant.

„Wie man bemerkt hat, hatte er recht", fuhr sie fort. „Von deinen Kräften konnte man leicht auf die Goldeneyes schließen, zusammen mit Davids Bemerkungen von ganz am Anfang auf eine Art neue Generation Goldeneyes. Und-"

„Heißt das, er stammt von den Goldeneyes ab?", unterbrach ich sie.

Es machte erschreckend viel Sinn. Es war schließlich nicht so gewesen, als hätten sie sich nicht fortpflanzen können. Und zwischen heute und ihren Lebzeiten lagen Jahrhunderte, in denen sich ihre avireischen Merkmale wahrscheinlich abgeschwächt hatten. Der Aspekt des Falschen hingegen könnte daher kommen, dass sie im Gegensatz zu normalen Avirei erschaffen wurden.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie hatten wir mögliche Nachfahren der Goldeneyes derart übersehen können? Es hatten dann wohl doch noch mehr Leute Zugang zu Linti als gedacht. Was es nur noch komplizierter machte.

„Ich denke, ja", sagte Daria. „Es würde auf jeden Fall stimmig sein, auch mit dem Rest zusammen."

David stammte wirklich von den Goldeneyes ab. Das musste ich erstmal verdauen. Einen Vorteil hatte es aber – es hieß, ich hatte keine Beziehung mit einem jahrhundertealten Wesen gehabt.

„Jedenfalls wirbelt deine bloße Existenz noch einiges auf", fuhr Daria fort. „Sie müssen irgendetwas an den Goldeneyes-Experimenten verändert haben, sonst hättest du keine Kontrolle über deine Kräfte. Überhaupt ist es nicht ganz klar, wer diese neuen Experimente gestartet hat. Arthur Versus sollte schon tot sein, es sei denn, er ist eines dieser unsterblichen Aliens. Wer auch immer weitergemacht hat, muss sich etwas davon versprechen. Die Frage ist nur, was?"

Sie sah mich fragend an. Beinahe hätte ich erleichtert ausgeatmet. Sie wusste doch nicht alles. Bisher konnte man alles, was sie erzählt hatte, mit öffentlich zugänglichen Informationen und ihren Erzählungen erklären.

„Du weißt, was dahintersteckt", stellte sie fest.

„Ich kann dir nichts dazu sagen", wehrte ich reflexartig ab.

„Du hast gerade ebenfalls wichtige neue Informationen bekommen. Findest du nicht, dass es fair wäre, diese eine Frage zu beantworten?"

Das Schlimmste war, sie hatte recht. Alleine wäre ich nicht auf die Sache mit den Goldeneyes gekommen. Aber andererseits konnte ich ihr nicht einfach erklären, dass in den Führungsebenen der Welt noch so einiges anderes abgelaufen war außer der Verheimlichung von Aliens. Wenn sie eins nicht hatte, dann mein Vertrauen. Und wenn die Silvereyes auch noch auffliegen sollten, sollte es wenigstens nicht meine Schuld sein.

Also schüttelte ich den Kopf. „Frag etwas anderes."

Sie verzog den Mund. „Okay. Inwiefern steckt Evyen in allem drin?"

„Evyen?", entfuhr es mir.

Daria nickte.

„Sie...", begann ich, dann stockte ich. „Warum möchtest du gerade das wissen?"

„Hat mich nur interessiert." Sie zuckte mit den Schultern. „Also?"

Etwas in mir sträubte sich immer noch dagegen, ihr auch nur irgendetwas zu erzählen. Es war unwirklich. Ich saß hier mit einer Person, die ich nie hatte ausstehen können, und unterhielt mich über Aliens und Experimente, die nie an die Öffentlichkeit hätten geraten sollen.

Abgesehen davon dachte ich nicht daran, ihr allzu private Dinge anzuvertrauen. Leider fiel eigentlich alles, was mit Evyen zu tun hatte, in diese Kategorie. Wenn ich Daria nicht meine gesamte Zeit in Linti schildern wollte, sollte ich dieses Thema besser vermeiden.

„Worum geht es dir wirklich?", stellte ich also eine Rückfrage.

Daria neigte den Kopf zur Seite. „Das habe ich doch schon gesagt. Ich hätte gerne das gesamte Bild."

„Einfach nur, weil es dich interessiert?"

„Warum nicht?"

„Du hast spezifisch nach Evyen gefragt", sprach ich endlich das aus, was mir aufgefallen war. Es hatte sich zu zielgerichtet angehört, es passte nicht so recht zu ihrer ersten Frage nach dem Grund der Silvereyes-Experimente.

„Soweit war ich auch schon."

„Das würdest du nie tun, es sei denn, da steckt mehr hinter", hielt ich dagegen. Es war wirklich anstrengend, mit einer Person zu reden, die um jeden Preis vermied, eine Antwort zu geben. Mit dem Gefühl waren wir aber vermutlich zu zweit.

„Gut", gab Daria endlich nach und blickte ungerührt zu mir. „Dann sorge dafür, dass es beendet wird."

„Wie bitte?"

„Hast du schonmal weitergedacht? Dieser Konflikt zwischen Linti und den Regierungen stürzt alles ins Chaos. Wenn das so weitergeht und auch noch bekannt wird, dass Menschen wie du existieren, wird das alles ein sehr unschönes Ende nehmen."

„Und das soll ich als Einzelperson verhindern können." Tae hatte gesagt, ich hätte nichts tun können. Evyen war der Meinung, riskante Aktionen seien kontraproduktiv. Wir hatten nicht einmal Matilde wirklich erreichen können, wie hätte das funktionieren sollen?

„Nicht du alleine", sagte Daria. „Aber du hast Kontakte, die bis in die kritischen Ebenen hineinreichen. Über Chaeng kommst du direkt an den Präsidenten des Weltkongresses. Matilde und Florence Southcliffe sind quasi unzertrennlich geworden. An Linti kommst du genauso leicht, ob über dich selbst oder David. Evyen hat da sicher auch noch so einige Verbindungen, die nützlich sein könnten."

Für einen Moment spielte ich die Möglichkeit in Gedanken durch. Dann verwarf ich es wieder. Mit Linti und Florence war ich auf keinem guten Fuß, Jihoon hatte ohnehin zu viel zu tun und Evyen hatte schon genug für mich getan. Und mit diesem Scherbenhaufen eine weltweite Katastrophe aufzuhalten...

„Das würde nicht funktionieren", sagte ich schließlich. „Theoretisch ja, aber praktisch ist es so gut wie unmöglich."

Daria seufzte. „Ich wusste es. Du hast nicht einmal darüber nachgedacht, oder?"

„Öfter als du denkst. Glaubst du wirklich, jemand wie wir könnte irgendetwas an der Situation verändern?"

„Zu achtundneunzig Prozent", kam es direkt zurück. „Ich vielleicht weniger, aber du hast einen Haufen Gold vor dir liegen und müsstest ihn nur nehmen und zu Schmuck verarbeiten. Wenn du nur ein bisschen mehr Rückgrat hättest und dich weniger vom Schicksal herumschubsen lassen würdest, wäre es nicht mal so weit gekommen, dass die Alien-Geschichte aufgeflogen ist."

Ich presste den Kiefer zusammen und ignorierte ihre Worte. Das war genau das, was ich mir selber eingeredet hatte. Doch es von einer unbeteiligten Person zu hören, brachte die Zweifel zurück. Genau das, was ich nicht brauchte.

„Ich sehe schon, das wird nichts." Daria stand auf. „War nett, sich mit dir zu unterhalten. Wenn du es dir anders überlegst, sag mir Bescheid. Ich bin es ja nicht, die die Möglichkeiten hat."

Ohne auf mich zu warten verließ sie das Wohnzimmer. Kurz darauf hörte ich unsere Eingangstür sich öffnen und wieder zufallen. Dann war da nichts mehr außer meinen eigenen Gedanken.

Ich ließ mich nach hinten fallen und starrte an die Decke. Dafür war sie gekommen? Um mir klarzumachen, dass alles meine Schuld war? Um zu zeigen, dass sie in der Lage war, die Teile des Bildes zusammenzusetzen?

Es war mir immer noch ein Rätsel, wie sie so akkurat auf die richtigen Umstände hatte schließen können. Und das war der Punkt, an dem ich mir eingestehen musste, dass ich sie unterschätzt hatte. Dabei nutzte sie auch in der Schule immer dieselbe Strategie: Beobachten, sich ein Bild von der Situation machen, diese mit den verfügbaren Mitteln manipulieren. Und nun traf diese Manipulation wohl nicht die Lehrer, sondern mich. Leider auch nicht ganz ohne Erfolg. Mich zum Nachdenken gebrachte hatte sie schonmal.

Ich drängte die unangenehmen Gedanken an verpasste Chancen zur Seite. Man sollte eventuell ebenfalls die positive Seite betrachten. Immerhin hatte ich durch sie ein paar interessante neue Dinge erfahren. Und ich wusste auch, wo ich nun bei ihr dran war.

Mit einem leisen Geräusch öffnete sich die Gartentür. Ich sah auf. Es war Tae. Dass er auch noch da war, hatte ich schon fast vergessen.

„Du hast die Treppe nach draußen also gefunden", sagte ich. „Tut mir leid, Daria ist ziemlich überraschend vorbeigekommen."

„Du hast die Tür vor einer Woche mal erwähnt, als wir die Teile fürs Bett hochgebracht haben", erinnerte er mich. „Ist alles gut?"

Ich stöhnte auf. „Sieht es danach aus?"

Er setzte sich auf den Platz, den Daria verlassen hatte. „Okay, was ist passiert?"

Eine Millisekunde überlegte ich, ob ich ihm wirklich von dem Gespräch erzählen sollte. Doch dann warf ich die Zweifel über den Haufen und begann, alles der Reihe nach zu berichten. Tae wusste ohnehin schon genauso viel wie der Rest und ich brauchte dringend eine Möglichkeit, mir ein bisschen was von der Seele zu reden.

Als ich geendet hatte, kehrte erst einmal Stille ein. Dann sagte er: „Sie hat unrecht."

„Meinst du?"

Er zuckte mit den Schultern. „Was hättest du tun sollen? Abgesehen davon, dass du das ganze Bild bis vor kurzem nicht einmal kanntest, das ist eine Sache, in die sich die Regierungen jahrhundertelang hineingeritten haben. Schwierig, das alles von jetzt auf gleich zu lösen."

Auch wenn er es vermutlich nicht wusste, das war genau das, was ich gerade brauchte. Daria war mit der Tür ins Haus gefallen und hatte mich aus der Bahn geworfen. Sie konnte durchaus überzeugend sein, das ja. Aber letztendlich musste man immer noch realistisch bleiben.

„Und was ist mit Florence, Linti und allen anderen?", fragte ich.

Er überlegte einen Moment lang. „Wenn ich ehrlich bin, damit könnte man das Problem zwar nicht lösen, aber zumindest das Geschehen beeinflussen. Vorausgesetzt, man weiß, wie man die Karten ausspielen muss. Aber selbst dann könnte es schwer werden oder sogar nach hinten losgehen."

„Danke." Ich schloss die Augen. Ich fühlte mich, als bräuchte ich nun wieder eine ganze Zeit zum Entspannen. „Sag mal, können wir die Sache mit Rachel auf später verschieben? Das ist gerade ein bisschen viel zu verdauen."

„Sicher", sagte er. Zum Glück. Bevor ich mich mit den Problemen meiner Mutter auseinandersetzen konnte, musste ich erstmal ein paar von meinen in den Griff bekommen.

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