XL | Reden
„Mir ist langweilig", zählte Chaeng auf, „ich bin müde, und ich verstehe nicht, wie Ali so lang brauchen kann. Diese Veranstaltung ist doch längst vorbei."
„Seit einer Viertelstunde", stellte Tae richtig.
„In dieser Viertelstunde hätte er sie doch schon längst abfangen können."
„Anscheinend nicht", sagte ich und streckte mich auf dem Sessel aus. „Sollen wir vielleicht einen Film schauen? Oder ein Spiel auf dem Fernseher spielen?"
„Ich bin fürs Spiel. Bei einem Film schlafe ich erst recht ein." Chaeng gähnte nachdrücklich.
„Wie wäre es mit Arcadia?", schlug Luis vor.
„Dieses neue Goldeneyes-Spiel, das so overhyped ist?"
„Overhyped oder nicht, klingt nach Ablenkung. Ich bin dafür", sagte ich.
„Ich auch", sagte Tae. Er hatte es sich auf dem Sofa neben meinem Sessel gemütlich gemacht.
Chaeng schnaubte. „Von mir aus. Immerhin wird es mich wachhalten."
Luis nahm die Fernbedienung und machte sich daran, das Spiel zu installieren. Währenddessen checkte ich immer wieder meinen Airscreen. Doch ich hatte weder einen Anruf verpasst, noch eine Nachricht bekommen. So langsam gab ich die Hoffnung auf, dass Ali die Aktion geglückt war.
Hinsichtlich Nervosität war Tae kein guter Einfluss. Er scrollte mal wieder durch diverse Newsfeeds. Wonach er diesmal suchte, wusste ich nicht.
Die einzigen, die halbwegs entspannt waren, waren Chaeng und Luis. Erstere sah ihm fasziniert zu, wie er das nun heruntergeladene Spiel startete.
„Wir brauchen zwei Teams." Chaengs Blick flog über die Einstellungen, die man vor der Spielrunde tätigen musste. „Wie wäre es mit Nel und mir gegen Luis und Tae? Das sollte einigermaßen ausgeglichen sein."
So machten wir es dann auch. Chaeng und ich bildeten die Behörden, Tae und Luis die Bürger. Um unsere Avatare zu steuern, mussten wir unsere eigenen Airscreens mit dem Fernseher verbinden. Darauf wurde dann auch ein kurzer Text geschickt, der uns unsere persönliche Vergangenheit und Fähigkeiten mitteilte. Ich war ein Goldeneyes, der sich durch geschicktes Manövrieren in die Sicherheitsbehörden eingeschleust hatte. Das würde interessant werden.
„Alle fertig?", fragte Luis. Als wir nickten, drückte er auf Start.
Ich sah auf meinen Airscreen. Ich war direkt neben Chaeng gelandet, in einem Büro. Auf dem Fernseher war ein weiter Platz mit einer Säule abgebildet. Einen Moment lang beobachtete ich die vorbeiziehenden Menschen. Kurz meinte ich, die knallroten Haare von Luis' Avatar aufblitzen zu sehen. Doch in derselben Sekunde wechselte das Bild auf den Eingang eines Polizeigebäudes. Vermutlich das Gebäude, in dem wir uns befanden.
„Was machen wir jetzt?", fragte Chaeng.
Ich zuckte mit den Schultern. „Rausgehen? Lass uns als erstes Luis suchen gehen, den habe ich eben glaube ich gesehen." Während ich das sagte, zwinkerte ich meiner Freundin kurz zu.
„Ihr wisst, dass ich euch hören kann?", merkte Luis an.
Chaeng grinste nur und ließ ihre Figur sich aus dem Fenster schwingen. Im selben Moment flog die Tür auf und da stand plötzlich Taes Charakter. Ich fuhr zusammen und versuchte, Chaeng nachzukommen. Ohne Erfolg. Entweder war mein Avatar unsportlich, oder ich war einfach inkompetent.
„Chaeng, ich brauche Hilfe!"
„Ich versuch's ja! Aber irgendwie geht das nicht." Sie drückte energisch auf ihrem Airscreen herum.
Ich sah zu ihr rüber. „Ich glaube, das liegt daran, dass dich gerade jemand anruft."
„Das ist mir... warte, was?" Überrascht starrte sie auf den Bildschirm.
„Kurze Pause, bitte", sagte ich und Luis fror das Spiel ein.
Dann hob Chaeng ab. „Hallo?"
„Chaeng?", kam es von der anderen Seite.
„Matilde! Du glaubst nicht, wie aufwendig es war, dich zu erreichen. Wo warst du die ganze Zeit?"
„Ich, äh..."
„Du überforderst sie total", sagte Tae. „Lass sie doch erstmal durchatmen."
„Leute, alles mit der Ruhe", sagte Luis. „Matilde, geht es dir gut?"
„Ja, ich... ich komme klar." Sie klang immer noch sichtlich überwältigt. „Wer war das eben? Chaeng ist da, Luis, Nel laut Ali auch, und wer noch?"
„Taehyun. Chaengs Cousin", erklärte ich. „Chaeng hat ihn ohne Vorwarnung mitgebracht. Erinnere mich daran, dir demnächst mal ein Bild von unseren Bettaufbauversuchen zu schicken."
„Sag mal, warum rufst du eigentlich bei Chaeng an und nicht bei Nel?", fragte Luis.
„Mein alter Airscreen ist laut Florence zu unsicher. Daher ein neuer. Und nach Alis Nachricht war die einzige Nummer, die ich im Internet finden konnte, Chaengs."
„Warte, meine Nummer ist im Internet?" Chaeng schaute entsetzt drein. „Wie konnte das passieren?"
Es raschelte kurz bei Matilde. „Nicht direkt im Internet. Über ein paar Umwege."
„Und diese Umwege wären?"
„Ich habe deine Mutter angeschrieben."
Chaeng war sichtlich beruhigt. „Das ist akzeptabel. Was musstest du ihr versprechen?"
„Versprechen?", fragte Luis.
„Meine Mutter macht nichts ohne Gegenleistung. Vor allem nicht, wenn es auch noch um ihren Job geht. Moment, ihr Job." Man sah, wie es in ihrem Kopf ratterte. „Du hast ihr kein Interview versprochen, oder?"
„Nur ein kurzes", sagte Matilde schnell. „Und ich habe auch keine feste Zeit genannt."
„Und dafür hat sie meine Nummer weggegeben... Wahrscheinlich würde sie auch eine meiner Nieren verkaufen, wenn es ihr einen Vorteil bringen würde."
„Wie war eigentlich diese Veranstaltung?", erkundigte sich Luis, der das Gejammer seiner Freundin komplett ausblendete.
„Ich weiß nicht, ob ich euch das...", fing Matilde an, wurde aber direkt von Chaeng unterbrochen.
„Das bleibt alles unter uns. Versprochen. Du siehst, wie meine Mutter drauf ist, es würde mich sehr freuen, etwas zu wissen, was sie nicht weiß. Das würde ich ihr dir zuliebe auch nicht direkt auf die Nase binden."
„Deine Argumentationskünste lassen echt zu wünschen übrig", sagte ich. Dann wandte ich mich an Matilde. „Sie hat aber recht. Alles, was hier besprochen wird, bleibt auch unter uns. Oder?"
Prüfend sah ich zu Tae und Luis. Beide nickten. Matilde seufzte.
„Ich kann wirklich nicht viel sagen. Aber es war faszinierend. So viele Leute, die sich für Physik interessieren, habe ich selten auf einem Haufen gesehen. Es gab unglaublich viele Fragen und Diskussionen."
„Das war's schon an Informationen?" Chaeng klang enttäuscht.
„Nein, natürlich nicht. Aber das meiste wisst ihr doch ohnehin schon. Zum Beispiel, wer alles da war. Und dank der Nachrichten kennt ihr ja quasi auch schon den Inhalt." Sie wurde von einem Gähnen unterbrochen. „Viel mehr als das, was öffentlich bekannt ist, wurde nicht besprochen."
„Weißt du schon, wann du zurückkommen wirst?", warf Luis ein.
„Vermutlich nicht so bald. Das Ganze hat eine ziemliche Bombe platzen lassen, würde ich sagen."
Täuschte ich mich oder war da tatsächlich ein leicht nervöser Unterton in ihrer Stimme?
„Stimmt auch wieder", sagte Luis.
„Ich sage es ja. Es ist alles ein bisschen überwältigend."
Das war eine nette Beschreibung für etwas mit solchen Ausmaßen. „Können wir denn irgendwas für dich tun?", fragte ich. „Wir könnten auch vorbeikommen." Zumindest in der Theorie. Wenn ich mein Problem mit Linti gelöst bekam.
Einen Moment herrschte Stille. Dann sagte Matilde: „Mir geht's super, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wenn diese erste stressige Phase vorbei ist, kann ich sicher auch mal mehr Zeit rausschlagen, um zu telefonieren. Florence meinte, nach spätestens zwei Wochen würde das Interesse abflauen." Sie gähnte erneut. „Stört es euch, wenn ich jetzt noch ein bisschen schlafe? Die letzte Nacht war schrecklich."
„Überhaupt nicht, geh ruhig schlafen", sagte ich. „Du rufst einfach zurück, wenn du Lust hast, in Ordnung? Chaeng kann dir auch Luis' und meine Nummer rüberschicken."
„Das wäre super, danke! Dann bis irgendwann demnächst."
Bevor jemand von uns noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie auch schon aufgelegt. Ein wenig erstaunt sah ich auf den Airscreen, der nun wieder zu seinem ursprünglichen Bild zurückgekehrt war. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht ganz stimmte. Es musste nichts Großes sein, nichts besonders Bedeutsames, aber etwas wirkte nicht ganz schlüssig.
Chaeng ließ den Airscreen sinken. „Immerhin haben wir sie erreicht. Hat wer Lust, eine Runde nach draußen zu gehen?"
Wenn ich ehrlich war, ging es mir genau wie ihr. Auf das Spiel hatte ich keine Lust mehr, ich brauchte etwas Entspannendes. Aber Ruhe fand ich mittlerweile eher wo anders.
„Ich bleibe hier, aber Luis sieht so aus, als könnte er ein bisschen Bewegung gut gebrauchen", sagte ich.
Chaeng hob eine Augenbraue. „Bewegung könntest du auch gebrauchen."
„Für gewöhnlich mache ich mehr Sport als du", verteidigte ich mich, meine Mundwinkel zuckten jedoch nach oben.
Sie rollte die Augen, grinste aber ebenfalls. „Gut, dann halt nicht. Also, wer kommt sonst mit?"
Kaum überraschend erklärte sich Luis bereit. So kam es, dass Tae und ich blieben. Zuerst machte ich einen Abstecher in mein Zimmer, um das Tagebuch auszupacken. Tae hinter mir bedachte es mit einem neugierigen Blick.
„Rachel scheint wirklich ein interessantes Leben gehabt zu haben."
Ich nickte, in Gedanken schon an einem stillen Ort allein mit ihrer Stimme. Und außerdem gingen die Details ihn nichts an. Auch wenn ich wusste, dass er darauf hoffte.
„Sie war auch ziemlich mächtig, für eine Halb-Avirei", fügte er hinzu.
Ich drehte mich um. „Woher weißt du das?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe mit halbem Ohr zugehört, während du es hier abgespielt hast. Habt ihr zufällig so etwas wie einen Liegestuhl irgendwo herumfliegen?"
„Wenn, dann im Keller." Ich pausierte kurz. „Wie meinst du, ziemlich mächtig?"
„Sie schafft es, mehrere Merkmale ihres Aussehens von jetzt auf gleich zu verändern. Davon habe ich bisher noch nie gehört."
So langsam fürchtete ich, ich musste doch mehr Details auspacken. Dafür schien Tae viel zu viel Insider-Wissen zu haben, das womöglich nützlich werden konnte.
„Das heißt, du hast Kontakt zu anderen Halb-Avirei?"
Er zuckte mit den Schultern. „Sicher."
Meine Finger schlossen sich fester um den CD-Spieler. Einen Moment lang zögerte ich. Doch dafür gab es rational betrachtet keinen Grund. Chaeng hatte ihn bereits eingeweiht. Er wusste über alles Bescheid. Warum sollte ich das nicht ausnutzen?
„Lass uns runtergehen, da ist es gemütlicher", sagte ich.
In diesem Moment schallte ein lauter Ton durch das Haus. Die Klingel. Ich stöhnte auf. Gerade, wenn der Zeitpunkt am Ungünstigsten war.
Ich schnappte mir das Tagebuch, stellte es im Wohnzimmer ab und öffnete die Tür. Vor ihr stand niemand anderes als Daria.
Bevor ich irgendeine Möglichkeit hatte, zu reagieren, erklärte sie: „Wir müssen reden."
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