X | Immortalité

„‚Wasted Silence'. Ich glaube, das hat mir Jean mal vor ein paar Monaten ausgeliehen."

Ich nahm das Buch aus dem Regal und betrachtete das Cover. Es zeigte einen Ozean mit schmutzigem, graublauem Wasser. Wellen überspülten in regelmäßigen Abständen einen felsigen Strand, auf dem Müll wie ausgelaufene Ölfässer oder Plastiktüten verstreut war. Im Himmel zogen langsam dunkle Wolken vorbei.

„Hat das nicht letztes Jahr irgend so einen Preis gewonnen?", fragte Chaeng.

„Den Adamsfield-Literaturpreis", sagte ich.

„Kann sein, dass ich mit Tae auf der Preisverleihung war. Worum geht es denn?"

Ich hob die Augenbrauen. „Du warst auf der Preisverleihung und du weißt nicht, wovon dieses Buch überhaupt handelt?"

„Das Interessante daran war nicht das Buch, sondern die Leute, die da waren. Und außerdem war ich ohnehin nur als Taes Begleitung dabei", stellte sie klar. „Aber natürlich habe ich mich vorher ein wenig informiert. Ganz ohne Wissen sollte man bei so welchen Veranstaltungen besser nicht aufkreuzen."

Bei der Vorstellung, wie Chaeng kurz vorher die Wikipedia-Artikel der nominierten Bücher überflog, musste ich kichern. „Gut, dir zuliebe werde ich mir den Klappentext mal anschauen."

„Warte. Du hast es auch nicht gelesen?"

„Wie du siehst."

Ich drehte das Buch und überflog den Klappentext. Eigentlich klang es ganz interessant, auch wenn es nicht gerade die Art von Buch war, die ich gerne las.

„Wie es aussieht, ist es ein historischer Roman über die Plastikkrise. Zwei Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten werden in einen Müllskandal verwickelt, nachdem der CEO eines großen Transportunternehmens ermordet wurde", fasste ich zusammen.

„Oh, dieses Buch. Ich kann absolut nachvollziehen, warum du die Motivation noch nicht aufgebracht hast, es zu lesen."

„Vor allem, weil es auch noch um die sechshundert Seiten hat."

Ich stellte das Buch wieder zurück ins Regal und lief weiter. Eventuell sollte ich mal in eine spezifischere Abteilung als die der aktuellen Bestseller gehen.

Während ich nach einem Wegweiser suchte, fragte ich: „Musst du nicht irgendwann wieder zurück in deine Galerie?"

„Die werden es auch eine Viertelstunde lang ohne mich überleben. Außerdem hat Tyrissa Budan vielleicht mehr Interesse an meiner Gesellschaft, wenn ich mich ein bisschen rarmache."

Das war also ihr Plan. „Und es gibt keine anderen ähnlich interessanten Personen bei dieser Galerieeröffnung?"

Eine Säule kam in Sicht, auf der verzeichnet war, welche Abteilungen man auf welchem Stockwerk finden konnte. Zeitgenössische Literatur befand sich im ersten Stock. Ich fuhr die Rolltreppe neben der Säule hoch.

Chaeng stöhnte. „Absolut nicht. Es gibt hier genau drei Arten von Leuten: Erstens, die, die nur wegen Budan da sind. Zweitens, schleimige Sponsoren. Und drittens die Leute, die tatsächliches Interesse an der Kunst haben, aber sich leider über nichts anderes unterhalten können. Und dafür bin ich vier Stunden nach Moskau gefahren."

„Vielleicht solltest du es mal mit der ersten Kategorie versuchen. Zu der gehörst du ja immerhin auch."

Ich war endlich oben angekommen und schaute durch die Regale. Obwohl ich durch Laurie und Jean viel über Bücher mitbekam, kannte ich die meisten nicht einmal vom Hören oder Sehen. Die Stadtbibliothek war einfach zu groß, dass man auch nur einen winzigen Bruchteil der Bücher gelesen haben konnte.

„Was glaubst du, was ich schon seit Stunden gemacht habe? Aber leider sind die meisten Leute todlangweilig", beklagte sich Chaeng. „Der einzige, mit dem ich bisher ein anständiges Gespräch führen konnte, war der Reporter von der Heaven. Ich glaube, das ist wirklich eins der langweiligsten Events, auf denen ich je war."

Wenn man bedachte, dass sie sich schon seit Wochen darauf gefreut hatte, war das tatsächlich enttäuschend. Wie ich sie kannte, würde sie aber trotzdem erst in ein paar Stunden gehen. Der Höflichkeit halber.

Eine Nachricht ploppte auf meinem Airscreen auf. Matilde. Sie fragte, wann wir uns treffen wollten, da sie ihr Buch gefunden hatte.

„Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt auflege? Matilde hat gerade geschrieben", sagte ich.

„Klar. Ich werde nur in der Zwischenzeit an Langeweile sterben." Chaeng seufzte theatralisch. „Ruf an, wenn du mal wieder von diesen Abgesandten verfolgt wirst, okay?"

„Mache ich?", sagte ich etwas überrumpelt. Dann legte sie auf.

Kopfschüttelnd sah ich zu, wie das Anrufssymbol verschwand. Ich schrieb Matilde kurz zurück und machte mich auf den Weg zum Haupteingang.

Als ich dort ankam, war sie noch nicht da. Ich sah mich um. Um halb acht war nicht mehr viel los, und ich entdeckte Matilde an einem der Buchausgabeschalter. Sie schien mich nicht zu bemerken, daher beschloss ich, einfach zu ihr zu gehen.

Nachdem ich ungefähr die halbe Halle durchquert hatte, schnappte sie sich jedoch schon ihre Bibliothekskarte und das Buch vom Tresen und kam mir entgegen. Ihre schnellen, energischen Schritte verhießen nichts Gutes.

„Was ist passiert?", fragte ich sie und passte mein Tempo an ihres an. „Hast du nicht das richtige Buch bekommen?"

Anstelle einer Antwort hielt sie das Buch, eine blau gehaltene Ausgabe der „Erörterung der theoretischen Energiequellen", mit einer Hand die Höhe. Währenddessen versuchte sie mit der anderen, ihre Bibliothekskarte in ihrer Tasche zu stecken. Es endete darin, dass sie sie einfach hineinschmiss und das Buch dann ebenfalls verstaute.

„Zum Glück. Aber hast du diese aufgeblasene Tussi am Schalter gesehen? Wenn ich männlich und gutaussehend wäre und eine andere Augenfarbe hätte, hätte die sicher nicht so einen Aufstand wegen der Karte gemacht."

Wir traten auf den Vorplatz der Bibliothek hinaus. Die Sonne stand tief am Himmel und die Gebäude warfen lange Schatten. Hier waren um einiges mehr Menschen unterwegs, viele kamen gerade von der Arbeit.

„Bei dem Typen vor mir war sie jedenfalls noch zuckersüß. Und das, obwohl er nicht mal eine Karte hatte! Ich dachte schon, sie fragt den noch nach seiner Nummer", regte Matilde sich weiter auf.

„Was ist überhaupt mit deiner Karte gewesen?"

„Ich habe vollkommen vergessen, die App zu aktualisieren und irgendwie hat das dann nicht funktioniert. Und deshalb musste ich die eigentliche Karte rausholen. Anstatt so unhöflich zu sein und sich nicht einmal zu verabschieden, hätte diese unerträgliche Trulla sich eher freuen sollen, dass ich die Karte überhaupt dabeihatte!"

Wir hatten mittlerweile den Rand des Platzes erreicht, wo ein Moby auf uns wartete. Matilde musste ihre Schimpftirade kurz unterbrechen, um einzusteigen. Aber noch bevor sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, fing sie wieder an.

„Wenn ich statt diesen dämlichen türkisfarbenen Augen ein Supergehirn geerbt hätte, wäre der sicher nicht mal aufgefallen, dass ich überhaupt modifizierte Gene habe. Und dann hätte ich sie auch so beleidigen können, dass sie es nicht mal gemerkt hätte.

Ich verstehe ohnehin nicht, warum es so ein großes Problem ist, dass manche Leute noch manipulierte Gene haben. Wir hatten früher nun mal bessere Technologien. Klar, dass das Spuren hinterlässt! Und es ist ja nicht so, als könnten wir die Modifikationen wieder rückgängig machen. Und selbst wenn dieses mitleidserregende Etwas sich dadurch benachteiligt fühlt, sollte sie froh sein, dass nur meine Augenfarbe künstlich ist und nicht mein Gehirn!"

„Sollte sie wohl wirklich", stimmte ich ihr zu. „Wobei das Supergehirn bei deinem Buchgeschmack gar nicht so weit entfernt ist."

Matilde schnaubte, doch es klang schon weniger aufgebracht als zuvor. „Ich wette, die weiß nicht mal, dass der Inhalt dieses Buchs nicht mal halb so anspruchsvoll ist wie das, was ich sonst lese."

„Vermutlich nicht. Sag mal, was musst du eigentlich gleich noch erledigen?", fragte ich.

Sofort hellte sich ihre Miene auf. „Um neun läuft eine Talkshow mit Florence Southcliffe. Und ansonsten wollte ich anfangen, das Buch zu lesen. Was ich auch noch dringend machen muss, ist, nach weiteren Büchern zu suchen. Je mehr ich finde, desto besser."

„Florence Southcliffe war nochmal...?"

Der Name kam mir bekannt vor. Allerdings kam ich gerade beim besten Willen nicht darauf, woher. Wenn sie bei einer Talkshow eingeladen war, musste sie jedenfalls wichtig sein.

„Die Präsidentin der Arthur-Versus-Gesellschaft. Diejenige, die das Unternehmen quasi von Grund auf wieder aufgebaut und in eine Forschungsgesellschaft umgewandelt hat", half mir Matilde auf die Sprünge.

„Hat sie nicht auch die alten Aufzeichnungen über die Goldeneyes restaurieren lassen?"

Meine Erinnerungen kehrten langsam zurück. In Geschichte hatten wir einmal kurz über ihre Rolle in der Darstellung der Goldeneyes-Katastrophe gesprochen. Die ursprünglichen Aufzeichnungen waren von einem der Goldeneyes vor zweihundert Jahren stark beschädigt worden und damals nur halbherzig versucht worden zu restaurieren. Das alte Archiv des damaligen Unternehmenssitzes hatte erst wieder mit Southcliffe an der Spitze des Unternehmens mehr Aufmerksamkeit bekommen. Heute konnte man die wiederhergestellten Aufzeichnungen im Museum für Wissenschaftshistorik in Seoul anschauen.

„Genau", sagte Matilde. „Aber das ist eigentlich nicht das Wichtigste. Sie hat auch ein Förderprojekt für Schüler und Studenten für Physik mit dem Schwerpunkt Astrophysik ins Leben gerufen. Wenn alles so klappt wie geplant, werde ich demnächst eine Bewerbung dafür schreiben."

„Hast du denn schonmal mit deiner Physiklehrerin darüber gesprochen?", hakte ich neugierig nach.

„Dreimal. Das letzte Mal war erst gestern. Aber sie meinte, ich solle mich besser auf meine sonstigen schulischen Leistungen konzentrieren. Als ob ich nicht hundert Prozent in der Physikprüfung bekommen hätte. Und Ökologie war auch nicht schlecht, neunundsiebzig Prozent."

Wenn man ihre Leistungen mit meinen verglich, war der Ratschlag ihrer Lehrerin unnötig. In Ökologie war ich zwar ähnlich gut gewesen, aber an Matildes hundert Prozent in Physik kam ich mit meinen fünfundachtzig bei Weitem nicht dran. Aber das tat wohl niemand.

„Was ist mit Lauries Lehrer? Ich glaube, er ist etwas offener."

„Mit dem habe ich auch schon längst geredet. Er meinte zwar, meine Neugier und mein Interesse an Physik wäre etwas sehr Bewundernswertes, aber Unterstützung angeboten hat er auch nicht. Die Einzige, die mir bisher geholfen hat, ist Evyen. Und diese Hilfe bestand auch nur aus ihrer Doktorarbeit und ein paar Erklärungen."

Eigentlich war es klar gewesen, dass von den Lehrern keine Unterstützung zu erwarten war. Die Menschheit lernte immerhin auf kurze Zeit aus ihren Fehlern. Und der Fehler in unserem Fall bestand aus den Fünf Katastrophen, in denen vor allem großer wissenschaftlicher und technischer Fortschritt zum Verhängnis geworden waren. Trotzdem – Matilde war erst siebzehn, sie würde sicher nicht auf die Idee kommen, Menschen im Weltall anzusiedeln oder eine mordlustige KI zu erfinden.

„Vielleicht solltest du dich einfach ohne irgendwelche Hilfe von außen bei diesem Projekt bewerben", sagte ich.

„Hatte ich auch vor. Ansonsten kann ich noch dreißig Jahre warten, bis sich da irgendetwas tut."

Ich machte ein zustimmendes Geräusch und ließ meinen Blick zum Fenster schweifen. Anstatt in die westlichen Viertel, wo ich wohnte, fuhren wir nun in den Osten. Zuerst sah es hier ähnlich aus: Die hohen, alten Häuser der Innenstadt wurden langsam ersetzt durch relativ ähnlich aussehende Wohnviertel. Doch je näher man dem Meer kam, desto bunter und vielfältiger wurden die Häuser und Gebäude.

Schließlich bogen wir in die Straße hinter der Strandpromenade ein. Die Villen hier standen in größeren Abständen voneinander entfernt und hatten aufwändig gestaltete Vorgärten. Die meisten hatten eine eigene Auffahrt, obwohl die wenigsten ein eigenes Moby besaßen, für das sie benötigt wurde. Manche hatten auch eine kleinere Mauer als Grundstücksabgrenzung gebaut. Natürlich nur so hoch, dass man noch gut darüber schauen und das Haus und den Vorgarten bewundern konnte.

Das Moby blieb vor einem vergleichsweise kleinen hellblauen Haus stehen. Hinter ihm ragten hohe Bäume auf, und die Pflanzen vor dem Haus waren nicht so penibel in Form geschnitten wie bei den meisten anderen Gärten. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, hatte ich mit Matilde und Laurie für die Matheprüfungen gelernt.

Matilde und ich stiegen aus und gingen den steinernen Weg zur Eingangstür hinauf. Während sie den Schlüssel aus ihrer Tasche kramte, warf ich noch einen Blick zurück. Die Straße war vollkommen leer, selbst unser Moby war wieder verschwunden.

Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf einen breiten, mit groben, großen Steinen gefliesten Flur. In der linken Ecke führte eine schmale, metallene Wendeltreppe ins nächste Stockwerk, und links führte eine Tür zu einem kleinen Badezimmer. Geradeaus öffnete sich der Flur in einen größeren Raum, in dem sich sowohl Küche als auch Esszimmer und Wohnzimmer vereint befanden. Dieser Raum lag jedoch etwas tiefer als der Flur, sodass man drei Stufen hinuntergehen musste, um ihn zu betreten.

Ich stellte meine Schwimmtasche neben die Bank rechts neben der Wendeltreppe und stellte meine Schuhe davor ab. Matilde schmiss ihre Sachen einfach in die Ecke vor den Schuhschrank.

„Meine Eltern sind die ganze Woche in Dubai, wir haben das ganze Haus für uns alleine", sagte sie und ging in die Küche. „Möchtest du irgendetwas zu trinken?"

„Gerne. Habt ihr Tee hier?"

Ich folgte ihr und sah mich in dem Raum um. Dafür, dass Matildes Eltern wohl schon länger als einen Tag weg waren, sah es noch ganz ordentlich aus. Mal abgesehen von den Sofakissen, die über den Teppich verstreut lagen, dem ein oder anderen herumstehenden Glas und den Blättern und Büchern, die sowohl über den Esstisch als auch dem Wohnzimmertisch verteilt waren.

„Das sind alle Sorten, die wir haben." Matilde öffnete eine Schublade, in der feinsäuberlich die Teedosen einsortiert waren. Sie selber goss sich Wasser in ein Glas ein, das so aussah, als würde ein Liter hineinpassen.

Ich betrachtete die verschiedenen Sorten kurz, bis ich mich letztendlich für Rooibos-Tee entschied. Während ich wartete, dass das Wasser aufkochte, holte ich mir eine Tasse. Dann sah ich zu Matilde, die es sich gerade auf dem Sofa mit ihrem Buch gemütlich machte.

„Der Healthpoint ist übrigens oben im großen Bad", sagte sie und deutete zur Wendeltreppe. „Und ich räume dir dann gleich noch ein bisschen Platz am Esstisch frei."

„Danke."

Ich goss das Wasser in die Tasse und sah auf die Uhr. Um kurz vor acht würde der Tee fertig sein. Bis dahin konnte ich ja nachschauen, was ich alles noch an Hausaufgaben zu erledigen hatte.

Ich scrollte durch meinen Kalender auf dem Airscreen. Geschichte, Chemie, Biologie, Chinesisch, Englisch, Latein. Scheinbar meinten die Lehrer, die Zeit, die wir den letzten Monat fürs Lernen gebraucht hatten, mit Hausaufgaben füllen zu müssen.

Als ich fertig war, die Aufgaben nach Wichtigkeit und Menge zu sortieren, waren auch die fünf Minuten Ziehzeit meines Tees vorbei. Ich steckte den Airscreen wieder weg und probierte einen kleinen Schluck. Sofort verbrannte ich mir die Zunge. Ich verzog das Gesicht.

Nachdem ich mich versichert hatte, dass es Matilde nicht störte, wenn ich nun zum Healthpoint gehen würde, schnappte ich mir die Tasse und ging nach oben. Die Treppe mit einer fast randvollen Tasse heißen Tees hochzugehen, gestaltete sich als äußerst gefährlich. Als ich im Bad angekommen war, hatte ich mich schon zweimal fast verbrüht. Ich war froh, die Tasse endlich abstellen zu können.

Dann wandte ich mich dem kleinen Display neben dem Lichtschalter zu, das durch meine Berührung zum Leben erwachte. Anders als bei dem zu Hause baute sich der Healthpoint jedoch noch nicht direkt auf, wenn man auf das grüne Kreuz tippte. Stattdessen konnte man auswählen, was man machen wollte.

Ich drückte auf DNA-Scan. Statt den üblichen dünnen Stäben fuhr nun ein kleines Gerät aus der Wand. Das Display wies mich an, einen Finger für drei Sekunden in eine Mulde auf dem Gerät zu legen. Danach erschien das Ladesymbol.

Ungefähr eine halbe Minute und zwei Schlucke Tee später erschienen die Worte Scan beendet auf dem Bildschirm. Ich tippte auf die Meldung und gelangte in eine Art Übersicht. Dort teilte mir der Healthpoint unter anderem mit, dass ich 1,68 Meter groß war, aschblonde Haare und keine genetisch bedingten Krankheiten hatte.

Ungeduldig scrollte zum Punkt Defendergenes. Doch was dort in roten Buchstaben stand, war bei weitem nicht das, was ich erwartet hätte. Laut dem Scan hatte ich weder Platinum-Genes noch irgendein anderes Modell. Sondern gar keine.

Obwohl ich wusste, dass der DNA-Scanner der neueren Healthpoints sehr, sehr zuverlässig funktionierte, startete ich den Scan neu. Doch es brachte nichts. Die Ergebnisse blieben dieselben.

Ich ließ mich auf den Badewannenrand sinken, immer noch auf die rote Schrift starrend. Das konnte nicht sein. Ohne Defendergenes hätten die Schnitte niemals so schnell verheilen können. Irgendeine Art musste ich haben. Aber wie konnte ich das herausfinden?

Ich rief mir alles ins Gedächtnis, was wir bisher über Healthpoints, DNA-Scanner und Genetik gelernt hatten. Es war nicht viel. Und nur sehr wenig davon war etwas, das ich jetzt brauchte.

Das bedeutete, ich musste im Internet suchen. Und wenn ich da nichts fand, konnte ich immer noch Chaeng fragen. Soweit wusste, stand Genmanipulation nämlich gegen Anfang erstes Jahr an der Hochschule auf dem Lehrplan. Sie sollte daher einiges mehr darüber wissen als ich.

Aber zuerst war Google an der Reihe. Die erste Website verwies auf eine Anleitungsdatei, die über 200 Seiten lang war, und die zweite klärte mich immerhin darüber auf, dass man bei genauerem Interesse an den Scan-Ergebnissen in andere Menüs wechseln konnte. In welche genau, erwähnte sie aber auch nicht. Die dritte Website stellte sich als wesentlich informativer heraus. Sie beinhaltete eine Beschreibung, wie man in das Menü mit der noch nicht analysierten DNA kam.

Die aufgeführten Schritte führten mich tatsächlich in das richtige Menü. Doch bevor ich mich darüber freuen konnte, kam das nächste Problem auf: Ich hatte keine Ahnung, wo in der DNA ich überhaupt suchen musste. Und nach was ich überhaupt suchte.

Es dauerte mehrere Minuten, bis ich endlich eine Seite fand, die mir genau erklärte, wie ich ohne Analyse des Healthpoints an die in den Genen gespeicherten Informationen kam. Zuerst sollte ich in ein anderes Menü wechseln, das ebenfalls die reine DNA zeigte. Mit dem Unterschied, dass hier angezeigt wurde, in welchen Sequenzen welche Informationen wie zu finden waren.

Ab diesem Punkt brauchte ich nicht lange, um den Ort zu finden, an dem das Modell der Defendergenes abgelesen werden konnte. Dort befanden sich nicht die Gene an sich, sondern nur der Marker, ein Gen, das zur Identifizierung eingebaut worden war.

Plötzlich wieder motiviert, dass ich so weit gekommen war, suchte ich mir eine Liste der Marker von allen möglichen Defendergenes. Dann fing ich an, eins nach dem anderen abzugleichen.

Nach einer halben Stunde war meine Euphorie längst verpufft. Ich war schneller, als ich gedacht hatte. Doch trotzdem hatte ich nicht einmal ein Achtel der Liste durchgearbeitet. Und ein Ergebnis hatte ich auch noch nicht.

Eine weitere Viertelstunde später hatte ich kein Fünkchen Motivation mehr. Ich hatte angefangen, nicht mehr strategisch die Liste durchzugehen und einfach ziellos herumzuspringen. Was jedoch auch nichts änderte.

Es dauerte nur fünf Minuten, bis ich endgültig die Geduld verlor. Wie sollte man sich in diesem Monstrum einer Liste zurechtfinden? Gab es überhaupt jemanden, der das konnte?

Ich schloss frustriert die Seite. Es musste doch einen einfacheren Weg geben. Oder zumindest etwas, mit dem Normalsterbliche zurechtkommen konnten. Probehalber gab ich Defendergenes Analyse in die Suchzeile ein.

Schon die erste Website beinhaltete einen Online-Genanalyse für Defendergenes. Warum war ich da nicht schon früher draufgekommen? Ich scannte die Daten auf dem Display des Healthpoints und jagte sie durch die Software.

Das Ergebnis kam wenige Sekunden später: Immortalité, siebte Generation. Meine Finger schlossen sich fester um den Airscreen, aus Angst, ich würde ihn fallen lassen.

Diese Gene stammten aus den Zeiten vor der Technischen Katastrophe. Als umfassende Genmanipulation noch der Standard gewesen war. Und schon seit hunderten von Jahren hatten wir nicht mehr die Mittel, sie zu verwenden.

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