VI | Edinburghs Gassen

Die Schule war vor wenigen Minuten zu Ende gegangen und ich stand mit David am Straßenrand. Weder sein noch mein Moby waren schon angekommen.

„Soll ich dich in einer Stunde abholen? Oder brauchst du noch mehr Zeit?", fragte David.

Ich schreckte auf. „Wie bitte?"

„Die Abschlussparty. Ich wollte nur wissen, ob ich dich in einer Stunde abholen kann."

„Ja, das passt. Obwohl..."

Ich runzelte die Stirn. Hatte die Frau am Telefon heute Morgen nicht gesagt, ich solle um zehn vor sieben vorbeikommen? Ich warf einen kurzen Blick auf den Kalender meines Airscreens. Tatsächlich, da stand es. 18:50 Uhr Wilsow Elektronik. Leider war das die Art Termin, die nicht nur fünf Minuten dauerte.

„Fahr du ruhig schonmal ohne mich vor, ich komme etwa gegen acht oder halb neun Uhr nach. Mein Fernseher hat gestern den Geist aufgegeben, und heute war leider der einzige Termin, den ich in den nächsten Wochen bekommen konnte."

„Hast du eigentlich irgendwann zwischen Schule und Schwimmen auch mal Freizeit?", fragte David scherzhaft.

Ich musste grinsen. „Wie es aussieht nicht. Aber wenn der Wettkampf nächste Woche vorbei ist, habe ich wieder mehr Zeit für dich, versprochen."

Von der Seite sah ich mein Moby heranfahren. Ich drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen. „Bis später dann!", sagte ich.

Ich stieg ein und die Türen schlossen sich hinter mir. Dann nahm das Moby an Geschwindigkeit an und Sekunden später war er aus meiner Sichtweite verschwunden.

Die Ruhe, die plötzlich einkehrte, tat gut. Den ganzen Tag lang hatte ich mich nicht konzentrieren können, weder auf den Schulstoff noch auf das, was meine Freunde erzählten. Meine Gedanken waren auf die Panikattacke von letzter Nacht fokussiert gewesen und auf die leichte Anspannung, die zwischen Matilde, Luis, Laurie und Jean herrschte. Zum Glück war letztere nicht so groß, dass man sie bemerkte, wenn man nicht wusste, wonach man Ausschau halten musste. Bisher schienen Laurie und Jean auch noch keinen Unterschied zu vorher bemerkt zu haben. Entweder das, oder sie verbargen es einfach gut. Was ich ihnen durchaus zutrauen würde.

So oder so, es hatte keinen Zweck, sich darüber nun Sorgen zu machen. Herauszufinden, über was die beiden in Luis' Video geredet hatten, war um einiges wichtiger. Vor allem, da ich auch vermutete, dass dieses Gespräch der Auslöser des Rückfalls gewesen war.

Ich sah aus dem Fenster, während ich tiefer in den Sitz rutschte. Am liebsten hätte ich Luis' Video einfach vergessen. Es war schließlich nicht nur so, dass ich keine Ahnung hatte, was ich mit dem Gespräch anfangen sollte, sondern auch, dass ich mich immer noch ein wenig hintergangen fühlte. Was, wenn ich mit meinem Gefühl gestern Abend richtig gelegen hatte? Wenn ihnen wirklich nichts weiter an mir lag? Alleine darüber nachzudenken fühlte sich unwirklich an.

Ich wusste nicht, was ich nun machen sollte. Erstmal wäre es vermutlich am besten, nochmal mit Matilde und Luis zu reden. Aber was dann? Sollten wir sie einfach mit unserem Wissen konfrontieren und Antworten verlangen? Oder sollten wir versuchen, hinter ihrem Rücken mehr herauszufinden? Oder eine andere Person einschalten?

Als ich wenige Minuten später zu Hause ankam, hatte ich immer noch keine Lösung gefunden, außer, bis zu Matilde, Luis' und meinem Treffen abzuwarten. Vielleicht wäre es gut, wenn ich es wenigstens für ein paar Stunden einmal ruhen lassen würde. Es brachte schließlich nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, wenn man wahrscheinlich ohnehin auf keine Lösung kommen würde.

***

Ich blieb nicht lange im Haus. Das Einzige, das ich machte, war, meine Tasche abzustellen, eine kleinere zu suchen und schließlich einen Apfel mitzunehmen. Danach saß ich wieder im Moby, auf dem Weg in die Edinburgher Innenstadt.

Die Fahrt dauerte dank Feierabendverkehr um die zwanzig Minuten. Ich war heilfroh, dass ich genügend Zeit eingeplant hatte. Jetzt war es zwar erst halb sieben, aber ich brauchte sicher noch zehn Minuten für den Weg. Wilsow Elektronik befand sich nämlich mitten im Zentrum der Fußgängerzone.

Ich bestellte mir kurz ein Moby für halb acht und stieg aus. Die Innenstadt unterschied sich deutlich von den meisten Wohnvierteln der Stadt. Während letztere eigentlich nur aus ähnlich aussehenden Häusern und ab und an mal einem Laden bestanden, reihten sich hier hohe, präkalyptische Reihenhäuser mit bräunlichen Steinfassaden aneinander. Soweit ich wusste, stammten viele davon tatsächlich noch aus der Zeit vor den Fünf Katastrophen, aber einige waren auch Nachbildungen, die in postkalypischer Zeit entstanden waren.

Zwischen den Häusern schlängelte sich eine gepflasterte Straße hindurch. Die Straße, auf der ich mich gerade befand, war eine der größeren Einkaufsstraßen, und führte direkt zu den Castle Gardens. Von überall hörte man Gespräche und Menschen gingen in zahlreichen Geschäften ein und aus.

An einem pompösen Brunnen, der dort erst seit ein paar Jahren stand, bog ich in eine kleinere Gasse ein. Hier war es um einiges leerer als zuvor. Wer keine Abkürzung brauchte oder in einem der Häuser wohnte, kam für gewöhnlich nicht hier entlang. Genau genommen hatte ich gerade auch keine Abkürzung notwendig, doch ich mochte die schmalen, versteckteren Gässchen um einiges lieber als die überfüllten Einkaufsstraßen. Gerade zu der Zeit, in der viele Touristen in die Stadt kamen.

Der Weg zum Elektronikladen verlief unspektakulär, genau wie der Termin, den ich dort mit einer Verkäuferin hatte. Ich kam um einiges schneller als erwartet an die Reihe, und schon nach knappen zehn Minuten kamen wir auf eine gute Lösung. Und das, ohne dass ich direkt einen neuen Fernseher oder anderes Zubehör angedreht bekam.

Die Frau informierte mich noch darüber, dass sie mich anrufen würde, sobald ich den Fernseher wieder abholen konnte. Dann wandte sie sich an den nächsten Kunden.

Nachdem ich das Geschäft verlassen hatte, war ich unschlüssig, was ich nun mit dem Rest meiner Zeit anfangen sollte. Es war fünf nach sieben, das Moby würde erst in fünfundzwanzig Minuten kommen. Zusätzlich dazu hatte ich es diesmal an einen Ort bestellt, der näher am Elektronikladen lag als der, von dem ich gekommen war.

Schnell ging ich die Optionen durch. Ein neues Moby bestellen machte keinen Sinn, dank des Feierabendverkehrs würde es womöglich noch später als das ursprüngliche ankommen. Auf sinnloses Warten hatte ich allerdings auch keine Lust. Sollte ich mich in ein Café setzen und etwas trinken? Ich bezweifelte, dass die Zeit dafür reichte. Also blieb nur übrig, sich in ein paar Geschäften in der Nähe umzuschauen.

Der erste Laden, den ich betrat, war die Buchhandlung direkt gegenüber des Elektronikgeschäfts. Sie war klein und gemütlich eingerichtet. Als ich die Tür geöffnet hatte, hatte sogar ein kleines Glöckchen gebimmelt.

Neugierig sah ich mich um. Die Bücherregale gingen bis zur Decke, die obersten Fächer konnte man nur mit einer Leiter erreichen. Was die Bücher anging, waren die meisten in farbenfrohe Einbände gebunden, noch vollkommen ohne irgendwelche Effekte. Die meisten zeitgenössischen Buchcover hatten alle diverse Licht- und 3D-Effekte, die den Covern zusätzliche Tiefe verlieh.

„Kann ich Ihnen helfen?", fragte eine Stimme.

Ich drehte mich um. Eine kleine betagte Frau lächelte mich freundlich an. Die Ladenbesitzerin, vermutlich. Im Hintergrund erklang das Glöckchen.

„Danke, aber ich schaue mich nur etwas um."

„Wenn Sie zu irgendetwas Fragen haben, sagen Sie Bescheid", sagte die Frau, bevor sie sich in den Laden zurückzog.

Ich sah mir noch ein wenig die Bücher an und zog das ein oder andere hinaus. Sie alle waren mindestens 75 Jahre alt. Das machte Sinn, zu der Zeit hatte es die Effekte zwar schon gegeben, aber keiner hatte ihnen viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Nach ein paar Minuten hatte ich jedoch genug Bücher gesehen und beschloss, einen anderen Laden zu suchen. Ich quetschte mich an einem hageren Mann vorbei, vermutlich der Kunde, der nach mir gekommen war, und verließ mit einem Bimmeln der Glocke das Geschäft.

Beim Weggehen warf ich einen Blick auf den goldenen Schriftzug an der Tür. „Zheng Books & Paper". Wenn Jean diese Buchhandlung nicht schon kannte, würde er ihr sicher gerne mal einen Besuch abstatten.

Im nächsten Laden, einem noch kleineren Modegeschäft, blieb ich nur kurze Zeit. Die Kleidungsstücke, die man hier kaufen konnten, entsprachen alle nicht meinem Geschmack. Als ich zurück auf die Einkaufsstraße ging, fiel mir der Mann aus dem Buchgeschäft auf. Er war scheinbar gerade erst herausgekommen und ging die Straße in Richtung Ende der Fußgängerzone hinunter. Einen Moment später hatte ich ihn wieder aus den Augen verloren.

Wo ich nun hinwollte, wusste ich. Ein wenig weiter in die Fußgängerzone hinein befand sich ein größeres Musikgeschäft. Vielleicht fand ich dort ja ein paar neue Noten. Sowohl bei der Harfe und der Bratsche konnte ich die Stücke, die ich für den Unterricht üben musste, langsam nicht mehr hören. Und außerdem mochte ich es, mal ein wenig in den Regalen herumzustöbern anstatt sich einfach alles aus dem Internet herunterzuladen.

Da ich schon öfter in dem Geschäft gewesen war, fand ich die richtige Notenabteilung ohne Probleme. Ich blätterte ein wenig in den Notenheften herum, bis ich etwas gefunden hatte, das ich ganz interessant fand. Es war eine Sammlung aus Arrangements von zeitgenössischen K-Pop-Songs für Bratsche und Klavier. 

Ich sah kurz auf die Uhr. Ich hatte immer noch mehr als genug Zeit, mich weiter in dem Geschäft umzusehen. Um mein Gedächtnis bezüglich der verschiedenen Abteilungen aufzufrischen, suchte ich nach dem nächsten Plan. Doch bevor ich diesen gefunden hatte, sah ich ein bekanntes Gesicht zwischen den Kunden. Der hagere Mann aus dem Buchgeschäft stand an einem der Konzertflügel. War er nicht in die komplett andere Richtung gegangen?

Plötzlich schoss mir Evyens Warnung durch den Kopf. Unheimliche Begegnungen. Das hier zählte definitiv dazu.

Mit schnellen Schritten ging ich zur Kasse, bezahlte, und verließ das Geschäft. Nicht jedoch, ohne einen Blick zurück zu werfen. Täuschte ich mich, oder war der Mann nun auch auf dem Weg zum Eingang?

Als ich endlich draußen war, rannte ich beinahe. Ich tat mein Bestes, mich unter die Menschen zu mischen, und so weit wie möglich von dem Musikgeschäft wegzukommen. Sorgfältig achtete ich darauf, in die richtige Richtung zu gehen. Sich von dem Ort, an dem mich das Moby erwarten würde, noch weiter wegzubewegen, machte wenig Sinn.

Ich bog um zwei Ecken und sah ich noch einmal hinter mich. Kein hagerer Mann. Trotzdem beruhigte mich das kein bisschen. Ich hatte noch zehn Minuten, bis das Moby ankommen würde. Wenn er wusste, in welche Richtung ich unterwegs war, würde er mich finden.

Ohne nachzudenken, holte ich meinen Airscreen heraus und öffnete die Telefonapp. Aber dann stockte ich. Matilde hatte gerade ihre Musik-Nachhilfestunde bei Jean. Wenn der Mann wirklich einer dieser Abgesandten war, von denen Laurie und Jean geredet hatten, war der Zeitpunkt für einen Anruf gerade denkbar schlecht.

Der nächste auf meiner Liste war Luis. Doch der hatte gerade Fußballtraining und würde höchstwahrscheinlich nicht mal abnehmen.

Kurzerhand tippte ich auf Evyens Kontakt. Ich wartete, eine Sekunde, zwei Sekunden. Als sie selbst nach fünfzehn ewig langen Sekunden nicht abhob, gab ich es auf. Warum war sie gerade in den ungünstigsten Momenten nicht zu erreichen?

Ich starrte auf das Display, als ob sich nach genug Zeit eine neue Möglichkeit enthüllen würde. Leider tat es das nicht, ich verschwendete nur wertvolle Minuten. Ich hatte keinen anderen Plan, außer jemanden anzurufen, und selbst jemand unwissendes war besser als gar keiner.

Die nächste, die an der Reihe war, war Chaeng. Wie viel Uhr es bei ihr gerade war, fragte ich mich erst, als ich den Knopf schon gedrückt hatte. Gerade war es bei mir zwanzig nach sieben, dann war es bei ihr...

„Bitte sag, dass du einen vernünftigen Grund hast, mich um halb fünf aufzuwecken", kam Chaengs verschlafene Stimme aus dem Lautsprecher. „Und wo bist du eigentlich gerade? Es ist furchtbar laut im Hintergrund."

„Edinburgher Innenstadt", antwortete ich. Dann sah ich erneut um. Etwas weiter weg glaubte ich, die Gestalt des hageren Mannes zu sehen.

„Scheiße", rutschte es mir heraus. Ich hätte in eines der Geschäfte gehen sollen, statt hier so offensichtlich herumzustehen.

Ohne Chaeng abzuwürgen, bog ich in eine kleinere Gasse ein und betrat das erstbeste Geschäft. Es war ein heruntergekommener, stickiger Pub. Nicht meine erste Wahl, aber für meine Zwecke sollte es reichen.

„Nel, was zur Hölle ist da bei dir los? Wirst du verfolgt oder so?"

„Warte kurz", zischte ich ihr zu und stellte den Ton ab.

Ich durchquerte den Raum bis zum Tresen. Dort stand eine ziemlich leicht bekleidete Frau, umringt von einigen mehr oder weniger auf ihren Ausschnitt glotzenden Männern. In der Art von Pub war ich also gelandet.

Es dauerte nicht lange, bis mich einer der glotzenden Typen bemerkte. Seine Lippen zu einem anzüglichen Lächeln verzogen, stieß er seinen Freund an. Dieser drehte sich ebenfalls zu mir um und stieß einen leisen Pfiff aus.

„Neu hier, Schätzchen?", sagte Glotzauge Nummer eins, während Glotzauge Nummer zwei fragte: „Komm, ich lad' dich auf einen Drink ein."

Ich ignorierte die beiden und wandte mich stattdessen an die Frau hinter dem Tresen. „Könnten Sie mir eventuell sagen, wo hier die Toiletten sind?"

Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu. Die meisten Gastronomen sahen es nicht gerne, wenn jemand nur kam, um die Toilette zu benutzen. Dann deutete sie aber auf einen schmalen Gang links neben Glotzauge Nummer zwei.

Ich bedankte mich und lief in die angezeigte Richtung. Als ich den Flur erreichte, rief Glotzauge Nummer zwei mir hinterher: „Wenn du deine Meinung ändern solltest, ich halt' dir den Platz neben mir frei. Für so ein hübsches junges Ding wie dich würde ich selbst unserer Carol hier den Laufpass geben!"

Obwohl die Toiletten nicht die Einladendsten waren, war ich heilfroh, als ich aus dem Hauptraum des Pubs raus war. Hier gab es immerhin keine widerwärtigen Typen. Dafür aber Waschbecken, in denen sich eine streng riechende braune Brühe staute. Es war wirklich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber einen Vorteil hatte es: In so einer Bruchbude wie hier würde mich mein Verfolger niemals vermuten.

Nun stellte ich den Ton meines Airscreens auch wieder an.

„An deiner Stelle hätte ich diesen widerlichen Typen mal eine geklatscht", fing Chaeng in dem Moment an, in dem sie bemerkte, dass sie nicht länger stummgeschaltet war. „Die hätten besser mal einen Drink weniger trinken sollen. Dann würden sie vielleicht von alleine bemerken, wenn anderen bei ihrem Anblick schlecht wird."

„Und genau deshalb habe ich dich stummgeschaltet."

„Sie hätten die Ansage brauchen können."

„Stimmt, aber ich möchte ungerne eine Schlägerei anfangen. Gerade habe ich wirklich andere Probleme."

„Die hätten dich nicht geschlagen. Erinnerst du dich, der Kommentar mit dieser Carol?"

Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht länger über die beiden Glotzaugen reden, wenn es nicht sein musste. Und das musste es in fast keiner Lebenssituation.

Während Chaeng sich weiter über sie beschwerte, lehnte ich mich an die lauwarme, altmodische Heizung hinter mir. Aus dem gesprungenen Spiegel über den Waschbecken sahen mir meine blaugrauen, vor Schreck geweiteten Augen entgegen. Ich sah gehetzter aus, als ich vermutet hätte.

„Warum bist du jetzt eigentlich überhaupt zu diesen Perverslingen gegangen?", fragte Chaeng auf einmal.

„Ich glaube, so ein merkwürdiger Mann hat mich verfolgt. Und ich brauchte so schnell wie möglich ein Versteck", erklärte ich.

„Verfolgt? Nichts für ungut, aber warum würde dich denn jemand verfolgen wollen?"

„Dasselbe denke ich mir auch." Ich unterdrückte ein Gähnen, plötzlich erschöpft von der Rennerei durch die Straßen. „Aber anscheinend gibt es sogenannte Abgesandte, die es auf mich abgesehen haben, weil bei mir irgendwelche Anzeichen fehlen. Oder so ähnlich."

„Okay", sagte Chaeng. Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weiterredete. „Kannst du das bitte einmal wiederholen? Ich glaube, ich habe irgendwas Wichtiges verpasst."

„Ich werde anscheinend von seltsamen Leuten namens Abgesandten verfolgt, weil bei mir irgendwas nicht normal gelaufen ist."

„Verwirrend."

Da stimmte ich ihr voll und ganz zu. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was hier gespielt wurde, und wie ich aus dem Nichts da reingeraten konnte. Doch hier stand ich, in einem heruntergekommenen Bad, und versteckte mich vor einem Mann, der mich vermutlich verfolgt hatte.

„Abgesandte bedeutet, dass es jemanden gibt, der sie gesandt hat", überlegte Chaeng. „Wenn du wüsstest, wer das sein könnte, wären wir einen Schritt weiter."

„Ich habe keine Ahnung, wirklich. Laurie und Jean haben irgendwas mit den Auftraggebern zu tun. Evyen hängt auch irgendwie mit drin, zumindest wusste sie, dass Leute wie der Mann von heute da waren. Aber bei ihr bin ich mir nicht zu hundert Prozent sicher."

„Warte, Laurie und Jean? Bist du nicht mit denen befreundet?"

„Eigentlich schon, das dachte ich jedenfalls."

„Und warum fragst du sie dann nicht einfach?"

Ich seufzte. „Es ist dann doch nicht so einfach, wie es scheint. Das Gespräch war offensichtlich geheim, und Luis hat es nur zufällig mitbekommen. Er, Matilde und ich wollten uns am Donnerstag treffen und nochmal darüber reden."

„Wirst du die beiden immerhin heute darüber informieren, was passiert ist?"

„Das war der Plan. Und vielleicht schaffen wir es ja auch, uns früher als Donnerstag-"

Ich wurde von dem Klingeln meines Airscreens unterbrochen. Ich sah kurz auf den Bildschirm. Es war Evyen.

„Chaeng, ist es in Ordnung, wenn ich dich später nochmal zurückrufe? Evyen ruft gerade an, und vielleicht kann sie mir Antworten geben."

„Klar. Dann viel Glück noch!"

Mit diesen Worten legte sie auf und ich nahm Evyens Anruf an.

„Endlich", entfuhr es mir, als die Verbindung hergestellt war.

„Nelly? Ist alles gut bei dir?", kam es besorgt zurück.

„Absolut nicht. Ich bin gerade in der Toilette eines total abgewrackten Pubs und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Draußen ist ein Mann, der mich anscheinend verfolgt, und vor dem verstecke ich mich gerade. Aber eigentlich bin ich nur hier gelandet, weil ich wegen des verfluchten Feierabendverkehrs kein früheres Moby bestellen konnte als das, was ich schon bestellt habe."

Ich hatte unterschätzt, wie gut es tat, einfach loszuwerden, wie ich mich gerade fühlte. Und ich fühlte mich miserabel.

„Das klingt wirklich nicht gut. Aber hör zu, ich weiß, was wir jetzt machen. Für wann hast du das Moby bestellt?"

Dass Evyen ebenfalls der Meinung war, die Situation sei nicht gut, war nicht besonders beruhigend. Doch im Gegensatz zu mir schien sie wenigstens einen Plan zu haben.

„Für halb", antwortete ich.

„Wie lange brauchst du in normalem Tempo, um dorthin zu kommen?"

„Zwei Minuten, glaube ich."

„Gut, es ist sieben Uhr achtundzwanzig, das passt perfekt. Der Plan ist, du verlässt gleich diesen Pub, und gehst einfach zu dem Moby. Am besten bleibe ich so lange am Telefon, bis du es erreicht hast. Wenn du den Mann wieder sehen solltest, renn nur weg, wenn er dir zunahe kommt. Ansonsten versuche, dich nicht allzu auffällig zu verhalten. Mit ein bisschen Glück wird er dich gar nicht bemerken."

Ich nickte. Als ich bemerkte, dass sie mich nicht sehen konnte, stimmte ich kurz zu. Dann schaltete ich den Airscreen ab, ohne die Verbindung zu unterbrechen, und verließ die Toiletten. Zu meinem Erstaunen schaffte ich es sogar aus dem Pub heraus, ohne dass eines der Glotzaugen einen Kommentar abließ.

Auch draußen auf den Straßen hielt mein Glück an. Ich sah mich möglichst unauffällig um, bevor ich aus der kleinen Gasse hinaustrat. Es war kein hagerer Mann in Sicht.

Nach etwa einer Minute auf der breiteren Straße sah ich jedoch braungraue Haare aufblitzen. Ich zuckte zusammen. Aber als ich einen weiteren Blick auf die Person erhaschen konnte, stellte sie sich lediglich als ein gemütlich herumspazierender Rentner heraus. Trotzdem erhöhte ich mein Tempo ein wenig.

Der Rest des Weges zum Ende der Fußgängerzone verlief unspektakulär, aber erst als sich die Tür des Mobys hinter mir schloss, konnte ich wirklich aufatmen. Egal, was dieser Mann vorgehabt hatte, nun konnte er dieses Vorhaben vergessen. Ich zog meinen Airscreen wieder hervor.

„Ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause", informierte ich Evyen. „Laut Karte komme ich in knapp einer halben Stunde an."

„Das ist gut, ich sollte dann auch schon da sein. Du hast den Mann aber nicht nochmal gesehen, oder?"

Ich verneinte.

„Bist du dir ganz sicher, dass er dich verfolgt hat? Diese Frage ist nicht dazu gedacht, deine Kompetenz in Frage zu stellen, aber ich brauche da wirklich absolute Sicherheit."

„Ich denke schon. Ich meine, es wären schon eine Reihe an Zufällen nötig, um es anders als eine Verfolgung zu erklären."

„Gut. Dann werde ich sehen, was man da machen kann."

„Kannst du mir dann wenigstens erklären, was es mit diesem Mann auf sich hat?", fragte ich zögerlich.

„Das Problem ist, ich weiß es selber nicht", sagte sie. Es klang ehrlich. „Aber ich habe die ein oder andere Theorie. Wenn ich mehr herausgefunden habe, sage ich es dir auf jeden Fall. Bis dahin pass bitte weiterhin auf dich auf. Und sag mir auf jeden Fall, sollte so etwas noch einmal passieren."

Ich stimmte zu, dann war das Thema für sie offenbar erstmal vom Tisch. Wir redeten noch ein paar Minuten über den Fernseher und andere vergleichsweise triviale Dinge, bis wir schließlich das Gespräch beendeten.

Die Zeit bis ich zu Hause angekommen war verbrachte ich damit, mit Chaeng zu telefonieren und gleichzeitig über die Verfolgung zu grübeln. Die Unterhaltung mit Evyen hatte mich kaum weitergebracht, was Antworten auf meine Fragen anging. Das Einzige, was ich davon mitgenommen hatte, waren Zweifel. Was wäre, wenn ich es mir wirklich nur eingebildet hätte? Wenn mich die kryptischen Andeutungen von Jean und Laurie nur paranoid gemacht hatten? Hoffentlich würde ich nach dem Treffen am Donnerstag mehr Antworten bekommen. Denn was auch immer hier vorging, es hatte mich aus meinem bisher sehr angenehmen, normalen Leben herausgezogen. Und das gefiel mir gar nicht.

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A/N: Dieses Mal ein ein wenig längeres Kapitel, ich hoffe, das war nicht schlimm. Die nächsten paar werden wieder in der üblichen Länge sein :)

An dieser Stelle jedenfalls danke an alle, die bis hierhin gelesen haben, das bedeutet mir wirklich viel!

- luneelara

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