IV | Das Video

Ich lag auf der Picknickdecke, die Augen geschlossen und meine Arme unter meinen Kopf gelegt. Um mich herum redeten die Leute, hörten Musik oder spielten Beachvolleyball auf dem Feld einige Meter entfernt. Dass die Sonne, deren Hitze ich überall auf meiner Haut spüren konnte, gerade auf ihrem Höchststand war, störte keinen.

Neben mir ließ sich jemand auf die Decke fallen. Widerwillig öffnete ich die Augen. Es war Rennie.

„Und, wie war es am See?", fragte ich.

Sie streckte ihre Beine aus und lehnte sich nach hinten.

„Super! Das Wasser ist gar nicht so kalt wie erwartet, und wenn man ein bisschen weiter an den Rand des Strandes geht, ist es gar nicht so voll. Also, wann willst du auch mal vorbeikommen?"

Ich richtete meinen Blick in den Himmel und schloss die Augen wieder.

„Später vielleicht. Es ist ganz gemütlich hier."

„Da haben wir das erste Mal im Jahr über dreißig Grad, und du willst einfach in der Sonne vor dich hin braten. Wusstest du eigentlich, dass die Menschen vor hundertfünfzig Jahren nicht in der Mittagssonne herumliegen konnten, ohne einen Sonnenbrand zu bekommen?"

„Klingt unangenehm."

„War es bestimmt auch. Und du kommst jetzt gleich mal mit. Wer weiß, ob das Wetter nächstes Wochenende genauso gut wird."

Das Schwimmtraining hatte erst vor eineinhalb Stunden aufgehört, und eigentlich hatte ich wenig Lust, direkt schon wieder ins Wasser zu kommen. Aber andererseits würde mich vor allem Rennie irgendwann so sehr nerven, bis ich es doch tat. Da konnte ich auch direkt nachgeben. Vermutlich war es ein Fehler gewesen, sie zu fragen, ob sie noch mit nach Reelmore Loch kommen wollte.

„Lass mir noch zehn Minuten, okay?"

„Gut, die kann ich dann auch noch hierbleiben. Wo ist eigentlich das Essen?"

„Ich habe keine Ahnung, frag am besten Jean."

Das Licht hinter meinen Augen verdunkelte sich, als sie sich dank des Platzmangels über mich lehnte.

„Jean?"

Es kam keine Antwort. Wenn er wie vor ein paar Minuten immer noch sein Buch las, war das zu erwarten gewesen.

„Jean?", fragte sie erneut, diesmal lauter.

Wieder kam keine Antwort. Ebenfalls kein Wunder. So würde Rennie nichts erreichen. Ich blinzelte und richtete mich halb auf. Ich hatte Recht gehabt, er las immer noch.

„Die Physiker, interessant", sagte Rennie und neigte den Kopf. „Um was geht's?"

Endlich hatte sie seine Aufmerksamkeit. Dritter Versuch war gar nicht so schlecht. Allerdings kam das nicht an Luis' Rekord dran. Wobei der auch eher unabsichtlich passiert war.

„Drei Physiker in einem Sanatorium. Ist ziemlich grotesk", antwortete Jean, ohne von seinem Buch aufzusehen.

„Präkalyptisch?", tippte Rennie.

„Ja."

„Musst du das für Literatur lesen?"

„Nein."

Ich verzog amüsiert die Lippen. Ruhe hatte ich jetzt zwar nicht mehr, aber das war auch interessant.

„Also hast du im Allgemeinen Interesse an präkalyptischen Büchern?", bohrte Rennie weiter nach.

„Nein."

„Und wie kommt es dann?"

„Meine Freundin hat es mir empfohlen."

„Warte, du hast eine Freundin?" Ihr Blick schnellte zu mir. „Nel! Warum weiß ich davon nichts?"

„Weil er davon kaum redet und wir es auch erst vor ein paar Wochen erfahren haben", antwortete Luis.

Winzige Wassertröpfchen sprenkelten seine leicht gebräunte Haut und seine blonden Haare hingen ihm nass in die Stirn. Er war wohl gerade vom See gekommen.

„Ist hier noch Platz?", fragte er und deutete auf die Decke.

„Klar", sagte ich.

Ich setzte mich nun endgültig auf und zog meine Beine an, sodass Rennie sich ebenfalls zurück in ihre ursprüngliche Position setzen musste. Luis setzte sich gegenüber von mir hin.

„Danke. Also, worum geht es?"

„Eigentlich nur ums Essen", informierte ich ihn.

„Und um Jeans Freundin", ergänzte Rennie.

„Was das Essen angeht, in der Tasche hier drüben müsste das Obst sein." Luis griff neben sich und stellte besagte Tasche vor Rennie ab. „Zumindest wenn Nel und Jean nicht schon alles aufgegessen haben."

„Und Getränke?", fragte ich. Sonnenbrandverhindernde Gene hin oder her, gegen Dehydrierung halfen sie leider wenig.

„Gekühlt oder ungekühlt?"

Ich blinzelte. „Ihr habt beides eingepackt?"

„Matilde und Laurie haben darauf bestanden. Also?"

„Gekühlt."

„Das müsste drüben an den Liegen sein. Soll ich es rüberholen?"

Ich schüttelte den Kopf. „Danke, aber brauchst du nicht. Wo ist das restliche Wasser?"

„Hier", rief Rennie und winkte mit einer Flasche, bevor sie mir sie zuwarf.

Ich drehte den Deckel auf und trank einen großen Schluck.

„Zurück zu Jeans Freundin: Was wisst ihr, das ich nicht weiß?", fragte Rennie neugierig.

Ich sah zu Jean. Er war wieder in sein Buch vertieft.

„Nicht viel", antwortete ich schließlich.

„Echt?" Sie klang ein wenig enttäuscht.

„Ganz so wenig wissen wir auch nicht. Sie heißt Candice, und sie liest genauso gerne wie er. Allerdings lebt sie nicht hier in Edinburgh", sagte Luis.

Mein Blick schnellte zu ihm. War es nicht ein wenig unfair Jean gegenüber, es einfach so zu erzählen, gerade wenn er sich genau neben uns befand?

Aber anscheinend störte es ihn nicht. Oder er zeigte es nicht. Oder er hatte auch einfach nicht zugehört.

„Was habt ihr eigentlich in den Ferien vor?", fragte ich trotzdem.

„Ich fahre mit meiner und noch einer anderen Familie nach Südafrika", sagte Rennie. „Zwei Wochen nach Durban, zwei nach Kapstadt, und dann geht es an der Küste entlang nach Angola bis nach Luanda."

„Klingt spannend. Und Luanda ist wirklich schön, ich war vorletztes Jahr mit Chaeyoung da. Falls es dich interessiert, es gibt dort auch eine riesige Einkaufsstraße mit Läden, die du sonst nirgendwo findest."

„Werde ich mir mal anschauen", sagte sie.

„Apropos Chaeyoung", warf Luis ein. „Wollte sie nicht irgendwann für ein paar Wochen hierherkommen?"

Ich nickte. „Mitte der dritten Woche. Ab dann bleibt sie voraussichtlich einen Monat."

„Fährst du dann überhaupt noch weg?"

„Diesen Sommer nicht. Zumindest wie es aussieht. Es kann natürlich auch sein, dass sich die Pläne ändern und wir zu zweit kurzfristig irgendwohin fahren. Und wie sieht es bei dir aus?"

„Im Gegensatz zu euren Plänen ist meiner wirklich langweilig. Meine Eltern wollen schon seit Ewigkeiten wieder nach New Angeles, und Daria und ich müssen mitkommen. Sie haben sich dort kennengelernt, zu eurer Information." Er seufzte. „Aber was soll man machen. Sind nur zweieinhalb Wochen. Und so uninteressant kann Angeles nicht sein."

„Kann es doch", widersprach Rennie, nachdem sie einen Bissen Wassermelone hinuntergeschluckt hatte. „Jedenfalls wenn du nicht weißt, wo die spannenden Orte sind. Ich schicke dir mal eine Liste, ich habe immerhin drei Jahre dort gewohnt."

Sie packte die Box mit den Melonenstücken wieder weg und stand auf.

„So, kommt jetzt jemand mit?", fragte sie. „Auf der faulen Haut liegen kann ich auch zu Hause."

Ich erhob mich ebenfalls, nicht ohne noch einen wehmütigen Blick auf die Picknickdecke zu werfen. Jetzt musste ich leider gezwungenermaßen mitkommen.

„Ich esse noch kurz was, dann komme ich nach", sagte Luis. „Nel, bevor du jetzt wieder gehst-"

Ich sah über die Schulter und hob fragend die Augenbrauen.

„Nel, kommst du jetzt oder nicht?", rief Rennie mir zu.

Sie war schon ein wenig vorgelaufen, und hatte sich nun zu uns umgedreht. Als Luis sie warten sah, winkte er ab.

„Geh ruhig, es hat Zeit. Nicht, dass Rennie noch ungeduldig wird."

„Sicher? Ich kann ihr auch sagen, dass ich noch ein paar Minuten brauche."

„Es ist wirklich nicht schlimm. Vermutlich ist es sogar besser, wenn wir später reden."

„Wenn du meinst."

Ich zuckte mit den Schultern und folgte Rennie in Richtung See.

***

Stunden später saßen Matilde, Luis und ich in einem Moby nach Hause. Jean und Laurie hatten ein anderes genommen, da sie in einer anderen Ecke der Stadt wohnten als wir anderen, und Rennie hatte sich schon am Nachmittag verabschiedet.

Bei uns im Moby herrschte seit wir vor etwa zwei Minuten losgefahren waren Stille. Matilde sah aus dem Fenster, Luis tippte auf seinem Airscreen herum und ich war einfach erschöpft von dem Tag. Erst intensives Training und dann direkt einen Ausflug nach Reelmore Loch zu machen war unfassbar anstrengend gewesen. Anstrengend, aber trotzdem schön.

Meine Gedanken wanderten zu den Plänen, die ich für die nächsten Wochen hatte. Prüfungsergebnisse zurückbekommen, der Qualifikationswettkampf, die restlichen Stunden Schule überstehen. Dann war erstmal über zwei Wochen nichts, bis Chaeng kommen würde. Aber bis dahin war es noch mehr als einen Monat hin.

Luis' Räuspern riss mich zurück in die Gegenwart.

„Also... Nel habe ich es heute schon gesagt, aber ich muss euch dringend etwas zeigen", sagte er.

Ich brauchte einen kurzen Moment, um mir wieder alles ins Gedächtnis zu rufen. Richtig, er hatte kurz einmal erwähnt, dass er etwas wichtiges zu sagen hatte. Was genau das war und wen es überhaupt etwas anging, hatte er jedoch nicht erwähnt. Das Einzige, das ich wusste, war, dass Rennie anscheinend nichts davon wissen sollte.

Matilde sah auf. „Was denn?", fragte sie.

Luis schaltete seinen Airscreen ab. Einen Moment später schien er es sich wieder anders überlegt zu haben und machte ihn wieder an. Matilde kniff die Augen zusammen.

„Ich glaube, es ist besser, ihr schaut es euch selber an", sagte er.

Er tippte auf dem Screen herum und drehte ihn dann so, dass wir das Display sehen konnten. Es zeigte eine Videoaufnahme eines Parks, wie es aussah die Castlegardens. Der Himmel war in einem sanften Orangerot gefärbt. Luis erhöhte die Lautstärke und startete das Video.

Zuerst sah man nur eine Rundumaufnahme der Wege und des Parks. Edinburgh Castle wurde herangezoomt, dann wurde wieder aus dem Bild gezoomt. Durch die Geschwindigkeit und das eher ruckelnde Bewegen der Kamera wirkte es, als würde Luis zu dem Zeitpunkt mindestens schnell gegangen, wenn nicht sogar gelaufen.

„Diese mysteriöse Sache, von der du uns anscheinend unbedingt zeigen wolltest, ist ein Video von dir beim Joggen?", fragte Matilde ungläubig. Wenn ich ehrlich war, hätte ich auch ein wenig mehr erwartet.

„Ein paar aus meinem Fußballteam wollten mir nicht glauben, dass ich um fünf schon draußen war. Daher das Video. Aber das ist nicht der Hauptpunkt. Wartet einfach ab."

Die nächsten paar Sekunden ging es weiter wie zuvor, bis Luis plötzlich stehenblieb. Er machte wenige Schritte zurück, dann schwenkte die Kamera nach rechts unten. In dieser Richtung bewegte sie sich ein bisschen weiter, bis sie wieder auf einem Punkt verharrte.

Nun waren nur noch den unteren Teil einer Hecke, Gras und einige Blumen im Bild. Im Hintergrund sah man etwas weiter entfernt eine metallene Stütze, vermutlich der Fuß einer Bank. Das zweite, das sich verändert hatte, war der Ton. Man hörte immer noch das Rauschen des Windes in den Ästen der Pflanzen und Luis' regelmäßigen Atem, doch da war auch noch etwas anderes. Zwei Stimmen, nur schwach hörbar.

„...gar nichts", sagte die erste Person. Jean.

„Tut es schon", sagte die zweite, Laurie. „Es sei denn, jemand hätte Rachel Cavanagh in ihrer Kindheit sehr ungenau geklont und den Klon bis vor zehn Jahren oder so vom Wachsen abgehalten. Und wir wissen beide, dass die Klontechnologien noch nicht so weit sind."

Ich runzelte die Stirn. Warum sollte Laurie den Namen meiner Mutter benutzen? Und dann in diesem Zusammenhang? Es machte keinen Sinn, zumindest noch nicht. Ich konzentrierte mich wieder aufs Video.

„Und wie erklärst du es dir dann, dass sie achtzehn Jahre alt ist und sich zu keiner Zeit ihres Lebens auch nur ein Hauch an den üblichen Anzeichen gezeigt hat?", fragte Jean, sein Ton ungewöhnlich scharf.

„Das ist ja gerade das Problem. Und genau das soll gelöst werden."

Eine kurze Pause folgte. Dann erklärte Jean: „Mach du, was du für richtig hältst. Ich bin ab hier raus. Gegen die Abgesandten kann ich nichts tun, aber ich werde ihnen auf keinen Fall auch noch helfen."

„Du kannst doch nicht einfach-"

„Sie brauchen mich", fiel Jean Laurie ins Wort. „Nicht andersherum. Und hiermit ist diese Diskussion beendet. Schlimm genug, dass wir das überhaupt mitten in der Öffentlichkeit bereden mussten."

„Es ist..."

Man hörte nochmal kurzes Rascheln, der Bildschirm schwenkte auf den steinigen Parkweg. Dann war das Video zu Ende.

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