♕ Wie die Hand einer Prinzessin zur Trophäe wird [I] ♕
Sienna van Lorca glitt der filigran gearbeitete, gläserne Trinkbecher aus der Hand und traf wenige Wimpernschläge später auf den marmornen Fußboden.
Das laute Klirren schallte durch den großen Saal und wurde von den hohen, mit goldenem Stuck verzierten Wänden zurückgeworfen. Spätestens in diesem Augenblick verstummte das leise, aufgeregte Getuschel um sie herum, sodass einzig das Splittern des Glases in der Luft hing - unerträglich laut. Alle Augen waren nun im gemütlichen Schein der großen Lüster und unzähligen Kerzen auf sie gerichtet.
So tief ihr Glas, gefüllt mit erlesenem Perlwein, hinunter auf den Boden fiel, genauso hoch schlug ihr Herz in diesem schicksalhaften Moment. Und sowie das Glas auf den harten Marmorfliesen in winzige, funkelnde Stücke zerschlug, erging es auch ihrem Herzen. Nur, dass man diesen Bruch nicht sehen, nicht hören konnte.
Noch während sich die durchsichtigen Scherben in einer Pfütze schäumender Flüssigkeit ausbreiteten, hatte die Prinzessin von Rywengaard aber schon wieder zu sich gefunden, ihren Schmerz und ihre Enttäuschung penibel verborgen. Verborgen vor der Dienerschaft und allen anwesenden adeligen Gästen und Familienangehörigen, unter einem entschuldigenden, leicht peinlich berührten Lächeln und rosig angelaufenen Wangen.
Wenn man so wie Sienna aufwuchs, behütet und nach den feinsten Vorschriften belehrt, während man dabei nicht nur von den scharfen Augen ihrer Etikettenlehrerin, sondern auch von sämtlichen Mitgliedern des königlichen Hofes und dem gesamten Volk beobachtet wurde, lernte man schnell, seine wahren Gedanken und Gefühle vor allermann zu verbergen. Gut weggeschlossen, nicht sichtbar und doch gefährlich nahe an der Oberfläche lauernd.
Die jüngste Prinzessin des Landes war eigentlich eine Meisterin darin, ihre Emotionen unter Verschluss zu halten, niemanden - nicht einmal ihren ein Jahre älteren Bruder - wissen zu lassen, was wirklich in ihr vor ging. Doch am heutigen Tag, vor wenigen Sekunden, war etwas geschehen. Ein paar Sätze ihres Vaters, Worte, von denen die Blondhaarige nie erwartet hatte, dass sie sie jemals vernehmen würde, hatten ihrer kunstvolle, undurchdringbare Fassade Risse zugefügt. Und die Scherben zu ihren in zart geschnürten Tanzschuhen steckenden Füßen stellten nun den für alle Gäste offensichtlichen Beweis dar.
Es war keinesfalls Scham, wie manch ein Anwesender vielleicht vermuten mochte, der ihre Wangen rot färbte. Sondern Zorn. Jener Zorn, der gleich auf die Fassungslosigkeit gefolgt war, die ihre Hände zitterig gemacht und damit besiegelt hatte, dass das Trinkglas ihr aus den Fingern geglitten war.
Aus dem Augenwinkel sah sie die ungeduldige Handbewegung ihres Vaters. Ein knapper Wink aus dem Handgelenk heraus in Richtung des Orchesters, das sich weiter hinten im Ballsaal befand. Kurz darauf erhob sich aus diesem Winkel eine fröhlich-lockere Melodie, die schnell zum Tanzen verleiten konnte. Unter normalen Umständen auch Sienna, denn die Prinzessin liebte die Musik und das Tanzen. Wie frei sie sich dabei fühlte.
Doch heute drang der gleichmäßige Rhythmus nur gedämpft zu ihr durch, konnte ihr Herz nicht wirklich erreichen. Denn jenes, das immer noch viel zu schnell unter ihrer Haut pochte, war mit weitaus bedeutenderen Dingen beschäftigt.
Ich muss mich wohl verhört haben, schoss es Sienna von Lorca durch den Kopf, während sie die anwesenden Adeligen dabei beobachtete, wie sie sich langsam dem Tanz zuwendeten. Nur noch ein paar Augen blickten in ihre Richtung, weswegen die Prinzessin sich weiterhin um eine aufrechte und korrekte Haltung bemühte, ihr Gesicht nichtssagend, bis auf das kleine Lächeln, das immer noch ihre rosigen Lippen zierte.
Sie wartete ein noch einen kurzen Moment, bis alle Gäste ihr Missgeschick schon wieder durch die Freunden des Tanzes und der Musik verdrängt hatten. Einer der Bediensteten machte sich bereits eilig daran, die Scherben unweit ihrer Füße aufzusammeln und die Pfütze Perlwein von marmornen Boden aufzuwischen. Prinzessin Sienna murmelte einen leisen Dank, bevor sie sich hoch erhobenen Hauptes umwandte, um in die Richtung ihres Vaters - ihres Königs - zu blicken.
Es kann doch nicht sein, dass er das wirklich so gemeint hat, dachte sie, während die Wut in ihrem Bauch immer größer wurde, sich dort regelrecht zusammenballte. Gleichzeitig spürte Sienna aber auch, dass sich die Panik ihrer bemächtigte und ihr die Kehle derart zuschnürte, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen.
Sie grub ihre gepflegten Fingernägel tief in ihre Handflächen. Bestimmt würden die nächsten Minuten noch ein paar Halbmonde als Abdrücke zu sehen sein. Doch der leise Schmerz zwang sie dazu, sich wenigstens so weit zu fokussieren, dass ihre Maske kein zweites Mal so stark verrutschte, wie eben. Erst nach ein paar weiteren Atemzügen gelang es ihr, ein paar Schritte auf den Königsthron zuzugehen, auf welchen ihr Vater sich nun mit einem leisen Seufzen niedergelassen hatte. Erst, als sie das Gefühl hatte, ihren Körper und vor allem ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu haben, blickte sie dem König des Reiches entgegen.
Wenn Raeburn van Lorca auch nur die geringste Ahnung hatte, was er mit seiner Verkündung vor wenigen Momenten bei seiner jüngsten Tochter ausgelöst hatte - wie stark es ihr Vertrauen zu ihm erschütterte - dann zeigte seine ganze Haltung nichts davon. Nicht umsonst hatte Sienna sich ihren Vater zum Vorbild genommen, als sie ihre Selbstbeherrschung und Fassade geübt hatte. Der mächtigste Mann des Königreiches war in diesem Moment so undurchschaubar wie eh und je. Und dabei hatte er gerade das Schicksal seiner Tochter auf derart drastische Art und Weise verändert.
Ohne mich vorher zu fragen!
Vielleicht war es dieser Teil, der die blondhaarige Prinzessin am meisten störte und schockierte. Bisher hatte ihr Vater sie immer in seine Vorhaben eingeweiht, so gut es ihm möglich gewesen war. Doch nun, da es um ihr Leben ging, hatte er sie außen vor gelassen, einfach über ihren Kopf hinweg entschieden. Weitaus schlimmer war noch, dass sie sich ihm schlecht widersetzen konnte. Ihr Vater war der König, und wenn er wahrhaftig ernst gemeint hatte, was er vor allen Gästen angekündigt hatte, würde es selbst ihr nicht mehr möglich sein, ihn noch davon abzubringen.
Und doch...
Ein leiser Teil in ihrem Herzen begann sich hoffnungsvoll zu regen. Nichtsdestotrotz sollte sie es versuchen. Es ging hier immerhin um Siennas zukünftiges Leben. Um das, was ihr Vater ihr vorschreiben wollte und um das, was sie sich wünschte. Das würde sie nicht einfach sang- und klanglos aufgeben, so viel war sicher. Selbst wenn ihr Aufbegehren am Ende nichts an dem Entschluss ihres Vaters ändern würde, so hätte sie immerhin ihren Widerwillen gezeigt.
Sienna van Lorca würde es ihrem Vater nicht so einfach machen, über ihr Leben bestimmen und sie unter die Haube zu bringen zu wollen!
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