Die ständige Angst
Felix stand vor dem Spiegel, das kalte Metall der Krawatte in seiner Hand. Es war ein stummer Kampf, als er den Knoten fester zog, als könnte er mit jeder Umdrehung des Stoffes die innere Unruhe, die in ihm brodelte, zügeln. Die Morgenluft draußen war still und grau, der Regen hatte die Welt in einen Schleier aus Dämmerung gehüllt.
Er konnte das fahle Licht durch das Fenster blitzen sehen, als hätte die Dunkelheit die Sonne geschluckt. Es war ein seltsames, bedrückendes Gefühl, das Felix kaum entglitt - alles schien gedämpft und in Nebel gehüllt, als ob er sich in einem Zwischenzustand befand, einer Welt zwischen dem, was er wollte, und dem, was er glauben musste.
Er starrte in den Spiegel, als könnte er sich selbst dort entkommen sehen. Doch je länger er hinsah, desto fremder kam er sich vor. Wer war er überhaupt noch? Der Junge, der vor dem Spiegel stand, war nur noch ein Schatten dessen, der er sein wollte. Ein Schritt in die falsche Richtung und er würde die Kontrolle über sich verlieren, und das wusste er. Doch auch wenn er es versuchte, konnte er seine Gedanken nicht abstellen.
Die Erinnerung an die Stunden, die er mit Changbin verbracht hatte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Die Nähe, die vertraute Wärme, die er bei ihm gefunden hatte, waren wie ein schmerzhafter Zug, der ihn immer weiter in die Irre führte. Und das Schlimmste war, dass er es liebte. Es war beängstigend, wie leicht es war, sich von Changbin einnehmen zu lassen, von dieser neuen Seite von sich, die er nicht kannte und die er nie hatte akzeptieren können.
Der Klang der Eingangstür, die aufschwang, riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Eltern waren zu Hause. Ihre Stimmen hallten durch den Flur, eine Mischung aus Normalität und der Last von unausgesprochenen Worten. Felix wusste, dass der Moment, in dem sie nach seiner Abwesenheit fragen würden, bald kommen würde. Der Gedanke daran ließ sein Herz schwer werden. Jedes Mal, wenn er in ihre Augen sah, spürte er, wie ihre Blicke durch ihn hindurchbohrten. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte, auch wenn sie es nicht aussprachen. Und das quälte ihn.
„Felix?"
Die Stimme seiner Mutter, durchdringend und voller besorgter Wärme, zog ihn aus seiner inneren Welt.
„Komm runter. Wir müssen reden."
Sein Magen zog sich zusammen, ein vertrautes Gefühl von Angst stieg in ihm auf. Diese Gespräche hatten immer eine seltsame Schwere. Es war nie ein einfaches Gespräch, sondern ein Verhör, das ihn zwang, sich zu erklären, sich zu verteidigen, selbst wenn er keine Antworten hatte. Sie konnten es nicht verstehen. Wie konnten sie auch? Sie lebten in einer anderen Welt, einer Welt, die er längst hinter sich gelassen hatte.
Mit einem tiefen Seufzen zog er sich von seinem Spiegelbild los und trat aus dem Raum. Die Stufen unter seinen Füßen fühlten sich diesmal besonders schwer an, als ob sie ihn tiefer in das Unvermeidliche zogen. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich vor ihm und er trat ein. Da saßen sie, seine Eltern, die immer für ihn da gewesen waren, doch heute war es anders. Der Raum wirkte enger, als würden ihre Blicke ihn wie eine unsichtbare Wand umgeben. Ihre Augen waren nicht nur besorgt, sie waren auch durchdringend, als wollten sie durch ihn hindurchsehen.
„Setz dich, Felix", sagte sein Vater, dessen ruhige Stimme nur schwer über die Spannung in der Luft hinwegzureichen schien.
„Wir müssen reden."
Felix spürte, wie seine Hände zu Zittern begannen. Er gehorchte, setzte sich auf das Sofa gegenüber. Jeder Blick seiner Eltern fühlte sich an wie eine Nadel, die tief in sein Innerstes stach. Sie warteten auf die Antwort, die er nicht hatte. Sie wussten bereits, was sie hören wollten, und doch wusste Felix, dass er sich in einem Dilemma befand. Wie konnte er ihnen die Wahrheit sagen, wenn die Wahrheit selbst zu viel war, um sie auszusprechen?
„Felix", begann seine Mutter schließlich, ihre Stimme weich, doch mit einer unerbittlichen Schärfe, die ihn in den Grundfesten erschütterte.
„Wir haben bemerkt, dass du immer öfter nicht zu Hause bist. Du kommst später nach Hause, verbringst viel Zeit außerhalb. Wir machen uns Sorgen."
Felix' Herz setzte aus. Der Raum drehte sich, und er versuchte, die Kontrolle zu behalten, doch es gelang ihm nicht ganz.
„Es tut mir leid, ich... Ich habe einfach viel zu tun. Schule, Freunde, alles wird irgendwie viel in letzter Zeit", sagte er, und die Worte kamen ihm wie leere Floskeln über die Lippen.
Er zwang sich zu einem Lächeln, das sich sofort wie eine Lüge anfühlte.
„Ich brauche einfach ein bisschen Zeit für mich. Das ist alles."
Seine Mutter sah ihn mit einem Ausdruck an, den er nur zu gut kannte - diesen Blick, der von einer Liebe durchzogen war, aber gleichzeitig von einer stillen, fast schon besitzergreifenden Sorge.
„Das sind aber nicht nur Freunde, oder?", fragte sie, und der Ton ihrer Stimme ließ Felix' Magen sich noch enger zusammenziehen.
„Wir wissen, dass du dich mit Changbin und einigen anderen triffst. Wir verstehen nicht, warum du so viel Zeit mit ihm verbringst, Felix. Wir kennen diese Jungs. Ihre... Einflüsse sind nicht gut für dich."
Die Worte trafen Felix wie ein Schlag ins Gesicht. Die Unsicherheit, die sie über seine Freundschaft mit Changbin äußerten, fühlte sich wie ein kalter Hauch an, der ihm den Atem nahm. Doch noch schmerzlicher war der Gedanke, dass sie nie verstehen würden. Was er mit Changbin hatte, war mehr als eine bloße Freundschaft. Und die Leidenschaft, die er für ihn empfand, war tiefer als er es jemals erklären konnte.
„Es ist nichts, was du dir vorstellen kannst, Mom", sagte Felix, und er konnte den Hauch von Panik in seiner Stimme nicht unterdrücken.
„Changbin ist nur ein Freund. Und mit ihm und den anderen ist es einfach leichter. Sie verstehen mich. Sie sind... anders."
„Anders?", wiederholte sein Vater, und Felix spürte, wie die Spannung in der Luft sich verdichtete.
„Felix, wir haben dich nicht so erzogen, dass du dich mit solchen Leuten einlässt. Du weißt, dass wir immer nur das Beste für dich wollten. Warum lässt du dich so beeinflussen?"
Felix spürte, wie die Welt um ihn herum zitterte, als könnte sie unter der Last seiner Worte zusammenbrechen. Es fühlte sich an, als würde die ganze Geschichte von ihm selbst in einem einzigen Moment in Stücke reißen.
„Ich lasse mich nicht beeinflussen, Papa", sagte er, und seine Stimme war ruhig, obwohl er sich innerlich wie in einem Sturm verlor.
„Ich... ich mache mein Ding. Und das hat nichts mit euch zu tun. Ich brauche einfach meine Freiheit."
„Du kannst nicht einfach tun, was du willst, Felix", sagte seine Mutter, und dieser Satz brannte sich in seine Seele ein.
„Du bist nicht mehr nur ein Kind. Deine Entscheidungen haben Konsequenzen. Wir haben dich immer unterstützt, aber jetzt scheinst du dich selbst zu verlieren. Und wir machen uns Sorgen, dass du auf den falschen Weg gerätst."
Felix fühlte sich wie ein Gefangener in seinen eigenen Gedanken. Seine Eltern waren enttäuscht von ihm, und er konnte nichts tun, um sie zu beruhigen. Der Gedanke, ihnen zu sagen, was wirklich in ihm vorging, schien unmöglich. Er konnte nicht erklären, warum er sich zu Changbin hingezogen fühlte. Die Sehnsucht, die er für ihn empfand, war so stark, dass sie fast schmerzte. Doch all das blieb unausgesprochen.
„Es tut mir leid", flüsterte Felix schließlich, als er den Blick seiner Eltern nicht mehr ertragen konnte.
„Ich werde vorsichtiger sein. Ich... ich werde mehr zu Hause sein."
Seine Mutter nickte, aber der Zweifel in ihren Augen blieb.
„Wir wollen, dass du glücklich bist, Felix", sagte sie leise.
„Aber wir wollen auch, dass du deinen Weg findest. Bitte, sei vorsichtig."
Felix nickte, aber der Klang ihrer Worte war wie ein Gewicht auf seiner Brust. Als er sich von seinen Eltern verabschiedete und nach oben in sein Zimmer ging, fühlte er sich wie ein Flüchtling in seinem eigenen Leben. Jeder Schritt, den er tat, ließ ihn schwerer und schwerer werden. Doch als er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich schloss, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, wie lange er noch in dieser Gefangenheit leben würde.
In dem Moment, als er sich wieder aufrichtete und zu seinem Schreibtisch ging, fiel sein Blick auf sein Handy. Eine Nachricht von Changbin. Und in diesem Moment, so flüchtig es auch war, fühlte er sich ein kleines Stück befreit.
„Wann sehen wir uns wieder? Ich vermisse dich."
Felix' Herz schlug schneller, und die aufgewühlten Gedanken, die ihn quälten, zogen sich zurück.
Nur in Changbins Nähe konnte er für einen Moment aufatmen. Und obwohl er wusste, dass es ein gefährliches Spiel war, konnte er nicht anders, als sich nach diesem Moment der Freiheit zu sehnen.
"Bald."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top