20

Ehe ich wegrennen konnte hatte mich der Mann schon am Arm gepackt. Elvyria begann noch heftiger zu schluchzen, bis eine ihrer Kindermädchen zu ihr eilte und eine versuchte zu beruhigen. 

„Majestät, dieses Gör wird entfernt. Sie müssen sich nicht weiter unnötig aufregen. Will erledigt das, verstanden Majestät?" Das Kindermädchen warf mir böse Blicke zu, genau wie das nach mir benannte Schwein. Die mollige Frau hatte ihre Chance genutzt und Elvyria eins ihrer Brötchen angeboten, um sie zu trösten. Elvyria lehnte dieses jedoch ab und weinte weiter leise in ihre Armbeuge. Der Griff um meine Schulter war noch fester geworden. Der Mann, Leibwächter der Prinzessin, hob mich hoch und verfrachtete mich in die Kutsche. Mit strammen Seilen band er meine Beine und Arme zusammen, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Es war wirklich viel schlimmer, als ich erwartet hatte. Aber es kam noch schlimmer.

Die strammen Rieme, die auf meine Hände einen solchen Druck verursachten, das ich vor Schmerzen weinen musste, drückten sich in meine Haut. Nicht ein kleines bisschen konnte ich meine Füße bewegen, die mit einem Seil an dem altmodischen Sitz befestigt war, der als ein erhöhter Platz für den Kutscher diente. Mit dem kleinen Finger meiner rechten Hand, das einzige an meinem Körper das nicht gefesselt war, strich ich den Vorhang zur Seite, der vor dem kleinen Fenster hing, aus dem Prinzessin Elvyria die Landschaft bewundern konnte. Meine Hand krampfte sich um meine andere und ich versuchte nicht die Kontrolle zu verlieren. Schon in frühen Jahren meines Lebens hatte ich herausgefunden, das ich Platzangst hatte. 

Mir wurde schwindelig. 

Das lag nicht an der Platzangst. 

Jemand versuchte in meinen Geist einzudringen. 

Ich ließ es geschehen. 

Ich war zu müde und erschöpft um etwas gegen das ansteigende Gefühl nach Verlust zu unternehmen. 

Das Gefühl anders zu sein.

Anders als ...

...alle anderen.

Nicht mutiger. 

Nicht selbstbewusster.

Nicht klüger. 

Nein, das einzige was ich spürte war, das ich nicht so anders war wie alle dachten. 

Vor mir sah ich blaue Spiralen. Sie wanderten herum. In meinen Gedanken. 

Rote flimmerten um die blauen bis die blau leuchtenden erloschen. 

Dann begann eine Vision, sich vor meinen Augen abzuspielen. 

Das erste was ich sah,war meine Mutter. Ich erkannte sie sofort an der silbernen Strähne, die durch ihre langen, hellbraunen Haare floss und dem Medaillon das sie um den Hals trug. 

Sie kämpfte sich durch einen eisigen Wind, der ihre Haare nach hinten wehen ließ. Ich fühlte mich als wäre ich selbst dabei. Als wäre ich dabei gewesen. Vor diesen vielen Jahren, als sich diese Szene abgespielt hatte. 

Und dann traf mich ein Erkenntnis wie ein Schlag. Ich war dabei gewesen. 

Die Version war von der Nacht, in der Silva Daelvon starb. Meine Mama. 

Und das Tuch, an das sich meine Mutter klammerte, darin lag ich. Als ich ein Baby war. Vor zwölf Jahren. 

Silva Daelvon war vor der Klippe stehen geblieben und sah nun nach unten. Die Schlucht, die ich ebenfalls sah, war tief, fast so tief, das man nicht das Ende sah. Ich sah wie meine Mutter sich auf die Lippe biss. 

„Tue es, Silva, tue es für Silber", flüsterte meine Mutter leise gegen den Wind an. Sie legte dem Baby, mir, ihr Medaillon an und holte ein Seil aus ihrer Tasche. Sie fasste es zitternd und hielt mit der anderen Hand ihr Baby fest. Mich. Das Baby war nun aufgewacht und begann laut und kläglich zu schreien. Sanft berührte meine Mama es an der Wange. 

Mir stiegen die Tränen in die Augen.

Wie gerne hätte ich diese Berührung jetzt gespürt. 

Stattdessen spürte ich eine schallende Ohrfeige. 

Ich kam langsam wieder zu mir. Meine Wangen brannten von dem Schlag, den mir das Kindermädchen der Prinzessin verpasst hatte, die sich nun zufrieden neben die Prinzessin niederließ, jede Sekunde bereit, sofort aufzuspringen, würde die Prinzessin auch nur einen leisen kleinen Ton von sich geben. Elvyria sah aus dem Fenster. Ich fing den Blick von Skyla auf. 

Es war deutlich, dass sie nicht wusste, wie sich befreien konnte, allerdings was sie mit mir anstellen würden, konnte sie mich nicht befreien. Wenigstens davon hatte sie eine Ahnung. Sie war von klein auf darauf trainiert worden durch die Zeit zu reisen. Sie hatte gelernt, wie man im 19. Jahrhundert etwas sagte, sich anzog und vor allem: 

Sich benahm.

Sie wusste dies alles. 

Ich nicht.

Sie hatte mir erzählt, das sie auf eine Akademie für Zeitreisende gegangen war, auf der sich Skyla aber noch nie wohlgefühlt hatte. Es war alles in strengster und ordentlicher Ordnung gewesen und wenn man auch nur einen Mucks von sich gab, während die Lehrerin sprach, wurde man in das Büro des Direktors geschickt und hart bestraft. Bei einer ihrer Strafen, laut Skyla, hatte sie die gesamte Bibliothek mit Name katalogisieren sollen, nur weil sie der Lehrerin bei etwas widersprochen hatte, da es nicht dem entsprach was ihre Mutter, die adelige Zeitreisende Aurora Townsend, ihr erläutert hatte. 

Gerade als ich an Skyla dachte, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf. Gedämpft und nicht sehr klar, aber ich erkannte sie. Eindeutig war das ihre Stimme. Aber wie konnte das sein? Wie konnte es sein, das ich Skylas Stimme hörte. 

Eine Vision. 

Die Frau, die ich sah, trug eine funkelnde goldene Krone, die ihr ovales Gesicht zur Geltung brachte, das von ihren blonden Haaren umrahmt wurde. Ihre eine Hand hielt einen Zepter, in dem ein Rubin befestigt war. 

„Es ist so weit. Sie können kommen... Juna, hole Silva herein." 

Die arm gekleidete Frau neben ihr machte eine ungeschickte Verbeugung und eilte davon. Es ging in der Vision also wieder um meine Mutter. Das massive Steintor, in das Runen eingeritzt waren, ging auf. Die Dienerin der Frau stützte eine noch jüngere Silva Daelvon, die kaum gehen konnte. 

Sie sah anders aus als in der Vision, kurz vor ihrem Tod. Ihre Haare waren kürzer, nur ein wenig länger als meine eigenen jetzt. Dann fiel mir noch etwas auf. 

Ihr Bauch war rund. 

Aber das konnte nicht ich sein. Ich war in der Vision, als meine Mama gestorben war, ein Jahr alt gewesen, dort hatte sie sehr lange Haare gehabt.

Diese Vision war vor viel früherer Zeit. 

Oder ... Ich kniff die Augen zusammen, obwohl ich eh schon nicht mehr in der Kutsche gefesselt lag, sondern schon längst so anders zu sein schien. Nein, ich durfte mir keine falschen Hoffnungen machen. Das durfte ich nicht. Aber ich konnte die Möglichkeit auch nicht ignorieren. 

Oder ... Sie war von späterer Zeit. 

Dann... gab es die Möglichkeit, das meine Mutter noch lebte. 

Es war wahrscheinlich, ergab Sinn. 

Aber ich konnte es nicht glauben. Wenn sie lebte... Warum war ich nicht bei ihr? Warum holte sie sich nicht zu sich? Ich sah wieder zu der Vision die sich vor meinen Augen abspielte. 

„Seit Jahrhunderten haben wir geglaubt, es gäbe nur die silbernen Töchter. Sie waren die mächtigsten, Silber ist es..." 

Ich war auf der Welt gewesen. 

„... Wir hätten nie gedacht, das es noch eine mächtigere Farbtochter geben könnte. Silva, wann wird sie geboren?" 

„Aurelia kommt heute Nacht zu Welt", flüsterte meine Mutter mit schwacher Stimme. 

Aurelia. Dieser Name fühlte sich falsch an. Ich hatte jetzt eine deutliche Vermutung, doch diese zerriss mir fast das Herz. 

Doch ich konnte es nicht leugnen, obwohl ich alles dafür geben würde, das es nicht stimmte:  Weil ich weniger mächtig gewesen war als die goldene Farbtochter, meine kleine Schwester Aurelia, hatte meine Mutter mich weg gegeben. 

Das war der einzige Grund gewesen. 

Nicht weil sie wusste das sie sterben würde, sie lebte. 

Nicht weil sie mich wegen Verfolgern versteckt hatte, damit ich überlebte. 

Nein, weil sie mich nicht haben wollte, da ich nicht mächtig genug war. 

Die Vision brach ab. Ich wollte sterben. 



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top