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"Ich werde sterben. Bringt Silber in Sicherheit", spukte mir dieser Satz immer wieder im Kopf herum. Meine Mutter hatte gewusst, das sie sterben würde? Wie konnte man sein Schicksal vorhersehen? Warum hatte meine Mutter nicht versucht, ihre Zukunft zu ändern, anstatt nur daran zu denken, das ich in Sicherheit war. Wenn meine Mutter noch leben würde, hätte ich so viel mehr Informationen, als jetzt. Warum hatte sie einfach nur mich beschützt ohne eine Sekunde an sich selbst zu denken? War ich nur eine Farbtochter, oder noch etwas anderes, weshalb es die Entführer auf mich und nicht auf Lila oder Orange abgesehen hatten? Was, wenn sich alles als eine Lüge erweisen würde? Wenn mein komplettes, wahres Leben mir vorenthalten wurde?
Ich starrte immer und immer wieder auf den Zettel, den jemand als Lesezeichen und auch als Mittel Nachrichten zu überbringen benutzt hatte. Aber es stand immer noch dasselbe darauf. Das meine Mum wusste, das sie sterben würde und das ich beschützt werden sollte. Aber die Polarwölfe hatten mir doch immer erzählt, das meine Mum an der Klippe abgestürzt war. Hatten sie mich angelogen? Wem konnte ich überhaupt noch trauen?
Ein kaum erträglicher Rausch erklang in meinen Ohren. Immer weiter wurde ich in einen Strudel der Erinnerungen gezogen, meine Beine, meine Arme, meine Augenlider, mein gesamter Körper war wie betäubt. Vor meinen Augen flimmerten Lichter in den verschiedensten Farben und Formen. Manche waren dunkel, manche hell. Der Anblick wäre schön gewesen, hätte das Licht meine Lider nicht schwerer werden lassen. Ein Drang nach Freiheit, Freundschaft, keiner Besonderheit an sich und nach ... Liebe floss durch meinen Körper. Nach irgendjemandem, an dem ich mich festklammern konnte. Aber es war niemand da. Nicht meine Mutter, bei der es sich so anfühlte, als wäre sie wegen mir gestorben. Und auch nicht mein Vater, der meine Mutter allein gelassen hatte, zwar vielleicht noch lebte, aber über den ich nichts wusste und der wahrscheinlich auch nichts mit mir zu tun haben wollte. Der Schmerz wurde schlimmer und schlimmer, meine Augenlider wurden schwerer und schwerer, dann wurde alles schwarz. Ich hörte nur noch aus Entfernung einen Knall, das Buch war mir wahrscheinlich auf den Bauch gefallen. Dann wusste ich gar nichts mehr.
Als ich langsam wieder zu mir kam, knieten Lila und Orange neben mir. Besorgt und die Stirn in Falten gelegt, streichelte Orange meinen Arm. „Irgendwie schaffst du es immer, mehr als ein Mal in der Woche entweder in Ohnmacht zu fallen, deinen Geist frei zu geben, damit ihn jemand kontrollieren kann oder mitten in der Bibliothek zusammen zu brechen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Irgendjemand versucht dich zu kontrollieren. Aber da du sehr ... mächtig bist, können deine Fähigkeiten die dunkle Magie abwehren. Aber diese wird immer stärker und du kannst dich ihr nicht widersetzten. Du schaffst es zwar noch, das sie dich nicht wie eine Marionette kontrolliert, aber du wirst schwächer, weshalb du das Bewusstsein verlierst. Irgendjemand will dich. Ob tot oder lebendig."
Luna war sofort zu Willow gerannt und kam erst einige Minuten später. „Was ist passiert?", fragte Willow ruhig, ihr Ton deutete aber an, wie ernst sie die Lage sah. „Ich habe das hier gefunden", meinte ich mit schwacher, leiser Stimme und reichte Willow den Zettel. Die Heilerin las ihn und das künstliche Lächeln in ihrem Gesicht verschwand. „Silber, komm bitte mit. Ich muss zu Figilius." So ernst hatte ich die freundliche Wild-Hüterin noch nie erlebt. Ich stand auf wackeligen Beinen auf. Eigentlich wollte ich nur in mein Zimmer, mich ins Bett legen und Jahrtausende schlafen. Trotzdem taumelte ich Willow hinterher. Als Lila und Orange, wie selbstverständlich ebenfalls aufstanden um Willow zu folgen und mir beim gehen zu helfen, hielt Miss Mini sie zurück. „Sie muss alleine mit Silber und Herrn von Nelvaron reden, okay?", flötete sie, doch auch die wirkte ernster und strich sich immer wieder eine der bunten Haarsträhnen hinters Ohr. Die Blumen, die ihre Zöpfe zierten, waren eingegangen. Als wäre die Welt nur noch trostlos und leer. Nur noch Dunkelheit und Finsternis. Kein einziger Funken Licht, kein brennendes Feuer, keine Sterne, erst recht kein Mond. Nur endlose Leere. Und mitten drin ich. Ein Mädchen, das bei Polarwölfen aufgewachsen war, nicht wusste, wem sie trauen sollte. Keine Ahnung hatte, wer Freunde und Feinde waren. Ich atmete schneller, schneller und schneller. Da fühlte sich an, als würden wieder tausende Messer, sich in mich rammen, sodass mein Blut auf den Boden tropfte. Meine Hände waren blutverschmiert, mein Geist wurde wieder kontrolliert! Nein, das durfte nicht sein! Ich musste mich dem erbärmlichen Gefühl, zu sterben, widersetzen, dem Gefühl, das niemand da war der mich halten konnte. Meine Arme und Beine schlugen um sich, ich hatte keine Kontrolle mehr! Mein Kehle schnürte sich immer weiter zu, ich bekam keine Luft! Luft! Ich brauchte Luft! Armen! Ich musste atmen! Sonst bedeutete es den Tod. Für mich und alle anderen.
Plötzlich wurde alles um mich wieder klar. Erleichtert stellte ich fest, das ich wieder normal atmen konnte. Die Atemzüge, die ich nahm, war das schönste Gefühl meines Lebens. Vor meinen Augen flimmerte es zwar noch, aber ich konnte wieder richtig sehen. Und sah...
... Gestalten. Schwarze Gestalten. Die selben aus meinem Traum. Wo war ich? Meine Lippen schrien nach Wasser, mein Verstand nach Leben. Nach irgendjemanden der mir helfen konnte. Die dunklen Gestalten lachten, als sie mich verängstigt auf dem Boden kauern sahen. Ich musste so aussehen, als wäre ich völlig nutzlos. Sie hatten mich also doch gefunden. Die Entführer von Jo und den anderen Mädchen, die mir ähnlich sahen. „Ist sie das?" , zischte eine der Gestalten mit kalter, leerer Stimme. „Nein, wieder eine Verwechslung. Der Chef lässt mich hängen!", schnauzte der zweite wütend. Ich sah vorsichtig noch und direkt in seine leuchtend roten, unheimlichen Augen. Ich zuckte zurück. Die dunkle Gestalt lachte gehässig. „Silvas Tochter wäre viel mutiger und selbstbewusster. Halt, wie sie. Stattdessen ist es wieder nur ein dummes Weib, das Silbers Fanclub angehört und sich deshalb eine Haarsträhne silber gefärbt hat. Wie ich Kinder hasse!" Die Sätze die der man den drei anderen Gestalten gegen den Wind entgegenbrüllte, versetzten mir einen Stich. Ich wollte auch so sein, wie meine Mutter. So mutig, hilfsbereit und klug. Ich sollte mich nicht verkriechen und auf meinen Tod warten, bei dem einer dieser Männer mich entweder wieder kontrollierte oder ich wegen beißender Kälte erfror. Wahrscheinlicher war ersteres. Ich versuchte trotz der Kälte aufzustehen und sah tapfer zu den vier schwarzen Gestalten. „Ich bin Silber. Silber Freya Amelia June Daelvon." Ungläubig sah der Mann mich an. „Du?" Er begann schallend, böse zu lachen. „Ja ich", meinte ich ernst. Die anderen schwarzen Kreaturen, von denen ich nicht mal wusste, ob sie magisch begabt waren, blieben stumm. Eines der drei deutete auf die Stelle, ab der meine silberne Strähne war. Sie funkelte nahezu. „Sie ist es ", sagte die eine Person, dessen Stimme eher einer Frau entsprach. Das Lachen des Mannes erstarb.
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