*20. Eine wahre Gryffindor
Ich war absolut sprachlos. Was ziemlich schlecht im Anbetracht der Tatsache war, dass ich eigentlich so tun wollte, als wäre Hailees Theorie absolut absurd. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich erzählte ihr von den Sieben Tagen und müsste in Kauf nehmen, von Dumbledore ins Kreuzverhör genommen zu werden, oder ich ließ mir ganz schnell eine Ausrede einfallen und tischte meiner besten Freundin eine dicke Lüge auf.
Was hielt mich überhaupt davon ab, ihr von den Sieben Tagen zu erzählen? Wäre es nicht vielleicht sogar gut, wenn Dumbledore eingeschaltet werden würde? Mein Bauchgefühl sagte mir trotzdem, dass es keine gute Idee war.
Schließlich war Mulciber irgendwie in die ganze Sache verstrickt und selbst wenn die Sieben Tage mein Ende bedeuteten, ich konnte es nicht verantworten, Hailee zum nächsten Opfer zu machen!
Wer wusste schon, ob Dumbledore überhaupt irgendwas ausrichten konnte? Mulciber, Rosier, Wilkes und Snape von der Schule zu verweisen wäre nun wirklich unmöglich. Dafür besaßen zumindest die Eltern von Mulciber und Rosier viel zu viel Geld und Macht!
„Bitte!", flehte Hailee, „Sag es mir."
Es zerbrach mir mein Herz, sie so zu sehen und ich zeschmetterte es noch weiter, als ich tief Luft holte und sie anlog: „Meine Mum hat meinen Dad betrogen!"
Wirklich, Arlyn? Das ist das beste, das dir einfällt? Hailee starrte mich entgeistert an und sagte kein Wort. Sie kannte meine Eltern und wusste genau, dass sie unzertrennlich waren, weswegen das nicht gerade meine beste Lüge war. Oder vielleicht gerade deswegen die Genialste!
„Sie hat wohl versehentlich den Brief an ihren Gigolo in den falschen Umschlag gepackt, sodass er bei mir angekommen ist", weitete ich meine Lüge aus. Den bitteren Ton musste ich nicht einmal fälschen, so schlecht fühlte ich mich dabei.
Hailee blieb mitten im Korridor stehen. „Merlin, Lynnie!", hauchte sie komplett geschockt. „Du Arme! Wirst du es deinem Dad erzählen?"
Der Moment, in dem ich merkte, dass sie mir meine Lüge abkaufte, war ebenso der Moment, in dem ich realisierte, dass ein kleiner Teil von mir darauf gewartet hatte, dass sie mich anschrie und davonlief. Wenigstens hätte ich beim Letzteren nicht weiter machen müssen!
„Ich weiß nicht einmal, ob ich meine Mum über ihren Fehler aufklären soll."
„Das musst du!", rief Hailee nun bestimmt. „Wie sonst sollst du herausfinden, ob es sich nicht vielleicht nur um ein Missverständnis handelt!"
„Oh, der Brief war sehr eindeutig!", murrte ich. Ich senkte meinen Blick und setzte unseren Weg fort, sodass Hailee sich wohl oder übel ebenfalls in Bewegung setzen musste.
„Aber-", Hailee sprach nicht weiter, denn ihr schien kein Aber einzufallen. Noch nie hatte ich sie derart sprachlos erlebt.
Wir schwiegen eine ganze Weile, was mich traurig stimmte. Wenn wir früher zusammen durch das Schloss gegangen waren, dann hatten wir immer so viel gelacht und geredet. Und nun gab es nur noch ernste Themen, die sich wie Wände zwischen uns auftaten.
Ich überlegte minutenlang, welches Thema ich anschneiden könnte, um die Stimmung aufzulockern, doch mir fiel absolut nichts ein. Ich war auch nicht wirklich in der Stimmung zu lachen. Wenn ich ehrlich war, dann wusste ich bereits, dass ich Hailee durch diese Lüge verloren hatte, nur war sie darüber noch nicht aufgeklärt.
Sobald der Schwindel auffliegen würde, und das würde er zweifellos, könnte ich ihr nie wieder ins Gesicht sehen. Vielleicht würde sie mir sogar verzeihen, sie war nicht umsonst die liebste Person auf Erden, aber ich wusste, dass ich mir selbst nie vergeben könnte.
„Es tut mir so unglaublich Leid für dich", meinte Hailee auf einmal. „Gerade bei deinen Eltern hätte ich es nie für möglich gehalten, dass sie untreu sind."
„Ich auch nicht", erwiderte ich wahrheitsgemäß.
„Gerade das macht es wahrscheinlich auch so schlimm", bemerkte sie seufzend. „Wenn du es in der Ferien nicht bei deiner Familie aushalten solltest, kannst du jederzeit zu mir kommen."
„Danke!"
„Kann ich denn wenigstens irgendwas für dich tun?" Sie klang verzweifelt. Genauso verzweifelt, wie man es von einem Paradebeispiel für eine Hufflepuff erwartete, deren helfenden Hände gebunden waren.
Ich holte einmal tief Luft. „Mir wäre es ganz Lieb, wenn wir nicht darüber reden würden. Ich weiß, dass du nur das Beste meinst, aber mir würde es deutlich besser gehen, wenn wir so tun könnten, als wäre mein Leben wenigstens einigermaßen heile."
„Du kannst nicht alle Probleme in dich hinein fressen, Lynnie!", erwiderte Hailee zu meiner Überraschung. Normalerweise kam sie derartigen Bitten immer nach. Sie verstand, wenn ich nicht über etwas reden wollte und für einen kurzen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, dass ich meinen Kopf bereits aus der Schlinge gezogen hatte.
„Du verstehst es nicht", meinte ich niedergeschlagen, „ich kann momentan absolut nichts gegen diese Probleme ausrichten! Es bringt mir nichts, wenn ich meine Energie darauf verwende, über Dinge nachzudenken, die ich nicht ändern kann."
„Aber du solltest darüber nachdenken!", wies mich Hailee zum ersten Mal leicht wütend zurecht. Ich hatte sie noch nie derart erlebt! „Du entscheidest, wie du mit deinen Problemen umgehst — Ignoranz ist kein Umgang sondern Meiden!"
„Ich ignoriere das ganze Drama nicht, Hailee!", rief ich zurück. „Ich versuche das Beste daraus zu machen!" Mir wurde bewusst, dass ich zu dem Zeitpunkt keineswegs mehr von meinen Eltern sprach, sondern von der Drohung Rosiers. Ich hoffte, dass es Hailee entging.
Tränen bildeten sich in ihren Augen. „Ich will nicht streiten", erwiderte sie mit brüchiger Stimme und mit einem Mal war die ganze Wut wie weggefegt. „Ich mache mir nur Sorgen um dich!"
„Ich weiß", erwiderte ich versöhnlich, „es tut mir Leid." Daraufhin schloss ich sie in eine Umarmung. Sie zitterte ein wenig, doch ihre Tränen versiegten schnell. Als wir uns voneinander lösten, sah sie mich mit einem entschlossenen Blick an.
„Es gibt eine Sache, bei der du immer falsch lagst", sagte sie. Ich war mehr als überrascht und sah sie fragend an. „Du bist eine wahre Gryffindor!"
Entsetzt sah ich meine beste Freundin an. Wie konnte sie nur etwas derart beleidigendes sagen? Ich gehörte nach Hufflepuff, der Sprechende Hut hatte sich geirrt!
„Bitte, lass mich ausreden!", rief Hailee schnell. Sie hatte Angst, mich zu verärgern, dass konnte man ihr klar ansehen. „Weißt du, wir sind alle gar nicht so verschieden und du hast Hufflepuff Eigenschaften, das mag ich gar nicht anzweifeln. Genauso besitzt du Eigenschaften, die Slytherin, Ravenclaw und Gryffindor wertschätzen. Das tun wir alle! Nur verstehst du nicht, dass viele der Eigenschaften von Hufflepuff, ebenfalls Eigenschaften von Gryffindor sind. Ritterlichkeit verlangt, dass du loyal und fair handelst."
Ich starrte sie weiterhin an, doch ich spürte, wie mein Gesichtsausdruck weicher wurde. So langsam verstand ich, worauf sie hinaus wollte.
„Es gibt mehr als vier Schubladen, vergiss das nie. Im Endeffekt sagt dein Haus nicht aus, wer du bist, sondern was du erstrebenswert findest. Du wolltest schon immer Aurorin werden, findest du nicht, dass ist ein großer Hinweis darauf, dass du Mut wertschätzt?", endete Hailee ihre kleine Rede. Ich war noch immer vollkommen baff. Wer hätte gedacht, dass sie sich derart viele Gedanken über dieses Thema gemacht hatte.
„Warum sagst du mir das gerade jetzt?", hörte ich mich selbst fragen.
Hailee seufzte. „Wenn sich alles um dich herum ändert, solltest du wenigstens im Klaren darüber sein, wer du selbst bist!"
Hatte sie einen Philosophen gefrühstückt oder so? Ich erkannte meine beste Freundin kaum wieder. Doch es ergab Sinn. Das war ihre Art und Weise, mir zu helfen. Und sie hatte Recht. Selbstreflexion war wichtiger, als ich jemals hätte zugeben wollen.
„Danke, ich weiß es ehrlich zu schätzen." Ich schenkte Hailee ein Lächeln, doch wir beide schienen zu wissen, dass wir alles gesagt hatten, was wir im Moment zu sagen hatten. Es würde vielleicht eine Weile dauern, bis wie wieder bereit waren, normal weiter zu machen, aber ich war mir sicher, dass unsere Freundschaft stärker denn je sein würde. Zumindest bis sie erfuhr, dass ich sie angelogen hatte und natürlich unter der Voraussetzung, dass ich lebend aus der ganzen Scharade mit Rosier heraus kam.
Wir erreichten das Ende des Korridors und blieben unschlüssig stehen.
„Macht es dir war aus, wenn ich zurück in den Gemeinschaftsraum gehe und lese?", fragte ich an Hailee gewandt. Ich konnte ihren Blick nicht deuten, was bei ihr viel heißen musste. Normalerweise waren ihre Emotionen immer so offensichtlich und es tat mir weh, dass sie gerade in diesem Moment beschlossen hatte, eine Maske aufzusetzen.
„Nur zu", erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Ich überlegte gerade, ob ich nicht vielleicht doch bleiben sollte, als sie sich umdrehte und links in den Korridor einbog. Ich hörte, wie sie erleichtert ausatmete.
Ich sah ihr einen Moment nach, ehe ich in die entgegengesetzte Richtung ging. Vielleicht würde mich das Buch über Animagi auf andere Gedanken bringen. Es war nun wirklich an der Zeit, dass ich es mir genauer ansah.
Wenn ich mich recht erinnerte, hatten wir in der dritten Klasse das Thema Animagus in Verwandlung behandelt. Damals waren fast alle scharf darauf gewesen, diese Fähigkeit zu erlernen, doch Professor McGonagall hatte allen klar gemacht, dass es ein langer Prozess war, bei dem ein kleiner Fehler zu verheerenden Konsequenzen führen konnte. Obwohl, scheinbar hatte sie die Rumtreiber nicht mit ihrer Warnung erreichen können.
Es war kalt und da der Weg bis zum Gemeinschaftsraum noch lang war, beschloss ich, mein Schritttempo deutlich anzuziehen, bis ich schließlich in ein leichtes Joggen verfiel. Mehr konnte ich allerdings nicht auf die Reihe kriegen, da meine Tasche schwer auf meiner Schulter hing.
Kurzerhand schnappte ich mir meinen Zauberstab und ließ meine Schultasche schrumpfen. Grinsend steckte ich sie in die Tasche meines Umhanges und fragt mich insgeheim, warum ich noch nie zuvor auf diese Idee gekommen war.
Ich war ziemlich außer Puste als ich das Treppenhaus erreichte, doch das war mir ziemlich egal. Wenigstens fror ich nicht mehr! Eilig erklomm ich die Stufen, wich einigen Trickstufen aus und stand schließlich vor der Fetten Dame, welche bei meinem Anblick nur die Augen verdrehte.
„Und ich dachte, du hättest vorher schon hässlich ausgesehen. Wusste gar nicht, dass du das noch steigern kannst", pöbelte sie mich gekonnt an. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich nach der kleinen Sporteinlage und, nicht zu vergessen, dem Spaziergang auf dem Dach nicht sonderlich frisch aussah.
„Hey, das denke ich mir auch immer, wenn ich dich sehe. Wir haben so viel gemeinsam", gab ich mit einem falschen Lächeln auf den Lippen zurück. „Wie wäre es also, wenn du mich reinlassen würdest, sodass wir uns beide nicht weiter anschauen müssen?"
Die Fette Dame gab ein schrilles, gekünsteltes Lachen von sich und schwang zur Seite. Irritiert stieg ich durch das Portraitloch. Hatte sie mich gerade tatsächlich durchgelassen, ohne dass ich das Passwort hatte sagen müssen?
Ich schüttelte verwirrt den Kopf und machte mich auf den Weg zum Schwarzen Brett, an dem wie erwartet das Passwort für die nächste Woche hing. Calluna vulgaris. Das hörte sich so an, als wäre es auf Lilys Mist gewachsen. Merlin, dass ich überhaupt wusste, was das war, sagte so einiges über mich aus. Doch mein Vater war nun einmal begeisterte Pfadfinder und hatte mich mit Pflanzenbüchern groß gezogen.
Zwei Erstklässler stellten sich neben mich und schauten mit zusammengekniffenen Augen auf das Schwarze Brett. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, als sie verzweifelt versuchten, sich das Passwort einzuprägen.
„Warte, ich hole Tinte von oben!", rief einer der beiden, als ich mich gerade auf den Weg zu meinem Schlafsaal machte.
Es war niemand da, als ich durch die Tür trat und mich auf mein Bett fallen ließ. Ich zog mir meinen Umhang über den Kopf und tauschte meine Schuhe gegen ein Paar dicke Socken aus, ehe ich es mir bequem machte und das Buch aus meiner Tasche fischte.
Aus irgendeinem Grund war ich aufgeregt. Vielleicht würde ich mir in wenigen Monaten meinen Kindheitstraum erfüllen können! Eine Animaga zu sein, würde mir außerdem mit Sicherheit Pluspunkte in der Auroren-Ausbildung einbringen. Nur durfte ich es nicht versäumen, mich zu registrieren, anders als meine bescheuerten Mitschüler.
Warum Potter und Black nicht einfach eine Eule ans Ministerium hatten schicken können, war mir unklar, schließlich war es an sich nicht illegal, ein Animagus zu werden.
Ich schüttelte alle Gedanken an die beiden ab und wandte mich dem Buch zu. Nach fünf Seiten Einleitung, fing ich an, die Seiten zu überfliegen, bis ich auf Seite 34 den ersten Hinweis fand. Ich verzog das Gesicht. Man musste ein Alraunenblatt monatelang in seinem Mund behalten? Wie bei Merlins Boxershorts sollte das denn bitte funktionieren? Ich konnte doch schlecht über mehrere Monate meine Zahnpflege komplett links liegen lassen!
Doch je länger ich darüber nachdachte, desto machbarer erschien mir dieses Unterfangen. Nur leider gaben die nächsten dreißig Seiten keinen weiteren Anhaltspunkt. Es wurde viel über Grundzüge dieser Magie und dessen Entfaltung gefachsimpelt und das auf einem Niveau, welches meine Schulbücher allesamt in den Schatten stellte.
Beim Weiterlesen erfuhr ich nur, dass man dieses Alraunenblatt von einem Vollmond bis zum nächsten im Mund behalten musste. Wenn der Vollmond bewölkt war, dann musste man bis zum nächsten warten, weil man das Blatt irgendwie im Mondlicht ausspucken musste, oder so. Klang super. Insbesondere, weil ich wahrscheinlich wunderbar in der vorletzten Nacht hätte anfangen können und sich die nächste Möglichkeit frühstens in vier Wochen ergeben würde.
Als das Buch gerade wieder in die antike Geschichte von Animagi eintauchte, stolperte ich über den Namen Severus, der wohl zu irgendeinem römischen Kaiser gehören sollte.
Geschockt klappte ich das Buch zu und sprang aus meinem Bett. Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war vier Uhr am Nachmittag, die Sonne schien gerade untergegangen zu sein und ich musste dringend Snape und seine Komplizen finden, ehe sie Potter einen Streich anhängten!
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