*19. Heldentaten

Mein ganzer Körper zitterte, als ich mich an das Ende des Balkens heran tastete. Ein falscher Schritt und ich würde vom Dach fallen. Der Gedanke, Rosier könnte mich eventuell auffangen, war mehr als naiv. Würde er es versuchen, dann würden wir beide zu Tode stürzen. Mein Leben lag in meinen eigenen Händen!

Ich schob meine Beine den Balken hinunter und fischte nach dem Fensterrahmen unter mir. Es war schwer, ihn zu finden, was meinen Herzschlag ziemlich außer Kontrolle brachte. Ich hatte keine Ahung, wie ich hier sicher runterkommen sollte, weswegen ich einfach mal das tat, was mir am logischten erschien: Ich verlagerte mein Gewicht auf meine Füße und suchte nach der nächsten Stelle, auf die ich treten konnte, welche das Fensterbrett war.

Irgendwie schaffte ich es auf das Dach, zitterte aber noch immer wie verrückt, wobei ich versuchte, mir einzureden, es käme von der Kälte.

Diesmal war es Rosier, der mir den Vortritt überließ und ich streckte einfach die Arme aus und lief los. Einfach nicht darüber nachdenken, das war alles, was man wissen musste. Und tatsächlich schaffte ich es, wobei ich es selbst nicht glauben konnte. Erleichtert stieg ich durch das Fenster zurück in das kleine Turmzimmer, welches leider nicht mehr warm war.

Rosier folgte mir und zusammen machten wir uns auf den Weg, die Treppe hinunter, was wohl ein Fehler war, denn die morschen Stufen gaben unter uns nach und wir fielen einige Meter in die Tiefe. Staub wurde aufgewirbelt, weswegen ich zunächst einmal husten musste.

„Alles in Ordnung bei dir?", fragte ich, nachdem ich mir sicher war, dass meine eigenen Schmerzen nicht von längerer Dauer sein würden. Vage konnte ich Rosier neben mir erkennen, wie er sein Gesicht vor Schmerz verzogen hatte.

„Mehr oder weniger", erwiderte er in einem seltsamen Tonfall. Ich rappelte mich auf und bot ihm meine Hand an, doch er ignorierte sie nur und stand selbst auf, um sich die Treppe genauer anzuschauen. „Es sieht so aus, als hättest du mir zukünftige Ausflüge deutlich erschwert!"

„Tu doch nicht so, als wäre das allein meine Schuld", rief ich wütend und warf ihm einen wütenden Blick zu. Er zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern, weswegen ich keinen Grund mehr sah, mich weiter mit ihm zu unterhalten. Und genau aus diesem Grund drehte ich mich um und stürtzte aus dem Raum.

Es war sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Rosier mir wieder total auf die Nerven ging. Wenigstens hatte ich dieses Mal genug Kontrolle gehabt, um ihn nicht von der Decke baumeln zu lassen, geschweige denn ihn zu verprügeln. Wenigstens machte ich in der Hinsicht Fortschritte!

Und da ich jetzt auch wusste, was mich in vier Tagen erwarten würde, machte ich mich augenblicklich auf den Weg in die Bibliothek um nach Sprüchen zu suchen, die mir in den unterschiedlichsten Situationen das Leben retten könnten. Dazu zählte der Kopfblasenzauber, ein Wärme- und ein Balancezauber, sowie mehrere Sprüche, die im Duell durchaus nützlich sein könnten. Wer wusste schon, was ich in zukünftigen Mutproben noch zu bewältigen hatte? Ich hoffte nur, es involvierte kein Schwimmen im eiskalten Wasser des Sees, aber für den Fall der Fälle war ich auch dafür gewappnet.

Nach der Aktion auf dem Dach, versuchte ich mir vorzustellen, was Rosier sich sonst noch hätte überlegen können, aber mir fiel nicht viel ein. Was in seinem Kopf vorging, war eines der größten Rätsel überhaupt und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte.

Leider dauerte meine Recherche nicht lange, denn schon bald war es Zeit für das Mittagessen, weswegen ich alle Bücher wieder zurück ins Regal stellte und meine Notizen wieder einpackte. Dabei fiel mir das Buch von den Rumtreibern ins Auge und ich erinnerte mich daran, dass ich es eigentlich hatte studieren wollen. Gut, das konnte ich ja immer noch am Nachmittag machen!

Schon als ich die Bibliothek verließ und mehreren Schülern begegnete, spürte ich, dass etwas anders war als sonst. Normalerweise kümmerte es niemanden, wenn ich anwesend war, in gewissem Maße war ich unsichtbar, doch diesmal ließ mich der Gedanke nicht los, dass die anderen über mich tuschelten. Nur hatte ich keine Ahnung warum.

Diesen Eindruck hatte ich auf dem gesamten Weg zur Großen Halle, doch als ich sie betrat, war eindeutig klar, dass irgendwas passiert sein musste, denn es wurde erstaunlich still, als ich eintrat. Viele starrten mich an, während andere wieder anfingen zu tuscheln, was den Lautstärkepegel wieder deutlich anhob. Einige wenige hatten mich entweder nicht bemerkt oder waren nicht in das Geheimnis eingeweiht.

Oh Merlin, bitte lass nicht noch den Rest der Schüler in die Sieben Tage Geschichte eingeweiht sein! Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass es nichts damit zu tun haben konnte, denn so viele Leute würden nicht dichthalten können.

Theorie Nummer zwei ließ mich schaudern: Irgendjemand musste Rosier und mich von der Eulerei aus auf dem Dach gesehen haben!

Panik stieg in mir auf, als ich mich so schnell wie möglich an den Gryffindortisch setzte und mich auf das Essen konzentrierte. So wie es aussah, war ich nun für viele der Schüler nicht mehr ganz so interessant, dafür aber hatte ich das Gefühl, dass die Leute um mich herum umso mehr mit ihren Blicken durchbohrten.

„Hey Arlyn, wie geht's?" Auf einmal spürte ich, wie sich jemand neben mich setzte und ich starrte diesen Jemand vollkommen geschockt an. Ich musste träumen, denn ein Gryffindor hatte mich gerade bei meinem Vornamen genannt. Das kam ja so häufig vor wie der dreißigste Februar!

Benjy Fenwick lachte nur über meinen Gesichtsausdruck und schaufelte sich dabei eine Menge Essen auf den Teller.

„Hast du dich verlaufen?", fragte ich unsicher. Komm schon, welchen guten Grund sollte jemand wie Benjy Fenwick schon haben, um sich beim Mittagessen neben mich zu setzen? Da konnte etwas doch nicht stimmen!

„Nein, eigentlich nicht. Ich wollte dir nämlich zu deiner Heldentat grautlieren." Okay, was hatte ich jetzt schon wieder getan? Hatte die Fette Dame auf einen meiner Kommentare hin einen Herzanfall gehabt, oder wie? Oder war mein auf Dächern laufen aufgeflogen und es war nur eine Frage der Zeit, bis man mich rausschmiss? Wer wusste schon, was meine Mitschüler als eine Heldentat meinerseits empfanden?

„Aber nur unter der Bedingung, dass du mir sagst, was hier los ist", erwiderte ich skeptisch. Ich musterte die Schüler um uns herum, welche alle sehr beschäftigt mit ihrem Essen waren. Etwas zu beschäftigt, wenn man mich fragte!

„Ach, bescheiden bist du auch noch", kam es von Benjy und er wackelte mit den Augenbrauen. Was sollte das werden, wenn es fertig war? „Stewart Quirke hat erzählt, dass du es Lockhart so richtig zusammengefaltet hast!"

„Wer ist den jetzt schon wieder Stewart Quirke?" Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Scheinbar hatte irgendjemand doch noch meine Auseinandersetzung mit Lockhart mitbekommen. Meine Wünsche wurden scheinbar doch erhört. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, als ich an die Situation von gestern dachte.

„Einer von Lockharts Mitschülern. Er meinte, er hätte sich aber hinter einer Rüstung versteckt, weil er wissen wollte, wie du weiter mit Lockhart redest, nachdem du ihn weggeschickt hast", erklärte Benjy grinsend. Ich wendete meinen Kopf, sodass ich einen Blick auf den Ravenclawtisch erhaschen konnte, an welchem ich tatsächlich den kleinen Jungen ausmachen konnte, den ich gestern noch von Lockharts Freundesliste streichen konnte. Er grinste mich von weitem an und hob die Hand, um mir leicht zuzuwinken. Dieses Kind hatte eindeutig mehr drauf, als jeder vermutete. Stewart würde ich mit Sicherheit nie wieder unterschätzen!

Ich wandte meinen Kopf wieder Benjy zu, welcher sich nun ein Stück Hackbraten in den Mund schob, weswegen ich nur mein Gesicht verziehen konnte.

„Es ist erfreulich zu wissen, dass einige Lockhart doch tatsächlich mehr hassen als mich", bemerkte ich trocken und schnitt meine Ofenkartoffel in kleinere Stücke, damit sie schneller abkühlte. Benjy erstarrte in seiner Bewegung, was nicht sonderlich attraktiv aussah. Dafür war es ein lustiger Anblick! Er schluckte sein Essen herunter und sah mich weiterhin fassungslos an.

„Du, Arlyn, bist vollkommen in Ordnung. Niemand hasst dich hier! Lockhart ist eine andere Sache", stellte Benjy klar. Jetzt wurde es langsam aber sicher lustig. Verleumdnung konnte ich auch! Als ob mich alle lieber mochten als Lockhart. Zumindest bei den Slytherins und den Rumtreibern sah das mit Sicherheit ganz anders aus. Und deswegen tat ich auch das, was für mich wie die einzig logische Reaktion erschien: Ich lachte Benjy aus ganzem Herzen aus. Wahrscheinlich war ich deswegen so schlecht im Freundschaften schließen.

„Warum lachst du denn bitte darüber? Arlyn, du bist klug, hübsch und witzig, warum sollte man dich nicht mögen?", komplimentierte er mich weiter und ich spürte langsam aber sicher, wie sich bei mir ein der Brechreiz aufbaute. Ich brauchte keine Schleimer, auf dessen Schleimspuren würde ich sowieso nur ausrutschen und mir womöglich noch das Genick brechen! Dann konnte ich die Mutproben auch gleich vergessen!

„Du hast unnahbar, unerträglich und schrecklich sarkastisch vergessen", kommentierte Black, welcher gerade an uns vorbeilief und sich schließlich auf meiner anderen Seite niederließ. Benjy sah seinen Mitschüler ungläubig an, während mir, um ehrlich zu sein, ein Stein vom Herzen fiel. In der letzten Minute hatte ich eine wichtige Sache über mich selbst gelernt: Ich fand Komplimente seltsam, zumindest wenn sie von jemandem kamen, der weder Hailee noch meine Familie war.

Ich schob mir ruhig meine Gabel in den Mund und versuchte so zu tun, als wäre es ganz normal für mich, zwischen den beiden Jungen zu sitzen. In Wirklichkeit explodierte ich fast innerlich und würde am liebsten beiden nacheinander eins über die Rübe ziehen. Nun gut, man konnte nicht alles haben, wenn man nicht nachsitzen wollte!

„Sirius, was ist denn mit dir los, sonst schmeichelst du Mädchen doch immer", kam es von Benjy. Ich verdrehte nur die Augen und konzentrierte mich darauf, meine Kartoffel so schnell wie möglich aufzuessen, damit ich bald gehen konnte. Wenn die sich stritten, war eine Sache. Wenn sie es taten, wenn ich dazwischen saß, dann war es nicht so angenehm. Aber wenn es dabei mehr oder weniger um mich ging, dann war das absolut inakzeptabel!

Ich hatte nur noch fünf Bissen von meiner Kartoffel übrig, dann konnte ich endlich aufstehen und das Weite suchen, ohne meinen Vorsatz, wieder etwas besser zu essen, zu brechen. Mein Kiefer fühlte sich an, als würde er sich gleich ausrenken, so schnell kaute ich.

„Glaub mir, das waren die schmeichelhaftesten Worte, die ich für sie übrig habe", konterte Black. Eigentlich hätte dieser Hieb sitzen müssen, aber um ehrlich zu sein, war es mir ziemlich egal, was er über mich dachte. Zumindest befand er meinen Sarkasmus als eine positive Eigenschaft — jedenfalls im weitesten Sinne.

„Also mir fallen eine Menge mehr schmeichelhafte Dinge ein!", versuchte Benjy mich zu verteidigen, was mir allerdings eher weniger Recht war. Er war zwar nett und so, aber ich war trotzdem noch älter als er und konnte mich selbst verteidigen.

Ich war mehr als erleichtert, als ich mir endlich das letzte Stück Kartoffel in den Mund schob und erstickte fast, da ich es zu schnell runterschlucken wollte. Als ich das erledigt hatte, kippte ich noch etwas Kürbissaft nach und griff nach meiner Tasche.

„Man sieht sich, Jungs!", verabschiedete ich mich und hastete aus der Großen Halle, wobei mich wieder einmal eine Menge Blicke verfolgten. Benjy fand es also gut, dass ich Lockhart fertiggemacht hatte, aber sahen das wirklich die meisten Schüler genauso oder bedeuteten die ganzen Blicke, dass ich als eine Tyrannin angesehen wurde?

Nun stand ich in der Eingangshalle und hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Eigentlich war der Plan gewesen, wieder zurück in die Bibliothek zu gehen, um meine Recherche fortzuführen, aber aus irgendeinem Grund hatte mich sämtliche Motivation verlassen. An sich hatte ich keine wirkliche Motivation, irgendwas zu tun, weswegen ich einfach nur unentschlossen in der Eingangshalle stand und hoffte, meine Mitschüler konnten mich nicht mehr von der Großen Halle aus sehen.

Doch zu meinem Glück wurde mir meine Entscheidung schnell durch jemanden abgenommen, der mir von hinten auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um und blickte einer strahlenden Hailee ins Gesicht.

„Wir müssen dringend mal wieder etwas mehr Zeit miteinander verbringen!", bemerkte sie. „Ich hoffe, du hast jetzt noch nichts vor?"

Diese Frage war mal wieder so typisch für sie, denn so blöd, wie ich Löcher in die Luft gestarrt hatte, war es doch ziemlich offensichtlich, dass ich nichts zu tun hatte. Deswegen schüttelte ich den Kopf, während sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen schlich.

„Super, dann schlage ich vor, wir laufen einfach ein wenig durchs Schloss?" Mit diesem Vorschlag hatte sie mich augenblicklich überzeugt. Schon seit der ersten Klasse waren wir einfach nur durchs Schloss geirrt, da wir nirgendwo wirklich gut Zeit miteinander verbringen konnten. Dabei hatten wir beide eine Menge Korridore und Geheimgänge kennengelernt. Mittlerweile machten wir dies nur noch selten und wenn, dann meistens nur relativ unspektakuläre Strecke.

„Klingt gut", erwiderte ich und wir setzte uns augenblicklich in Bewegung.

„Also ich habe bemerkt, dass dich viele angestarrt haben und auch, dass das wegen Lockhart war. Er scheint ziemlich verletzt darüber", fing Hailee an zu reden. Natürlich gefiel ihr die Tatsache nicht, dass ich Lockhart meine Meinung gesagt hatte. Sowas tat man ja nicht als gutmütiger Mensch. Wie hieß das nochmal? Wenn du nichts Gutes zu sagen hast, dann sag gar nichts. Irgendwie etwas in der Richtung hatte mein Großvater öfter mal gesagt. Nun gut, es kam nun einmal darauf an, was man unter gut verstand. Ich fand meine Beleidigungen nämlich auch ziemlich gut, also müsste ich ja theoretisch das Richtige gemacht haben, indem ich sie ihm an den Kopf geworfen habe.

„Sein gekränkter Stolz wird sich auch bald wieder erholen, mach dir keine unnötigen Sorgen um ihn", erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass dies nicht das war, was Hailee hören wollte. „Und ich habe auch nicht vor, mich bei ihm zu entschuldigen, falls du darauf hinaus möchtest. Er hat jedes einzelne meiner Worte verdient und ich hoffe, dass ich ihm endlich die Augen öffnen konnte und er sein Leben zum Besseren verändert, auch wenn ich es natürlich stark bezweifle."

„Du hast Recht, vielleicht ist es wirklich gut, dass er zu Ohren bekommt, was er in seinem Leben falsch macht, damit er sich bessern kann", gab Hailee nach, was mich ziemlich erstaunte. „Aber ich denke, du hättest das vielleicht etwas netter machen können. Aber das ist wirklich nur meine Meinung. Ich machte dir keine Vorwürfe!" Und da war auch schon die Hailee, die ich so gut kannte. Wir stiegen eine der Treppen hoch, welche in dem Moment die Richtung wechselte. Das störte uns allerdings herzlich wenig, denn dadurch nahmen wir einfach die Tür, die am Ende der Treppe lag. Es gab nahezu keinen Bereich des Schlosses, der für Schüler verboten war. Und so auch nicht der Korridor, der sich hinter diese Tür verbarg. Wir liefen grob in die Richtung des Krankenflügels.

„Wie geht es dir eigentlich in letzter Zeit?", kam es überraschend von Hailee. Ihr Blick war ernst und sie schien eine ordentliche Antwort zu erwarten was mich verunsichert.

„Gut und dir?" Hailee seufzte.

„Ich meine es ernst! Denkst du, ich merke nicht, dass du in letzter Zeit etwas neben der Spur bist? Erst dachte ich, das wäre nur eine kurze Phase, in der du immer zur falschen Zeit am falschen Ort bist, aber da hast du selbst noch normal gewirkt. Aber jetzt... jetzt habe ich so das Gefühl, dass du etwas weißt, aber mit niemandem darüber reden kannst. Komm schon, Lynnie, ich bin deine beste Freundin!" Lynnie. Diesen Spitznamen benutzte sie nur äußerst selten und es zeigte mir genau, dass sie nun für mich da sein wollte. Nur gab es da leider ein kleines Problem: Sie würde sich unglaubliche Sorgen um mich machen und wahrscheinlich Dumbledore einschalten, wenn ich ihr von den Sieben Tagen erzählen würde.


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