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Alexandra fühlte sich nicht wohl. Jetzt, wo sie sich ihrer Gefühle für Stefan bewusst geworden war, wusste sie erst recht nicht, wie sie sich bei der allmonatlichen Firmenfeier verhalten sollte. Sie hatte sofort wieder ihren Platz an der Bar eingenommen, um nicht aus Versehen an einen Tisch mit Katharina gedrängt zu werden. Doch kaum hatte sie sich gesetzt, bereute sie ihre Entscheidung wieder. Wenn es so lief, wie die Male zuvor, würde Stefan früher oder später auftauchen, um wieder zu versuchen, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und so, wie es im Moment um ihre Gefühle bestellt war, reichte dafür seine bloße Anwesenheit aus.
Zu allem Übel hatte auch noch Matthias signalisiert, dass er heute alleine mit einigen Männern aus der Redaktion trinken wollte. Sie hatte schon eine Weile nichts mehr von ihm über seine Angebetete gehört, doch der entschlossene Gesichtsausdruck, den er heute trug, sagte ihr genug. Er war hier, um sich zu betrinken.
Seufzend schaute sie in ihr eigenes Glas. Entgegen ihrer Regeln hatte sich selbst auch einen Cocktail mit Alkohol gegönnt. Vielleicht würde ihr der Alkohol helfen, den Abend zu überstehen, ohne als nervliches Wrack zu enden. Vielleicht würde er aber auch ihr Verderben bedeuten. Wer wusste das schon?
„Und wieder sitzt Frau Berger alleine an der Bar."
Tief atmete Alexandra ein. Da war er also. Wie reagierte sie normalerweise? Sie bemühte sich, das Rasen ihres Herzes zu ignorieren und nicht rot zu werden. „Und wieder ist Herr Winkler überrascht über diesen Umstand."
Lächelnd setzte er sich auf den Barhocker neben ihr. „Vielleicht verstehe ich es heute etwas besser als zuvor."
„Oh", sagte sie interessiert: „Wie kam es dazu?"
Er nahm einen großzügigen Schluck aus seiner Bierflasche, eher er antwortete: „Seit ich unfreiwillig das Gespräch zwischen Katharina und Chantal mitbekommen habe, muss ich wohl einsehen, dass du mit deiner Einschätzung ihrer Sympathien recht hattest."
Spöttisch gab sie zurück: „Du meinst mit meiner Einschätzung ihrer Antipathien?"
„Ja, richtig", nickte er: „Ich gebe zu, ich bin immer noch ein wenig verwirrt über ihr Verhalten. Sie hat es ja gar nicht nötig, so bissig zu sein."
Desinteressiert zuckte Alex mit den Schultern. „Was weiß ich? Sie kennt mich eben noch von früher. Wir waren ja durchaus mal wirklich gute Freundinnen. Vielleicht hatte sie einfach Angst, dass ich ihr ihre Stellung im Freundeskreis streitig mache. Angriff ist ja immerhin die beste Verteidigung."
„Ich sehe nicht wirklich, wie du ihr die Stellung streitig machen könntest", sagte Stefan, der offenbar noch immer nicht bereit war, das Thema fallen zu lassen.
Ergeben ließ sie sich darauf ein. „Schön. Wenn du mich unbedingt dazu bringen willst, wie eine zickige Frau zu klingen. Wusstest du, dass ich für mein Leben gerne Esports verfolge? Nein, natürlich nicht. Das ist nämlich Katharinas Territorium und ich habe keine Lust, mir ihren Zorn zuzuziehen, wenn ich ihr Alleinstellungsmerkmal zerstöre."
„Ihr Alleinstellungsmerkmal?"
„Sie ist eine süße Frau, nicht wahr?", erklärte Alexandra unwillig: „Macht sich gerne zurecht, die ganze Gothic-Lolita-Sache steht ihr gut. Aber wodurch wird sie wirklich cool? Richtig, durch ihre Leidenschaft für Videospiele. Das ist ihr Ding. Der wahrgewordene Traum vieler Nerds: die gutaussehende Frau, die sich für Games interessiert."
Noch immer schien Stefan nicht zu verstehen, worauf sie hinauswollte: „Und? Mich hat das nie wirklich beeindruckt."
Genervt über sein Unverständnis rollte Alex mit den Augen. „Es geht ja auch nicht um dich direkt, sondern um das Bild, das man so von ihr hat."
„Mmmh, ich weiß nicht", sagte er unbeeindruckt: „Ich finde jetzt nicht, dass du ihr irgendwie ähnlich bist oder sie bedrohst."
Alexandra wusste nicht, was sie von der Aussage halten sollte. Meinte er damit, dass er Katharina auch ohne ihr Interesse für Games bevorzugen würde? Oder dass er generell auf dem Gebiet kein Interesse für sie beide hatte? Unwillig verzog Alex den Mund. Sie hatte wirklich keinen Spaß daran, alles, was er sagte, auf die Goldwaage zu legen, doch sie tat es ganz automatisch, ob sie wollte oder nicht.
„Sag mir lieber", wechselte er unvermittelt das Thema: „Hast du das Buch schon durch?"
Stöhnend legte Alexandra ihren Kopf auf der Theke ab. Sie hatte gehofft, dass er das inzwischen vergessen hatte. Das Schicksal meinte es heute wirklich nicht gut mit ihr.
„Oh", kam es enttäuscht von Stefan: „So schlecht? Oder hast du keine Lust mehr, mit mir drüber zu reden?"
„Nein, nein", beeilte sie sich zu sagen, während sie sich wieder aufrichtete: „Schon gut, alles gut. Ich habe es tatsächlich durch. Es war wirklich gut."
Seine Augen leuchteten auf: „Nicht wahr? Ich finde, es stellt all seine vorigen Werke in den Schatten. Ich habe auch schon meine Rezension verfasst, falls du sie lesen willst, kann ich dir mal den Link schicken."
Enttäuschung machte sich in Alexandra breit. Also hatte er seine Rezension schon geschrieben und brauchte sie nicht mehr für die Kooperation für einen Blog-Artikel. Ihre Laune sank. Er hätte sie besser gar nicht fragen sollen, wenn er so leichtfertig drüber hinwegging.
Sie hätte erleichtert sein sollen. Seit sie sich ihre Gefühle eingestanden hatte, hatte sie darüber nachgedacht, ob sie zu ihm in die Wohnung gehen sollte, ganz alleine. Ob ihr Herz das aushalten würde. Ob sie ihm widerstehen können würde, wenn er erneut versuchen würde, bei ihr zu landen. Es war ein riesiges Labyrinth in ihrem Kopf gewesen und hatte sie stundenlang wach liegen lassen. Und immer wieder war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass es für ihr Herz besser wäre, wenn sie nicht ginge.
Warum war sie jetzt so enttäuscht und fühlte sich beleidigt von ihm? Sie hatte sich wirklich in einen irrationalen Haufen Gefühle verwandelt.
„Äh, ich muss auch nicht", beeilte sich Stefan zu sagen, als sie lange keine Antwort gab und nur traurig vor sich hinstarrte: „Ich dachte nur, das könnte ein guter Ausganspunkt für die Blog-Kooperation sein? Oder willst du das nicht mehr?"
Augenblicklich schlug Alexandras Herz ihr bis zum Hals: „Zusätzlich zur Rezension?"
Ein wissendes Grinsen legte sich auf seine Lippen: „Klar, das war immer der Plan. Warst du jetzt enttäuscht, als ich meinte, dass ich die Rezension fertig habe? Sorry, ich wusste nicht, dass du dich so auf den Nachmittag bei mir gefreut hattest."
Alexandra verlor den Kampf um ihre Gesichtsfarbe endgültig. Hitze stieg in ihre Wangen und sie wusste, sie hatte sich in eine Tomate verwandelt. Stefan konnte nicht wissen, dass sie sich tatsächlich auf den Nachmittag mit ihm gefreut hatte, und noch weniger konnte er wissen, dass sie gleichzeitig panische Angst davor hatte. Aber sein Kommentar wirkte so wissend, so überlegen, dass sie sich unweigerlich fragte, ob er nicht ganz genau wusste, wie es um ihre Gefühle stand.
Sie musste hier weg.
Hilfesuchend drehte sie sich zu dem Tisch mit Matthias um, doch der sah eindeutig nicht so aus, als könnte er heute noch irgendetwas für sie tun. Im Gegenteil.
Schockiert bemerkte sie, dass er inzwischen alleine an dem Tisch saß, eine ganze Reihe von leeren Shotgläsern vor sich, deren Inhalt offensichtlich bereits den Weg in seinen Magen gefunden hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und er war dabei, sich besinnungslos zu trinken.
„Okay, nicht persönlich nehmen, ja?", sagte sie leise zu Stefan: „Aber ich glaube, ich muss zu Matthias."
Sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie war froh, einen guten Grund zu haben, um seiner Nähe zu entfliehen, doch dass es Matthias tatsächlich schlecht ging, gefiel ihr nicht. Geschickt schlängelte sie sich durch die Menschenmenge und nahm neben ihrem Kollegen Platz.
„Hey", flüsterte sie und legte einen Arm um seine Schulter: „Was ist los?"
Mit einer trägen Bewegung drehte er den Kopf zu ihr. „Oh, Alex. Konntest du dich von deinem Geliebten losreißen, um mit einem armen, bemitleidenswerten Mann zu sprechen?"
Sie ließ sich nicht von ihm provozieren. „Red keinen Blödsinn, sondern erzähl mir, was los ist."
„Ich hab einfach keine Chance", wisperte Matthias so leise, dass Alexandra es beinahe nicht gehört hätte: „Sie sieht in mir nur den Frauenheld, der Gefühle nicht ernst nehmen kann. Ich hab es einfach verbockt."
Grimmig stürzte er die klare Flüssigkeit in seinem Glas hinunter. Mitleid stieg in Alexandra auf. Sie konnte nur erahnen, wie es sich für Matthias anfühlen musste. Jahrelang hatte er zufrieden als Single gelebt, hatte immer mal was mit verschiedenen Frauen gehabt und sich nie gescheut, das offen zuzugeben – und nun fiel genau das ihm auf die Füße. Er war, wer er war, und die Frau, die er liebt, konnte ihm deswegen nicht vertrauen.
Sie legte auch ihren anderen Arm um ihn und zog Matthias an sich. Wie ein kleines Kind legte er seinen Kopf auf ihrer Schulter ab, seine großen Hände krallten sich in ihren Rock, und sie spürte, wie er anfing zu weinen. Ihr Herz wurde schwer. Wenn ein erwachsener, stolzer Mann wie Matthias weinte, dann musste es wirklich schlimm um ihn stehen. Vor allem aber hatte er vermutlich deutlich zu viel Alkohol intus.
Sachte löste sie sich von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. „Meinst du nicht, dass es besser ist, wenn du nach Hause gehst? Was willst du hier?"
Er nickte schwach. „Jo. Aber ich glaube nicht, dass ich es noch heim schaffe."
Alexandra zog eine Grimasse, doch sie war entschlossen, ihm zu helfen. Resolut sagte sie: „Komm, ich hole deine Jacke, dann besorgen wir dir ein Taxi."
Während Matthias noch im Sitzen seine Jacke anzog, rief Alexandra einen Taxidienst an. Zu ihrer Erleichterung hatte der gerade zufällig einen Fahrer in der Nähe, so dass sie ohne Wartezeit aufbrechen konnten.
Vorsichtig half sie Matthias aus dem Stuhl. Kaum stand er, wurde beiden klar, dass er nicht in der Lage war, alleine geradeaus zu gehen. Verbissen stählte Alexandra ihren Rücken und legte sich einen seiner Arme um die Schultern. Heute verfluchte sie seinen durchtrainierten Körper, der so viel schwerer war, als sie eigentlich stemmen konnte.
Irgendwie gelang es ihnen, durch die Menschenmenge hinaus aus der Bar zu treten, wo tatsächlich bereits ein Taxi bereit stand. Sie öffnete die Tür zu den Rücksitzen, half Matthias hinein, und kletterte dann selbst auf den Beifahrersitz, ihren Geldbeutel in der Hand.
„Ich weiß, Sie mögen bestimmt keine betrunkenen Gäste", erklärte sie dem Fahrer, „aber ich habe gerade keine andere Wahl. Wenn ich Ihnen die Adresse nenne und Ihnen ein großzügiges Trinkgeld gebe, können Sie dann dafür sorgen, dass er sicher in seiner Wohnung landet?"
Der ältere Mann warf einen Blick nach hinten: „Wird er mir die Karre vollkotzen?"
Unsicher schaute Alexandra zu Matthias: „Er hat schon eine Menge getrunken, aber ich denke, eher nicht."
Für einen Moment noch verharrte der Blick des Taxifahrers auf Matthias, dann nickte er grimmig. Schnell schrieb Alexandra die Adresse von Matthias auf den Zettel, ließ sich den Preis für die Fahrt sagen, und gab dem Fahrer dann das Doppelte. „Hier, das stimmt so. Falls er doch kotzt, hier ist meine Visitenkarte, ich komme dafür auf."
Sie wollte dem Mann gerade die Karte geben, da wurde sie von zwei Händen gepackt und unsanft aus dem Taxi gezogen.
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