13


Mühsam unterdrückte Alexandra ein Gähnen. Es war definitiv eine schlechte Idee gewesen, bis weit nach Mitternacht wach zu bleiben, nur um ihrem Lieblingsteam aus Nordamerika im Auftaktspiel der neuen Saison zusehen zu können. Kaum jemand wusste, dass sie leidenschaftlich die professionelle Szene der Videospiele verfolgte, und dabei so hitzig auf Niederlagen ihrer Lieblingsteams reagieren konnte wie andere beim Fußball. Noch weniger Menschen würden verstehen, was so spannend daran ist, zwei Teams mit jeweils fünf Spielern dabei zuzuschauen, wie sie ein Computerspiel gegeneinander spielten, doch ihr ging es umgekehrt mit Fußball ähnlich: Da rollte doch bloß ein Ball über das Feld und manchmal landete er im Netz.

Als sie mitbekommen hatte, dass Martin sich für dasselbe Spiel interessierte wie sie selbst, hatte Alexandra tatsächlich darüber nachgedacht, ihn mal darauf anzusprechen. Doch kurz darauf hatte sie seine enge Freundschaft zu Kathi bemerkt und direkt das Vorhaben wieder aufgegeben. Katharina würde ihr eh nur unterstellen, sich bei Martin einschleimen zu wollen, ohne ehrlich an Videospielen interessiert zu sein.

Sie gähnte ein weiteres Mal. Es war unverantwortlich und unprofessionell, nur drei Stunden zu schlafen, aber sie hatte das Auftaktspiel einfach live verfolgen müssen. Sie wusste schon jetzt, dass ihre dauerhafte Müdigkeit heute in irgendeinem Unglück enden würde. Sie war dünnhäutig und reizbar, wenn sie hungrig oder müde war.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Alexandra, wie die beiden Ressortleiter gemeinsam ihr Büro verließen. Schnell schaute sie auf die Uhr – war es schon Zeit für die morgendliche Redaktionskonferenz? Doch statt den Weg den Gang hinunter einzuschlagen, steuerten beide zielstrebig auf sie zu. Überrascht richtete Alexandra in ihrem Stuhl weiter auf und versuchte, einen wachen Eindruck zu hinterlassen.

„Guten Morgen", grüßte sie freundlich.

„Guten Morgen. Gut über das Wochenende gekommen?", erkundigte Philipp sich ebenso höflich. Sie nickte nur lächelnd, da ihr klar war, dass es hier nicht um netten Smalltalk gehen würde.

„Um zum Punkt zu kommen", sagte Stefan ohne Übergang: „Wir haben überlegt, ob ich Sie heute ausleihen kann."

Fragend schaute Alexandra zu ihrem direkten Chef: „Ausleihen?"

Etwas ungelenk gestikulierte Philipp mit beiden Händen quer durch den Raum: „Du bist zwar offiziell Bestandteil meines Teams, aber als Volontärin sollst du generell Einblicke in alle Bereiche erhalten, weswegen du nicht so fest eingeplant bist für Termine wie die meisten anderen. Martin hat diese Woche Urlaub und leider hat sich Joana gerade eben krank gemeldet, so dass Stefan in der Politik-Redaktion zwei Leute fehlen."

Sie nickte verstehend: „Klar, kein Problem, ich habe bisher ja sowieso schon den ein oder anderen Artikel für Politik geschrieben."

„Es geht um einen Außentermin", stellte Stefan klar: „Heute findet eine öffentliche Ausschusssitzung statt, die die Pläne für die Umsetzung der Hochschulgesetze darlegen soll. Der Termin ist zu wichtig, als dass ich alleine hingehen kann. Ich will Interviews mit möglichst allen Beteiligten und das geht alleine nicht."

Aufregung ergriff Alexandra: „Ich soll zu so einem wichtigen Termin mit?"

„Wir wissen, dass du noch nicht so viel Erfahrung hast", beruhigte Philipp sie sofort: „Deswegen wird von dir auch vor allem erwartet, dass du vorbereitete Fragen stellst. Kein Druck."

Alle Müdigkeit war vergessen: „Das ist kein Problem. Ich habe bereits in der Vergangenheit an Presseterminen mit Politikern teilgenommen, ich bin mir sicher, ich werde zu eurer Zufriedenheit abliefern können."

„Wunderbar", kam es ungeduldig von Stefan: „Dann packen Sie Ihre Tasche, wir werden die Redaktionskonferenz heute ausfallen lassen, um nicht zu spät zu sein."

Während Philipp sich auf den Weg zur Konferenz machte, packte Alexandra mit zitternden Fingern ihre Tasche. Die Aussicht, dass ihr erster, richtiger Außentermin direkt von so großer Bedeutung sein würde, ließ das Adrenalin durch ihre Adern rauschen. Man traute ihr etwas zu, sonst hätte man sie nicht gefragt.

„Ich bin schon mal unten am Auto, ich warte vor dem Eingang auf dich", informierte Stefan sie. Im Weggehen klopfte er Katharina, die dem Gespräch interessiert gelauscht hatte, auf die Schulter.

Kaum war er außer Hörreichweite, rollte Kathi mit ihrem Stuhl um den Schreibtisch herum: „Gratuliere. Du scheinst ja bleibenden Eindruck bei Philipp hinterlassen zu haben."

Alexandra zwang sich, tief durchzuatmen, ehe sie eine Antwort gab: „Es scheint so, nicht wahr?"

Während sie ihren Mantel anzog, fuhr Katharina fort: „Ich hoffe, Stefan teilt die Einschätzung. Er scheint ja nicht so begeistert von der Aussicht, dich zum Termin mitnehmen zu müssen. Aber da du Philipp offensichtlich irgendwie von dir überzeugt hast, beugt Stefan sich dem Urteil."

Alex verstand augenblicklich, was Katharina mit ihren Worten eigentlich sagen wollte, doch sie würde ihr nicht den Triumph lassen und empört reagieren: „Ja, unglaublich, wie er sich für mich eingesetzt hat. Ohne deine Hilfe hätte ich sicher nicht so schnell gelernt, wie man bei seinen Chefs im Gedächtnis bleibt. Ich danke dir, Katharina, es ist toll, wie du deine Erfahrungen mit mir teilst."

Ohne Katharina noch einmal zu Wort kommen zu lassen, schnappte Alex sich ihre Tasche und eilte davon. Eigentlich war es unter ihrer Würde, sich auf dieser Ebene auf Kathis Sticheleien einzulassen, doch heute hatte sie nicht genug Geduld, um sachlich zu bleiben. Außerdem war es an der Zeit, dass Katharina lernte, dass sie sich nicht alles erlauben konnte. Wenn sie schon so weit ging, ihr zu unterstellen, mit ihrem Ressortleiter ins Bett zu steigen, musste sie aushalten, das mit gleicher Münze zurückzubekommen.

Vor den Fahrstühlen stieß Alexandra beinahe mit Matthias zusammen, der etwas gehetzt wirkte.

„Hey, wo willst du denn hin?", fragte er etwas durch den Wind.

„Der hohe Herr Winkler braucht einen Ersatz für Joana, die krank ist", erklärte sie grinsend: „Und da fiel die Wahl auf mich. Ausschusssitzung."

Die Augen von Matthias wurden groß: „Oho, was für eine Ehre. Pass nur auf, dass er seine Hände bei sich lässt unterwegs."

Lachend schüttelte Alex den Kopf: „Du Spinner. Pass du lieber auf, dass du nicht zu spät zur Konferenz kommst!"

Mit einem Blick auf die Uhr und einem leisen Fluch rannte Matthias davon. Während Alexandra mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, ging ihr auf, dass Matthias in letzter Zeit ziemlich häufig am Montagmorgen zu spät zur Arbeit kam. Sie fragte sich, ob noch immer Frauenprobleme dafür verantwortlich waren.

Vor dem Gebäude angekommen, verschwanden alle Gedanken an Matthias aus ihrem Kopf. Stefans Miene war ernst und das sah Alexandra tatsächlich selten. Schweigend setzte sie sich auf den Beifahrersitz, schnallte sich an und beobachtete, wie Stefan mit routinierten Bewegungen ausparkte.

„Ich werde dich auf dem Weg hin kurz briefen", sagte er, nachdem sie auf die Ringstraße aufgefahren waren, die sie jenseits des dichten Stadtverkehrs auf die andere Seite der Großstadt bringen würde: „Es ist wirklich ärgerlich, dass Joana ausgerechnet heute krank ist. Ich weiß, sie würde sich nicht krank melden, wenn es nicht wirklich was Ernstes wäre, aber ... ach, vergiss es, nicht deine Sorge."

„Wenn es dich beruhigt", erwiderte Alexandra: „Ich habe die bisherige Debatte durchaus verfolgt und kenne die Positionen. So, wie ich das sehe, wird die öffentliche Sitzung heute zu nichts führen. Da liegt ein sehr heißes Eisen im Feuer."

Stefan entspannte sich sichtlich: „Ah, dem Himmel sei Dank. Ich werde selten nervös, aber nach Joanas Anruf heute Morgen ..."

„Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen."

Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. Ganz offensichtlich hatte er befürchtet, dass er mit ihr eine völlig unvorbereitete, beinahe unbrauchbare Begleiterin dabei haben würde. Das war eigentlich schon fast beleidigend, wenn sie daran dachte, wie viele Artikel sie in den letzten Wochen auch für die Politik-Redaktion geschrieben hatte. Sie stützte ihren Ellbogen auf dem Fenster ab und wandte sich zu ihm: „Dachtest du echt, ich hätte keinerlei Ahnung von der Thematik?"

Etwas unschlüssig zuckte er mit den Schultern: „Weiß nicht so genau. Außer Joana habe ich bisher noch keine Frau getroffen, die sich wirklich für Politik interessiert."

„Dann hast du noch nicht die richtigen Frauen getroffen", erwiderte Alexandra trocken: „Oder noch nicht richtig zugehört. Eine Menge Frauen haben durchaus politische Ansichten und verfolgen die Nachrichten in dem Bereich."

„Möglich", gab er ungerührt zurück: „Erzähl mir lieber, wie du die Lage einschätzt."

Nachdenklich blickte Alexandra aus dem Fenster: „Die Frage nach den Arbeitsverträgen von Universitätsangestellten ist ziemlich eng mit guter Lehre verknüpft. Das Credo, dass kurze Verträge auf unterer Ebene zu einem stärkeren Wettbewerb und damit zu besserer Lehre führen, halte ich für Blödsinn. So, wie ich das sehe, ist das auch die Ansicht der Opposition, aber die Regierung will gerne die auf ein Jahr befristeten Verträge durchsetzen. Das Hochschulgesetz unseres Landes gibt da ja extra Spielraum, aber nein, unsere Regierung hört lieber auf die Wirtschaft und denkt, deren Maßstäbe funktionieren an der Uni auch."

Sie scrollte durch ihren Twitter-Account auf der Suche nach einem Tweet eines Oppositionspolitikers, den sie am Morgen zu dem Thema gelesen hatte. Nachdem sie den gefunden hatte, fuhr sie fort: „Wie die Opposition auch richtig sagt: Wir sind ein armes Bundesland und unser Bevölkerungswachstum beruht vor allem auf Studenten, die in unsere großen Städte kommen. Im Herbst ist Landtagswahl, es wäre im Interesse der großen Parteien, ihr Programm auf Studenten auszurichten, indem sie den Spielraum ausreizen und längerfristige Verträge ins Gesetz schreiben. Studenten verstehen den Zusammenhang von guter Lehre und Dozenten, die länger als ein Jahr an der Uni sind. Ich glaube auch, dass gerade die oppositionellen Parteien das Thema sehr groß machen werden. Das Ergebnis der Sitzung heute wird für die nächsten Wochen die Debatte bestimmen."

Ein tiefer Seufzer entfuhr Stefan: „Wer hätte gedacht, dass hinter deiner steifen Fassade so eine engagierte Politikerin steckt."

Verärgert zog Alexandra ihre Augenbrauen zusammen: „Es ist dir offenbar unmöglich, auch nur ein einziges Gespräch mit mir zu führen, ohne darauf rumzuhacken, oder?"

Nach einem kurzen Blick über die Schulter setzte Stefan den Blinker und fuhr ab. An der roten Ampel, die wie ein Tor in das dichte Gedränge des Stadtverkehrs wirkte, drehte er sich zu ihr und erklärte: „Ich versuche nur immer wieder, ein vollständiges Bild von dir zu bekommen, und jedes Mal, wenn du eine neue Seite zeigst, bin ich überrascht."

Die plötzliche Aufmerksamkeit machte Alexandra nervös: „Dann hör vielleicht auf, mich analysieren zu wollen. Das erspart dir vermutlich eine Menge Kopfschmerzen."

„Oh, aber wo wäre der Spaß darin?", gab er ungerührt zurück. Darauf fiel Alexandra nicht viel ein und für den Rest der Fahrt schwiegen sie beide.

Nachdem Stefan den Wagen sicher vor dem Parlamentsgebäude eingeparkt hatte, blickte er auf die Uhr und stöhnte: „Wir sind viel zu früh. Ich hatte nicht damit gerechnet, so gut durchzukommen. Die Sitzung geht erst in einer Stunde los, frühestens eine halbe Stunde vorher können wir unsere Sachen aufbauen."

Alexandras Augen wanderten auf die andere Straßenseite: „Ich könnte noch einen Kaffee vertragen."

„Dann also Kaffee", nickte er.

Obwohl sie sich vehement dagegen wehrte, gelang es Stefan am Ende doch, ihren Kaffee für sie zu bezahlen. Mit finsteren Blicken setzte sie sich an einen Tisch am Fenster und stellte ihren Milchkaffee vor sich ab. Dieser Mann war es offensichtlich nicht gewohnt, dass man nicht tat, was er sagte.

Stefan hingegen schien die Situation wahnsinnig komisch zu finden: „Du stellst dich an wie ein Kind, dem man den Lolli geklaut hat."

Er hatte seine Jacke über den Stuhl gehängt, ehe er sich gesetzt hatte, und rührte nun mit einem breiten Grinsen in seinem Latte Macchiato.

„Hier geht es ums Prinzip!", erklärte Alex stur: „Ich kann meinen Kaffee gerade noch selbst bezahlen. Es ist nett, dass du mich einladen willst, aber wenn ich das ablehne, hast du meine Wünsche zu respektieren."

„Oh, so zornig", lachte Stefan: „Ich erzittere vor Angst."

Alex rollte nur mit den Augen. Sie war ihm nicht wirklich böse, aber sie wollte ihn trotzdem in seine Schranken weisen. Ihr Blick fiel auf seinen Latte Macchiato, der aus einer hellbraunen Flüssigkeit und einer Schaumkrone bestand. Ein teuflisches Grinsen schlich auf ihr Gesicht und sie richtete sich auf: „Weißt du, für einen Mann, der sich so gerne weltgewandt gibt, hast du dich gerade ziemlich blamiert."

Verwirrt hob Stefan eine Augenbraue: „Aha? Womit?"

Sie deutete auf den Strohhalm, der unberührt neben seinem Kaffee lag: „Du hast dir einen Latte Macchiato bestellt, ohne einen Latte Macchiato zu wollen. Dass du nicht weißt, wie man diese Kaffeespezialität trinkt, ist schon echt peinlich."

Schmollend verschränkte er die Arme vor der Brust: „Na, da bin ich jetzt aber gespannt."

Betonte faltete Alexandra die Hände vor sich auf dem Tisch und erklärte dann mit einem ausgewählten Oberlehrertonfall: „Ein Latte Macchiato besteht aus drei, manchmal auch vier Schichten. Du hast unten die warme Milch, gefolgt von einer Schicht purem Espresso, auf der wiederum der Milchschaum ruht. Es wird absichtlich ein Strohhalm serviert, damit du es in der richtigen Reihenfolge trinken kannst: Erst die warme Milch, dann den heißen, bitteren Espresso, und dann löffelst du den süßen Milchschaum aus dem Glas. Es ist Absicht, dass die Schichten getrennt sind, das dient nicht nur der Optik, sondern auch der Art des Trinkens. Als Teil der hippen Großstädter solltest du sowas eigentlich wissen."

„Du machst auch echt aus allem eine Wissenschaft, oder?"

Sie lächelte schief: „Wenn mich jemand nervt, dann ja, mit großer Freude."

„Ich muss mir unbedingt merken, dass das deine Art ist, jemanden zu bestrafen", grummelte er vor sich hin: „Das ist ja nicht zum Aushalten."

Ihr Grinsen wurde noch breiter, während sie mit einer Hand über den Tisch langte, um sie auf seine, die noch den Löffel hielt, zu legen: „Im Gegenteil, du solltest mir danken, dass ich in meiner Güte dieses wichtige Wissen mit dir geteilt habe."

„Und du weißt auch noch, dass du nervst!", stellte er entsetzt fest: „Das wird ja immer schlimmer!"

Unwillkürlich brach sie in lautes Gelächter aus. Sie hatte ihn tatsächlich ein wenig nerven wollen mit ihrer Erklärung, immerhin hatte er sie zuvor auch genervt. Dass er so entspannt darauf reagierte, gefiel ihr sehr gut. Sie wollte gerade ihre Hand wegziehen, da packte er mit seiner anderen Hand ihr Handgelenk und hielt sie auf: „Passen Sie nur auf, Frau Berger. Ich habe auch meine ganz eigene Methode, um Frauen, die mir Kontra geben, zu bekämpfen."

Und damit zog er ihre Hand näher zu sich heran, beugte sich ein wenig hinab und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Die ganze Zeit hielt er dabei Blickkontakt, schaute sie mit einer Intensität an, dass ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter lief. Sie hatte seine warmen Lippen kaum gespürt, doch es war dieser Blick, dieser Ausdruck in seinen Augen, der ihre Knie zum Zittern brachte. Dass sein Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln verzogen war, machte die Situation nur noch schlimmer. Hitze kroch ihr in die Wangen, während sie verzweifelt versuchte, ihre Hand zurückzuerobern.

„Stefan", flüsterte sie atemlos: „Lass bitte meine Hand los."

Doch nichts dergleichen hatte er im Sinn: „Du bist ja ganz rot. Geht es dir gut?"

Wut über die Art, wie sie auf ihn reagierte, stieg in Alexandra auf. Es war unverschämt, wie leicht Stefan sein gutes Aussehen und sein Charme gegen Frauen einsetzen konnte. Vielleicht war sie zu unfair zu Katharina gewesen. Vielleicht war ihre ehemalige Freundin auch einfach nur seinem Charme erlegen und kämpfte nun darum, ihn für sich zu gewinnen, weil sie gar nicht anders konnte.

Abrupt ließ Stefan sie los und lehnte sich zurück. Ein nachdenklicher Ausdruck war in seine Augen getreten, doch worüber auch immer er gerade sinnieren mochte, Alex war einfach nur froh, dass er sie aus seinen Fängen entlassen hatte. Mit rasendem Herzen nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee.

„Weißt du", sagte er schließlich nach einer langen Weile des Schweigens, „ich glaube, es ist gefährlich, dass du diese distanzierte Mauer um dich herum aufgebaut hast."

Tief atmete sie ein. Jetzt kam das wieder. Sie sparte sich eine Antwort, sondern zog nur fragend eine Augenbraue hoch.

Er beugte sich vor und sagte leise: „Du bist immer so professionell. Das ist bewundernswert. Aber sobald es jemandem gelingt, die Mauer einzureißen, bist du völlig schutzlos. So wie jetzt gerade. Deine Gefühle lagen für mich offen zu Tage, wie ein aufgeschlagenes Buch. Das ist gefährlich."

Gegen ihren Willen errötete Alexandra erneut, doch sie war nicht bereit, ihm recht zu geben: „Die Mauer ist für den Arbeitsplatz reserviert. Unter Freunden kann ich durchaus auch offen sein, da müssen keine Mauern eingerissen werden."

Damit hatte er offenbar nicht gerechnet: „Dann sind wir keine Freunde?"

Ungläubig schüttelte sie den Kopf: „Herr Winkler. Sie sind mein Chef. Wie können wir Freunde sein?"

Jetzt war er derjenige, der unwillkürlich lachte: „Du bist echt ... einmalig. Schön, ich gebe mich geschlagen. Ich bin nur dein Chef, nichts weiter."

Schweigend tranken sie beide den letzten Rest ihres Kaffees, dann war es auch schon an der Zeit, zum Parlament hinüber zu gehen, um ihre Mikrophone aufzubauen und sich auf die Ausschusssitzung vor Ort vorzubereiten. Immer wieder schielte Alexandra dabei zu ihrem Chef hinüber. Sie musste zugeben, dass sie die Gespräche mit ihm genoss. Er war intelligent, das wusste sie, aber er war auch in der Lage, ihr Intelligenz zuzugestehen, und das war leider auch in der heutigen Zeit nicht immer selbstverständlich. Gerade als blonde Frau hatte sie doch immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen. Vielleicht war sie zu hart zu ihm gewesen. Unter anderen Umständen, wenn er nicht ein Ressortleiter und sie lediglich Volontärin gewesen wäre, hätte er durchaus ein Freund sein können.

Er war schweigsam, als ob er tatsächlich daran zu knabbern hatte, dass sie ihn nur als ihren Chef sah. Beinahe taten ihr ihre Worte leid, doch Alexandra wusste, es war besser so. Er versuchte sowieso schon viel zu oft, sie mit Flirten und seinem Charme aus der Bahn zu werfen. Es war besser, wenn er von Anfang an seine Grenzen kannte.

***


Die Cafeteria war beinahe leer, als sich Alexandra zusammen mit Stefan zu einem späten Mittagessen setzte. Sie hatten es gerade so noch vor Küchenschluss um halb drei zurück in die Redaktion geschafft, und obwohl sie nun mit dem Artikel für die morgige Ausgabe spät dran waren, hatte Stefan doch darauf bestanden, dass sie zuerst zu Mittag essen sollten.

„Geht es in Ausschusssitzungen immer so zu?", fragte Alexandra, nachdem sie die ersten Bissen von ihrem Fisch gegessen hatte.

Stefan wiegte seinen Kopf: „Nicht immer, aber oft, wenn es um schwierige Themen geht. Politiker sind halt auch nur Menschen, die irgendwann die Geduld verlieren."

„Öffentliche Sitzungen machen das vermutlich auch nicht leichter", stimmte sie zu: „Wenn alle zuschauen und jedes Wort, das man sagt, auf die Waage legen, und dann kommt der Gegner und dreht einem alles um und stellt einen vor der Presse schlecht dar."

Überrascht hob Stefan die Augenbrauen: „Du redest ja gerade so, als würdest du geschlossene Sitzungen bevorzugen."

„Ich kann halt verstehen, dass viel politische Arbeit hinter verschlossener Tür einfacher ist, wenn jeder sich traut, frei heraus zu sagen, was er wirklich denkt", erklärte Alexandra: „Vor der Presse muss sich halt jeder bewusst sein, dass jede Aussage auch ein politisches Statement ist."

Und dann, als ihr einfiel, wo sie waren und in welchem Kontext sie sich bewegten, fügte sie hinzu: „Wir sind übrigens wieder in der Redaktion, Herr Winkler."

Stöhnend ließ der sein Besteck sinken: „Oh, wirklich? Ich dachte, wir hätten das jetzt endgültig mal hinter uns?"

Sie grinste bloß, amüsiert darüber, wie sehr er an dem Siezen zu knabbern hatte: „Habe ich etwa den Eindruck erweckt?"

Er schaute sie böse an: „Warum bin ich da überhaupt so eine Ausnahme? Philipp siezt du ... na schön, siezen Sie doch auch nicht mehr!"

Ihr Grinsen wurde noch breiter: „Philipp traue ich auch genug Professionalität zu, dass er trotz Duzen noch weiß, dass wir Chef und Volontärin sind. Sie müssen mich leider von Ihrer Professionalität noch überzeugen."

Entrüstet beugte Stefan sich vor: „Was? Ich habe doch von Anfang an klargestellt, dass ich Ihre Gründe respektiere, gerade weil ich die Professionalität dahinter verstehe!"

Alexandra ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, kaute gründlich, nahm noch einen Schluck Wasser und wischte sich sorgfältig den Mund ab. Als sie sicher war, dass Stefan gleich explodieren würde, erwiderte sie: „Trotzdem haben Sie seit Tag eins nichts anderes versucht, als mich zum Du überreden zu wollen. Und ich sehe ja, sobald wir die Redaktion verlassen, ist es mit Ihrer Professionalität nicht mehr weit her. Nein, das wirft alles kein gutes Licht auf Sie."

„Sie sind so schwierig", stöhnte er: „Warum müssen immer die intelligentesten Menschen auch gleichzeitig die schwierigsten sein?"

„Oh, welch Lob aus Ihrem Mund!"

Grummelnd widmete Stefan sich seinem Essen. Es bereitete Alexandra insgeheim unglaublich Spaß zu sehen, wie ihr Chef sich abmühte, auf ihre gute Seite zu kommen. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass jemand ihn auf Distanz hielt. Da sie bereits fertig war mit ihrem Essen, beschloss sie, das Spiel noch ein wenig weiter zu treiben. Sie faltete ihre benutzte Serviette zusammen, legte sie säuberlich auf das Tablett und erhob sich dann: „Ich gehe schon mal, damit der Artikel bis morgen noch fertig wird. Ich werde wie besprochen alle wichtigen Zitate transkribieren und Ihnen zukommen lassen."

Sie hatte kaum ihr Tablette in beide Hände genommen, da war Stefan seinerseits aufgestanden, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und blockierte ihr den Weg zur Geschirrrückgabe: „Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, während des Essens aufzustehen?"

Völlig ungerührt gab Alexandra zurück: „Wir befinden uns hier immer noch am Arbeitsplatz. Die Pause diente zur Nahrungsaufnahme, aber es ist noch genug zu tun. Wollen Sie als Chef mich wirklich davon abhalten, meine Arbeit zu tun? Sie werden schließlich am Ende dafür verantwortlich gemacht, wenn der Artikel nicht rechtzeitig für den Druck da ist. Und das nur, weil Sie nicht alleine essen wollen?"

Amüsiert beobachtete sie Stefans Mienenspiel. Offensichtlich wusste er nicht, ob er wütend, beleidigt oder belustigt auf ihre Worte reagieren sollte. Schließlich ließ er seine Arme sinken und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen: „Schön, Sie haben gewonnen, Frau Berger. Was auch immer Sie damit bezwecken, ich gebe mich geschlagen."

Frech grinste sie ihn an: „So ist es brav."

Bevor er die Chance hatte, noch irgendeinen Spruch abzulassen, schlängelte Alexandra sich an ihm vorbei zum Laufband für das Geschirr. Ein merkwürdiges Hochgefühl hatte von ihr Besitz ergriffen und alle Müdigkeit, die sie am Morgen noch verspürt hatte, war wie weggeblasen. Tage wie dieser waren stressig, doch Alexandra konnte innerlich ein aufgeregtes Vibrieren spüren, das ihr deutlich machte, wie sehr sie genau diese Art von Stress liebte. Und dass sie sich Stefan gegenüber erneut hatte durchsetzen können, setzte dem Ganzen noch die Krone auf.



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