Kapitel 64
[Walküre]
~Familie. Das war alles, was ich jemals wollte~
Die Luft wurde von aufgeregtem Gemurmel erfüllt, niemand schien still auf den dünnen Decken, die den Boden bedeckten, sitzen zu können, alle bewegten sich irgendwie. Es waren nur kleine Bewegungen. Manche knackten möglichst leise ihre Finger, anderer kauten an ihren Nägeln herum oder zupften die Nagelhaut drum herum. Manche saßen nicht einmal, sie versuchten aber still an der Wand zu lehnen, ohne das dauerhafte Wippen ihrer Beine mitzubekommen. Es war als würde man in einem Raum voller Hyperaktiver Kinder sitzen, denen man befohlen hatte, still zu sitzen und leise zu sein, denn genau das taten sie nicht.
Cas bekam alles mit. Er erkannte jede Bewegung, auch wenn er sie nur aus seinen Augenwinkeln sehen konnte. Er bemerkte jedes Wort, das über ihn gesprochen wurde. Er spürte jeden besorgen Blick, der auf ihm lag. Cas sah alles.
Doch als Theseus von seinem Stuhl aufstand wurde es ruhig. Vollkommen leise, als wären sie eingefroren. Nichts rührte sich mehr, kein nervöses Murmeln oder unruhige Bewegungen. Alle betrachteten nun Theseus, den Sick Boy.
Epiphanie. Ein Fremdwort für die meisten, aber eigentlich ist die Bedeutung einfach. Jeder hatte schon einmal einen Moment der Epiphanie. Jeder hatte einmal diesen Augenblick, in dem man begann etwas zu begreifen, ein wichtiges Schlüsselelement zu finden und genau zu wissen, wieso etwas war, wie es eben war. Es waren diese Momente, in denen man sich amüsiert gegen die Stirn klatschte und sagte, wie dumm man doch war, weil die Lösung nun logisch erschien.
Diesen Moment hatte Cas gerade. Einen Moment der Epiphanie.
Er sah Theseus, wie er dort stand und alle Blicke einfing. Er sah, wie alle ihm freiwillig zuhörten, weil sie seinen Worten lauschen wollten. Cas sah das Selbstbewusstsein, das von ihm ausging und seinen Mut, seinen eisernen Willen. Casmiel sah alles das, was er sich wünschte zu sein, aber nicht sein konnte. Er war nicht so wie Theseus, er konnte nicht einfach aufstehen und es würde dann auch nicht leise werden. Er müsste etwas sagen, weil alle genau wussten, das es auch die Möglichkeit gab, dass Cas einfach aufstand und ging, weil er sowieso bereits alles wusste. Aber bei Theseus war das anders. Theseus war ein geborener Anführer, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte.
Theseus war der Mann, den dieser Widerstand verdient hatte.
„Es ist viel passiert..." begann er seine nicht vorbereitete Rede und man konnte ihm ansehen, wie unsicher er war, das er Angst vor den folgenden Worten hatte. Aber Theseus wirkte nicht schwach. Er wirkte nur...menschlich.
Cas hatte nie Angst gezeigt. Er hatte immer ein charmantes Lächeln getragen und war herum stolziert als wäre er ein Gott, aber das war er nicht.
„Wir haben eine Zeitreise hinter uns, von der ich mich wohl nie wieder ganz erholen werde," meinte er nur leicht amüsiert und Theseus ließ ein leichtes aber belustigtes Schnauben hören und auch die anderen fingen leicht an zu lächeln.
„Unsere drei Genies, Lorcan, Robb und Alessia sind auf eine unbekannte Mission gegangen und noch nicht wieder zurückgekehrt...Cas ist von den Toten auferstanden und...und wir haben Eirene verloren." Nun verschwanden die amüsierten Gesichtsausdrücke wieder aus den Gesichtern der anderen und die meisten blickten zu Boden.
„Aber wir haben auch Neuigkeiten. Das Haus des Präsidenten wurde in die Luft gejagt und wir haben stark unsere Chaostruppe in Verdacht. Milo hat die Fernsehaufnahmen gesehen, der komplette westliche Teil des Weißen Hauses wurde gesprengt...aber der Präsident lebt" berichtete Theseus und alle waren stumm. Wie konnte ein normaler Mann eine solche Explosion überlebt haben, obwohl die Bombe genau in seinem Arbeitszimmer hochgegangen war?
„Von Alessia, Robb und Lorcan fehlt noch jegliche Spur, aber Milo wird uns auf dem Laufenden halten und die Nachrichten überwachen und aufnehmen" er nickte dem kleinen, vierzehnjährigen Jungen zu, der scheinbar erleichtert war, eine wichtige Aufgabe zu tragen und Casmiel konnte ihn verstehen. Er vergaß all den Schmerz, wenn er etwas zu tun hatte und seine Seele wurde für einen Moment leichter.
„Ich werde den Widerstand leiten bis Cas sich...bis er sich auskuriert hat aber bis dahin können wir leider nicht warten. Wir sind schon viel zu lange hier, die Jäger kommen immer näher und die Lage sieht im Moment nicht gerade rosig aus. Ein Hubschrauber ist zerstört und unsere Späher haben mir mitgeteilt, dass die Jäger es irgendwie geschafft haben, zwei unserer Fluchorte zu finden. Das bedeutet uns bleiben nicht mehr so viele Optionen. Vielleicht haben wir einen Spion unter uns. Es wäre möglich, oder...sie haben Lorcan, Alessia und Robb geschnappt und foltern sie um an Informationen zu gelangen. Einen Kampf können wir nicht riskieren, noch nicht. Wir haben schon jetzt genug Mitglieder verloren und ich will keine weiteren Tote auf diese Liste schreiben. Ich gebe zu, es wirkt hoffnungslos, aber solange wir kämpfen und nicht aufgeben, haben sie uns nicht geschlagen und die Phoenixe bestehen weiter." Fasste er die Lage zusammen und Cas musste zugeben das es schon bessere Zeiten gegeben hatte.
Die Scena holte sie langsam ein, drei Fluchtorte waren zerstört oder nicht mehr besiedelbar. Ihnen gingen die Fluchtmöglichkeiten aus und sie wurden zusammengedrängt wie Ratten in einem Käfig.
„Aber wir müssen auch auf die Sonnenseiten des Lebens sehen. Casmiel ist wieder da und ich bin mir sicher er hat etwas für diesen Fall geplant" versicherte Theseus den anderen nur und da waren sie wieder. Die stechenden Blicke, alle Augenpaare auf Cas gerichtet. Diese neugierigen, interessierten Blicke, dieses Verlangen, nach einem neuen Plan.
Früher hatte er sich in diesen Blicken gesuhlt, hatte sie genossen und sogar gejagt, aber nun wünschte er sich nicht gesehen zu werden. Einfach zu verschwinden.
Aber Casmiel hatte keinen Plan mehr. Er hatte sein Leben immer geplant, doch jetzt galt er eigentlich als tot. Er war nicht mehr am Leben, nicht innerlich. Denn seine Seele schmerzte, sie schmerzte so fest als würde sie immer wieder zerreißen und sich neu bilden, wie die Leber des Prometheus, der jeden Tag aufs Neue auf den Adler wartet, der ihm immer wieder die Leber aus dem Körper reißt und erst am nächsten Abend wieder zurück kommt, wenn die Wunden verheilt sind und Prometheus erneut eine Leber zu entbehren hat.
Er schnaubte amüsiert aus, aber zugleich lag etwas bitteres in seinem Blick, als würde es ihn nicht mehr interessieren ob er überlebte oder nicht.
Zuerst war er so motiviert gewesen etwas zu tun. Er hatte wieder Mut gefasst, eine Aufgabe gehabt. Doch nun kam die Welle des Schmerzes wieder angerollt und überschwemmte ihn erneut, ließ seine Motivation sinken. Eigentlich war er müde. Er wollte sich hinlegen, schlafen. Diese stechenden Kopfschmerzen aus seinen Gedanken verbannen. Er wollte die Stimmen abschalten, die ihm verschiedene Dinge zuflüsterten. Manche sagten ihm, er solle bleiben. Andere schrien ihn an, übertönten die guten Stimmen und sagten ihm, was er sowieso schon wusste. Es waren die unzähligen Lektionen seines Vaters. Die unzähligen Beleidigungen, die niemals endenden Gründe, wieso Casmiel eine Enttäuschung war.
„Ich gehe mich hinlegen. Entschuldigt mich bitte" meinte er nur lustlos und die Menge teilte sich, als er aufstand und in Richtung Schlafsäle ging, als würde er wirklich schlafen gehen. Und das tat er. Denn lieber verlor er die Kontrolle über seinen Körper im Schlaf, wenn er nichts davon mitbekam, als das er sie vollkommen bei Bewusstsein verlor und andere mit ansehen mussten wie er litt.
Eigentlich wollte Theseus zu ihm gehen, ihn trösten und sich um ihn kümmern, aber er hatte wichtigere Dinge zu tun. Er musste sich um seine Familie kümmern und auch wenn sein Herz bei Casmiels Anblick zu schmerzen begann, benutzte er seinen Kopf. Er musste jetzt an seine Familie denken, seine ganze Familie und auch wenn Casmiel ein Teil von dieser war, musste Theseus sich auf den größeren Teil konzentrieren.
Aspen war während der gesamten Ansprache versteckt geblieben. Sie hatte gerade keine Lust auf Aufmerksamkeit, denn irgendwie gelang es ihr jedes Mal, einen Streit anzuzetteln, den sie nicht einmal wollte. Es passierte einfach, weil sie nicht mit Worten umgehen konnte.
Aber jetzt meldete sie sich, denn die lustlosen Blicke in den Gesichtern ihrer Freunde waren nicht gerade das, was Aspen als lustig empfand. Sie wollte das sie wieder lachten, sie zusammen an einem Lagerfeuer sitzen konnten, geklaute Marshmallows grillten und dämliche Geschichten austauschten, wie sie es vor kurzem erst getan hatten. Theseus bemühte sich wirklich, damit die Mitglieder des Widerstandes nicht den Mut verloren. Er tat wirklich alles um Casmiels Zusammenbruch aus den Gedanken seiner Freunde zu verbannen aber sie verschwanden nie wirklich. Diese Bilder...sie waren permanent.
„Ich hätte eine Lösung" meldete sie sich und die verwirrten Blicke, die sie trafen, ließen darauf schließen, das niemand damit gerechnet hatte. Aspen hatte keine andere Reaktion erwartet. Hier galt sie eher als die mutige, toughte Freundin, sogar eine Art Mutterfigur für manche, aber eine wirkliche Anführerin oder auch nur eine Ideenbringerin war sie für gewöhnlich nicht.
Aspen fing gerne Streit an. Sie war impulsiv, temperamentvoll. Sie konnte nicht einfach nur zuhören, wenn jemand Schwachsinn von sich gab und ihre ehrliche und direkte Art machten es auch nicht einfach, die Wahrheit zu versöhnlichen. Sie wollte ihre Familie nicht anlügen, denn genau das, hatte die ihre auseinandergerissen.
„Euer ernst? Nicht nur Cassy und Theseus können denken. Wir alle haben mindestens eine Gehirnzelle, auch wenn wir sie meistens an Thesy geben, ob er sie benutzt um etwas produktives zu erschaffen oder um sich Casmiel wieder oberkörperfrei vorzustellen ist eine andere Sache" meinte sie nur amüsiert und tatsächlich konnte die meisten sich bei diesen Worten kein Prusten verkneifen. Sogar Azrael lächelnde leicht, auch wenn er sich wünschte, Theseus würde sich jemand anderen oberkörperfrei vorstellen...
„Wir alle können etwas zu diesem Widerstand beitragen. Ja, Cas war immer euer Anführer. Er hatte immer seine eigenen Ideen, hörte nur auf seine eigenen Gedanken, aber Theseus ist nicht er. Theseus ist ein tausend Jahre alter Mann mit dem Herzen eines Kindes" meinte sie nur während sie mit ihrer etwas zu ausschweifenden Armgestikulation beinahe zwei weitere Leute des Widerstandes erschlug, die aber mit einem sehr geschockten Gesichtsausdruck noch nach hinten ausweichen konnten.
„Also entschuldige das ich für euch nur die mutige, aufbrausende und direkte Kriegerin bin, die nicht nachdenken kann, aber dennoch habe ich eine Idee, besser gesagt hatten Theon und ich diese Idee. Gerade wollten wir eigentlich zu Theseus gehen, aber da hat diese Besprechung schon angefangen" erklärte sie nur beiläufig und tatsächlich sahen ein paar Leute etwas beschämt zu Boden.
„Ich wäre dir dafür wirklich sehr dankbar, Aspen. Jede Hilfe würde mir recht sein" bedankte sich Theseus schon bei ihr, ohne das er ihren Plan gehört hatte.
„Kein Ding, Thesy. In einer Familie kümmert man sich umeinander, auch wenn ich euch alle gerade von einer Klippe werfen könnte" meinte sie nur leicht lächelnd um die Stimmung zu lockern. Sie mochte diese Anspannung nicht und Gott bewahre Casmiel vor ihr, wenn sie nach dieser Besprechung zu ihm gehen würde, um mit ihm darüber zu sprechen, das er den Widerstand nicht so nach unten ziehen kann.
„Gut. Also. Unterbrecht mich nicht, auch wenn es...ein spezieller Plan ist" sie atmete noch einmal tief durch, aber jetzt musste sie ihnen von ihrem Plan erzählen, „Es gibt noch weitere Widerstände dort draußen und von einem ist mein Bruder der Anführer. Ich weiß, es klingt dumm, weil ich schließlich hier bei euch bin und nicht bei ihm, aber ich verspreche euch, es hat...Gründe" meinte Aspen nur vorsichtig, aber diese Worte trafen nicht so, wie sie es beabsichtigt hatte.
„Es hat seine Gründe?" blaffte Curix sie an. Die junge Frau, mit den schulterlangen, rabenschwarzen Haaren musterte Aspen nur misstrauisch. „Welche Gründe könnte es denn schon haben nicht bei seiner Familie zu sein, deinem Bruder, der auch noch ein Anführer einer Widerstandsorganisation ist, genauso wie diese hier eine ist. Willst du uns nicht erklären was das für onimöse Gründe sind, von denen du da sprichst?" fragte sie nur leicht spöttisch und tatsächlich wurden Waffen gezogen als Curix Aspen mit diesen Forderungen strafte.
„Halt wartet. Ihr könnt nicht wirklich denken das Aspen uns verrät. Sie...sie könnte das nicht" setzte Theseus sich ein und tatsächlich schienen ein paar unsicherer zu werden, aber er ging einfach zu Aspen und stellte sich zu ihr.
„Ich kann nicht glauben das sie wirklich eine Spionin ist" meinte er nur stur und tatsächlich konnte sich die deutlich kleinere Frau ein leichtes aber dankbares Lächeln nicht verkneifen.
„Naja..." mischte sich Kalias ein als er Theseus Aussage hörte, „Sie könnte es schon. Selbst du musst zugeben das Aspen eine hervorragende Kämpferin ist und...wir wissen so gut wie nichts von ihr. Das ist das erste Mal das ich höre, sie hätte einen Bruder. Außerdem...Aspen hat ihre eigene Mutter getötet. Erinnerst du dich nicht an das Ritual?" fragte Kalias und Aspen konnte spüren, das Theseus gerade mit sich selbst kämpfte. Die Aussage von Kalias war schlüssig, sie war nachvollziehbar und wahr. Was konnte Aspen schon dagegen halten?
„Eine Familie" war ihre Antwort und tatsächlich richteten sich alle Blicke auf sie, auch Theseus' Blick, der sie mitleidig aber zugleich neugierig ansah.
„Das war alles was ich jemals wollte und doch nie hatte. Natürlich, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder. Sie alle waren ein Teil meines Lebens aber nicht meine Familie. Casmiel ist zu eurer Überraschung nicht der einzige der nicht gut behandelt wurde. Ich spreche nicht gern darüber, aber gut. Ich wirke auf euch wie eine Spionin, schön. Ich bin es gewohnt meine Familie zu verlieren" waren ihre Worte und sofort wurden die Blicke, die zuvor streng und misstrauisch auf Aspen gelegen hatten, sanft und entschuldigend.
„Entschuldigt mich, aber ich werde meinen Bruder kontaktieren" sagte sie noch schnell bevor sie sich an den Leuten vorbeikämpfte und mit leicht glasigen Augen aus der Höhle ging. Schnelle Schritte, den Blick gen Boden gerichtet und mit wilden Gedanken im Kopf.
Selbst die kältesten, härtesten Mauern konnten brechen. Die wildesten Flüsse konnten sich aus einer dicken Eisdecke befreien und auch die talentiertesten Kämpfer, konnten brechen, unter der Last, die sie langsam zu Boden drückte.
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