Kapitel 63
[Theseus wird Motivationscoach]
~Man hat erst verloren wenn man aufgibt. Aus Fehlern lernt man, aber man kann nur einmal den Fehler begehen, aufzugeben~
Casmiels Zusammenbruch war ein Zeichen. Ein Zeichen für alle, die es mit ansehen mussten.
Es zeigte ihnen einen Abschnitt von Casmiel, den sie niemals erwartet oder für möglich gehalten hatten. Es war einfach nicht möglich. Cas galt als die Legende, den Retter. Er war das Gesicht der Hoffnung aber in seinen Augen konnte man keine Hoffnung mehr sehen. Nur mehr diesen rasenden Schmerz, den er in sich trug.
Alle hatten einen kleinen Geschmack von diesem Schmerz abbekommen, als Casmiel den Schutzwall um sich errichtet hatte, der nur aus seinen Gefühlen bestand. Es war ein Einblick in sein Innerstes, in sein Herz und dieser Einblick gab vielen den Rest. Es war zu viel.
Niemand schien in der Lage gewesen zu sein sich zu bewegen, dieser Schmerz hatte sie eingefroren und tatsächlich hatte es sich so angefühlt, als hätte jemand die Höhle mit einer Eisschicht überzogen. Kalt und ohne jegliches Erbarmen.
Dieser Zusammenbruch war ein Zeichen gewesen, nicht nur für Theseus, der Casmiel davon abgehalten hatte sich wirklich umzubringen. So lange hatten sie gedacht er wäre tot, um genau zu sein vier lange Tage. Es klang zwar nicht atemberaubend viel, schließlich hatten die meisten schon 20 Jahre hinter sich, aber es war, als wäre ein großer Teil der Roten Hand gestorben.
Man sagt immer, nicht der Ort sei das Zuhause, sondern die Leute und wie gut traf diese Aussage auf die Rote Hand. Viele der Mitglieder hatten keine Familie mehr. Manche hatten sie verloren, andere waren verstoßen worden, nicht verstanden und wie Dreck behandelt.
Leute wie Alessia, die von ihren eigenen Eltern wie Dreck behandelt worden waren, weil sie eine Gabe hatten.
Leute wie Robb, die zwar noch Familie hatten, sie aber nicht mehr fanden und vergeblich nach ihnen suchten.
Leute wie Theseus, die nie eine Familie gehabt hatten.
Sie alle hatten ein Zuhause, eine Familie mit der roten Hand gefunden. Manche waren erst ein paar Tage da und schon war ein dickes Band entstanden, weil diese Leute genauso waren wie man selbst. Anders, ausgestoßen und besonders.
Doch diese Familie hatte sich erst aufgebaut und einer war immer da gewesen. Casmiel. Er war das Oberhaupt dieser großen Familie, die immer mehr Mitglieder verlor.
Der Hubschrauberabsturz hatte wieder einige Seelen gekostet und von 74 waren nun noch 61 da, seitdem Theseus dem Widerstand beigetreten war. 13 Tode in den letzten zwölf Tagen.
Darunter auch Corey, ein vierzehnjähriger Junge. Er hatte noch nicht einmal wirklich gelebt und schon wurde es ihm genommen und der älteste unter ihnen war gerade einmal 30 geworden.
Phoenixe wurden in der Regel nicht alt. Sie waren eine junge Generation, eine neue Generation und schon starben sie wieder aus, weil die Menschen Angst vor ihrer neu gewonnen Macht haben. Sie haben Angst vor der Evolution und der natürlichen Selektion. Der Stärkere überlebt.
Aber in diesem Fall waren die Menschen stärker, weil sie gelernt hatten zu überleben während die Phoenixe seid ihrer Geburt gejagt, ermordet und verfolgt wurden.
Casmiels Zusammenbruch war vielleicht zu erwarten gewesen. Er hatte schon so viel durchgemacht, so viele Freunde sterben gesehen und Eirene gab ihm den Rest. Sie hatte ihm nicht das Herz gestohlen, sie hatte es mit ihm geteilt und ihm somit Last von seinen Schultern genommen, doch jetzt war diese Last wieder an ihrem ursprünglichen Platz und Casmiels Herz war sofort wieder zerrissen worden, als wäre es nur ein Stück wertloses Papier.
Jetzt saß Cas in einer Art Gefängnis. Man hatte dicke und gerade Äste dazu erbaut, die aus dem Stein wuchsen, denn eine der Phoenixe hatte die Gabe gehabt, diese Äste wachsen zu lassen, um eine stabile Barriere zu bilden, damit ein Gefangener, wie beispielsweise ein Spion oder ein Jäger, nicht einfach wieder herausspazieren konnte. Aber nun saß ein Freund in dieser Zelle. Nun saß der Anführer des Widerstandes dort und Cas hatte noch nie schrecklicher ausgesehen.
Seine Haare waren dreckig und verfilzt, obwohl er erst drei Tage dort gefangen war. Seine Augen waren rot, leichte Adern waren in diesen zu erkennen, die die Iris umgaben, man konnte tatsächlich seine tiefen Augenringe sehen sowie die angeschwollenen Tränensäcke, der er trug, da er jeden Tag leise weinte und keinen Ton von sich gab. Nur Tränen flossen seine Wangen hinab und trafen auf den Boden.
Sein Mantel hatte Theseus ihm weggenommen. Cas wollte ihn zerreißen, aber Theseus wusste, das Cas diese Tat bereuen würde. Seine Violine, Dolores, gab er ihm auch nicht. Zwar liebte Casmiel diese Violine mehr als alles andere, aber dennoch traute Theseus sich nicht ihm etwas zu geben, das ihn verletzen oder er zerstören könnte.
„Hey, wie geht es dir heute?" fragte Theseus seinen alten Freund nur und Cas zog eine Flasche Whiskey hervor. Theseus hatte den Duft des Alkohols schon zuvor gerochen, Casmiel schaffte es irgendwie immer jemanden zu überzeugen, damit dieser jemand ihm Alkohol besorgte, aber egal wie viel er trank, er würde niemals die Auswirkungen spüren.
„Ich beneide euch alle so" war seine Antwort. Casmiels Stimme war tiefer als sonst, kratziger. Er benutzte sie jetzt zum ersten Mal nachdem er drei Tage lang geschwiegen und zugehört hatte, was Theseus ihm über sein Leben und die Zeitreise erzählt hatte.
Es war wohl ein gutes Zeichen das er seine Stimme wieder benutzte und Theseus musste leicht aber dennoch traurig Lächeln.
Wieso?" fragte er ihn nur ohne Cas wirklich anzusehen. Sie saßen nur da, Seite an Seite, an die kalte Wand der Höhle gelehnt und von hölzernen Gitterstäben getrennt.
„Weil ihr nicht ich seid. Ihr seht nicht aus wie ich, habt nicht denselben Charakter wie ich und ihr teilt euch nicht eure Vergangenheit mit mir. Ihr seid frei, eure Seelen sind rein. Meine...meine existiert nicht mehr" war Casmiels pessimistische Antwort und Theseus schüttelte nur den Kopf, so gut es eben ging, da er diesen in den Nacken gelegt hatte und an der Höhlenwand abstützte.
„Beneide uns nicht dafür wer wir sind oder nicht sind. Glaub mir, auf diesem Thema kenne ich mich aus" sagte Theseus nur leise und leicht lachend, aber es hatte auch etwas bitteres an sich.
Nun legte Cas seinen Kopf auf die Seite und seine dunkelblauen Augen musterten den Mann neben sich. „Was meinst du?" fragte er nur und langsam schienen sich seine Stimmbänder wieder an die Benützung gewöhnen, denn er klang immer mehr wie er selbst. Traurig, gebrochen und leise, aber wenigstens verschwand das Krächzen langsam aus seiner Stimme.
„Naja. Ich habe immer alle für ihre Möglichkeit zu sterben beneidet" auch Theseus legte seinen Kopf in Casmiels Richtung sodass seine dunkelgrünen Augen die von Casmiel trafen.
„Aber jetzt bin ich dankbar. Dankbar, weil ich dich kennenlernen durfte. Aspen, Robb, Azrael, Lorcan, Alessia. All diese besonderen Menschen, auf die ich mich verlassen kann, weil sie meine Familie sind. Sie sind meine einzige Familie die ich jemals hatte aber ich liebe sie mehr als alles andere"
Kurz war es still. Keine unangenehme Stille, nein. Es war eine Pause. Nur zum Nachdenken, um die schwirrenden Gedanken wieder zu ordnen und über diese Worte nachzudenken.
"Und ich meine, du bist das größte Wunder, dass ich jemals treffen durfte, Cassy! Du bist nach vier Tagen einfach zurückgekehrt. Alle dachten du wärst tot, die Welt denkt immer noch, du wärst tot. Aber du hast überlebt! Es ist, als hätten die Götter dich zurückgeholt!" sagte Theseus nur begeistert.
Casmiels Augen hatten den Boden vor sich fixiert. Er starrte ihn intensiv an, als würde er erwarten, diese Stelle könnte ihn jeden Moment anspringen und attackieren.
"Ich war die falsche Person, um von den Toten zurückgebracht zu werden" murmelte er kaum hörbar, doch Theseus passte auf jedes einzelne Wort genau auf.
"Cas. Hör auf. Du bist besonders. Du hast Menschen, die dich lieben. Ich meine, der ganze Widerstand liebt dich-"
"Sie lieben mich nicht, sie brauchen mich nur"
"-ich liebe dich-"
"Du wärst sogar in der Lage ein Monster zu lieben"
"-die gesamte Welt liebt dich-"
"Sie fürchtet mich, hasst mich oder steht auf mich wegen meines Aussehens. Oberflächliche Lügen"
"-deine Familie liebt dich."
Zu dieser Aussage konnte Casmiel nichts sagen. Er blieb einen Moment lang stumm und Theseus dachte, er hätte diese Diskussion gewonnen, bevor Cas seine Lippen zitternd öffnete.
„Ich hatte auch nie eine Familie" stellte Cas fest und so durchbrach er den Schleier des Schweigens wieder. „Ich dachte, ich hätte sie, aber dann haben sie mich verraten. Mein Vater, meine Mutter. Meine Verwandten und...und sogar meine Schwester" Er trank eine Schluck aus der halb leeren Whiskeyflasche und ließ seinen Arm wieder fallen. "Sie haben mich alle verraten. Ausgenutzt. Manipuliert. Und jetzt, da ich meinen Wert verloren habe, haben sie mich weggeworfen. Einfach so."
Theseus schloss kurz seine Augen und schüttelte dabei sanft den Kopf ohne seine Position wirklich zu verändern. „Du hast eine Familie. Du hast diesen Widerstand und diese chaotischen, planlosen und unkoordinierten Menschen werden immer für dich da sein, weil du ihnen etwas bedeutest. Weil du mir etwas bedeutest." Korrigierte Theseus ihn nur und tatsächlich zuckten Casmiels Mundwinkel leicht nach oben.
Er streckte seine Hand durch die Gitterstäbe und legte sie auf Theseus' Wange, die sofort wärmer wurde, obwohl Casmiels Hand eiskalt war.
Sie zitterte, Theseus spürte die leichten Zuckungen deutlich auf seiner Haut, aber statt sie sich genauer anzusehen und zu fragen weshalb Casmiel so zitterte, legte er seine eigene Hand auf die von Cas und lächelte ihn an.
Auch Cas lächelte leicht und er zog Theseus näher an sich heran sodass sich ihre Lippen plötzlich berührten und Casmiel ihn tatsächlich küsste. Es war definitiv ein schöner Kuss, jedenfalls für Theseus, der sich sofort in dieser sanften Berührung verlor, aber etwas fühlte sich nicht richtig an. Es war nicht die kleine Narbe, an Casmiels rechter Unterlippe, die Theseus das erste Mal bemerkte. Es war auch nicht das seltsame Gefühl der Gitterstäbe, die zwischen ihnen lagen, sie aber dennoch nicht störten. Aber Theseus bemerkte etwas und unterbrach diesen Kuss.
Er nahm Casmiels Hand von seiner Wange und legte sie ihm durch die Gitterstäbe zurück auf seinen Oberschenkel. „Nein" war seine einfache Antwort und Cas musterte ihn nur interessiert, als hätte er diese Antwort nicht erwartet.
„Nein? War das nicht genau das was du wolltest?" fragte der attraktive Mann und eigentlich wollte Theseus ihm zustimmen. Es war genau das was er wollte, denn er wollte diesen Mann, der neben ihm in einer kleinen, provisorischen Zelle saß und zuvor noch seine kalte Hand auf seiner Wange gelagert hatte, aber dennoch schüttelte er ruhig den Kopf.
„Nein. Ich will deine Liebe, deine ehrliche Liebe. Ich will das du mich genauso liebst, wie ich dich liebe, aber das tust du nicht. Dieser Kuss ist ein Produkt deines Schmerzes, aber ich werde nicht dein Mittel sein, damit du die Trauer wieder schlucken kannst und alles vergisst. Das ist nämlich der falsche Weg mit einem Verlust umzugehen. Du hast sie geliebt und nicht mich. Aber das ist okay. Aber das hier...das hier ist es nicht" antwortete Theseus nur ruhig, als würde sein Herz gerade nicht abnormal schnell schlagen, als hätte dieser Kuss nicht gerade ein angenehmes Prickeln auf seinen Lippen hinterlassen. Als würde er sich nicht erneut nach diesen Lippen sehnen.
Casmiel nickte nur und sein Blick wanderte wieder zur Decke, weg von Theseus Augen.
„Du hast mich also endlich durchschaut. Juhu" meinte er nur sarkastisch während er erneut einen kräftigen Schluck des Whiskeys nahm und nicht einmal seine Miene verzog.
Normalerweise trug Cas ein charmantes Lächeln wenn er sarkastisch war, aber nicht dieses Mal. Dieses Mal war er ernst, sogar traurig. Seine Augen spiegelten den Schmerz in seinem Herzen wieder und Theseus konnte ihn lesen, wie er jeden Menschen lesen konnte.
„Ich habe dich nicht durchschaut. Du wirkst nun vielleicht wie ein offenes Buch, weil du deine Gefühle zeigst, aber du bist immer noch ein Geheimnis, das wohl niemand jemals lösen wird" antwortete Theseus ihm nur während seine dunkelgrünen Augen in genau beobachteten und jedes noch so kleine Detail aufnahmen.
Casmiel schien diese Antwort einfach zu ignorieren und erwiderte ruhig und entspannt: „Du musst übrigens keine Angst haben. Du liebst mich nicht." Theseus hob überrascht seine Augenbrauen und erneut wanderte Casmiels Blick zu ihm.
„Vielleicht wirke ich nicht besonders empathisch, aber ich kann deine Gefühle nicht nur kontrollieren, sondern auch spüren. Du liebst mich nicht, auch wenn du davon überzeugt bist. Es ist nur...eine Schwärmerei. Nichts weiter. Denn niemand der mich wirklich liebt lebt länger als 24 Stunden. Dann wird er mir gewaltsam entrissen und das Schicksal lässt mich in der Dunkelheit allein zurück. Aber du könntest mir nicht entrissen werden. Das Schicksal ist nicht so fair. Darauf trinke ich" meinte er nur spöttisch und tatsächlich trank er gleich mehrere Schlücke sodass die orange-goldene Flüssigkeit beinahe vollkommen geleert war.
Theseus wollte eigentlich erwidern das er Casmiel wahrhaftig liebte, aber konnte er das wirklich behaupten? Er hatte keine Ahnung von der Liebe und vielleicht war er wirklich nur so begeistert von ihm, das er ihn lieben wollte. Es war möglich und Casmiels Worte ergaben einen Sinn für ihn.
„Du hast unrecht. Mit beidem, davon bin ich überzeugt, aber nur eines kann ich dir wirklich beweisen," sagte er aber und er hob sein T-Shirt an sodass er seine einzige Narbe präsentierte, die Schussverletzung direkt an seinem Herzen.
Casmiels sah die Narbe fasziniert aber zugleich besorgt an und strich mit seinen filigranen Fingern sanft über sie. „Aber...du kannst keine Narben bekommen. Wenn du stirbst wirst du...wiedergeboren" meinte Cas nur und kurz dachte Theseus wirklich er hätte wieder den alten Casmiel an seiner Seite.
„Das dachte ich mir auch, aber als wir flüchteten hat Eira mich mit einer Kugel getroffen und ich bin mit dieser Narbe aufgewacht. Sie verschwindet nicht, nie wieder. Auch wenn ich versuche meine Fähigkeit bewusst einzusetzen, die Narbe bleibt" antwortete Theseus und er kannte diese Verwirrung, die Casmiel gerade fühlte.
„Das bedeutet...sie können dich verletzen und irgendwann auch..." Theseus ließ sein T-Shirt wieder sinken und Cas nahm seine Hand wieder zu sich zurück bevor sein etwas besorgter Blick zu Theseus wanderte und er ihn fragend ansah.
„...töten. Ja. Sie können mich töten und das bedeutet die Prophezeiung würde niemals stattfinden. Die Phoenixe würden verlieren..." sagte Theseus nur unsicher nickend und seine Augen sahen auf den Boden.
„Und die, die man Monster nennt würden gewinnen..." wisperte Cas zu sich selbst. Es war nur ein kleiner Teil dieser Prophezeiung, aber egal was passiert, sie mussten gewinnen. Um jeden Preis und dafür würde Casmiel noch ein letztes Mal kämpfen.
„Theseus. Lass mich bitte raus aus dieser Zelle..." bat Cas seinen Freund ruhig und er stand langsam auf. In ihm kämpften Armeen gegeneinander. Vielleicht sollte er sich wieder hinsetzen und weiterhin versuchen endlich eine Wirkung durch den Alkohol hervorzurufen. Einfach aufgeben und zu Eirene gehen. Alles hinter sich lassen und endlich sterben, wie er es schon seit Jahren wollte.
„Ich muss einen Rat einberufen..." war seine endgültige Antwort und tatsächlich fand sich wieder ein schwachen aber dennoch charmantes Lächeln auf Casmiels Lippen wieder.
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