Kapitel 40
[Lüge und Wahrheit]
Icarus klappte erneut die Kinnlade runter, aber ausnahmsweise nicht, weil Charon ihn begeisterte, sondern weil er ihn verwirrte. Hatte er das gerade wirklich gesagt? War er denn überhaupt gemeint? Was war eigentlich los und wieso musste er in dieses Familiendrama verwickelt werden? Als wäre sein Leben nicht vollgestopft mit diesem Scheiß.
„Warte einmal" er lachte auf, klang dabei aber eher verzweifelt als belustigt. „Nichte?" fragte er erneut und ausnahmsweise ignorierte er den Fehler, das er kein Mädchen war. Er war gerade zu perplex um ihn zu korrigieren, zu geschockt von den Worten, die aus seinem Mund flossen.
Charon nickte nur und sah auf den Tisch aus hellem Holz. „In der Tat. Nichte, oder Neffe. Du bist der Sohn von Casandra , meiner Schwester und somit bist du auch..." er musste gar nicht weiter sprechen, denn Icarus erschreckte sich so fest das er mit dem Stuhl nach hinten kippte und umfiel.
Schnell rappelte er sich auf, stellte den Stuhl wieder hin und ließ sich auf den recht weichen, gepolsterten Sessel zurückfallen. Dann atmete er schwer aus und fuhr sich mit seiner Hand durch die wilden Locken, die seit kurzen erst geschnitten waren, sodass sie gleich wieder über seine Augen fielen.
„Ich...ich bin kein Tripe. Ich bin Icarus" verneinte er nur weiterhin stur. Er konnte einfach nicht glauben, nicht akzeptieren, das er genau zu dieser Familie gehören soll, die er verdammt noch einmal nicht ausstehen konnte. Er hasste die Tripes doch, sie hatten sein ganzes Leben zerstört und es drohte wieder zu passieren wenn diese Worte stimmten, die aus Charons Mund krochen.
„Ich verspreche dir, ich lüge nicht. Nicht wenn die Wahrheit mir nicht schadet und diese Wahrheit schadet mir absolut nicht" schwor Charon und irgendetwas verriet Icarus, das er tatsächlich die Wahrheit sagte. Aber...wieso sollte er ein Tripe sein? Wieso jetzt?
„Sie? Eine Tripe? Niemals. Sie ist definitiv nicht Tante Casandra 's Tochter!" warf Atlas ein, der an die beiden herangetreten war, doch Icarus erkannte Unsicherheit in seiner Stimme und seinen Augen. Er schien aber auch nicht gerade angetan von der Idee, das er Icarus als einen Cousin hätte. Zu viel Enttäuschung in der Familie war wahrscheinlich nicht gesund.
Icarus ignorierte seine Ansage geschickt, aber Charon ging darauf ein. Er schien mit seinem Neffen nicht wirklich zufrieden zu sein, denn sein Lächeln wurde zu einer strengen Miene, die sogar Icarus frösteln ließ, geworden und er durchbohrte Atlas mit seinem Blick.
„Atlas. Du hast recht. Sie ist kein Tripe. Aber er ist es. Und er ist auch nicht Casandras Tochter, sondern ihr Sohn. Wenn du deine Bemerkungen nicht für dich lassen kannst, dann kannst du gehen" korrigierte der ältere Mann seinen Neffen und er sah aus, wie ein verängstigter aber zugleich empörter Welpe, der den Schwanz einzog.
Aber auch Icarus war überrascht und hob die Augenbrauen. Er hatte Charon falsch eingeschätzt.
„Natürlich...Sir" antwortete Atlas nun etwas kleinlaut und Icarus richtete seinen Blick wieder auf Charon, der nun wieder das leichte Lächeln trug. Er sah schon viel weniger...böse aus als zuvor, als er Atlas ermahnt hatte. So mochte Icarus ihn lieber. Ruhig, gelassen.
„Tut mir leid, Icarus. Entschuldige das Verhalten meines Neffen. Wenn ich mir das so ansehe, denke ich das auch die gebrochene Nase von ihm rührt" Icarus nickte nur stumm, er beobachtete lieber diese Unterhaltung und vor allem wie Charon darauf reagieren würde. Gut? Schlecht? Er wusste es nicht.
Der Mann wandte seinen Kopf wieder langsam zu dem Sohn seines Bruders, der sehr nervös aussah und den Blick auf seine polierten Lackschuhe gerichtet hatten, die scheinbar das interessanteste in seinem ganzes Leben war.
„Atlas. Raus hier. Sofort" befahl er mit langsamen, leisen Ton und Atlas sah schnell auf, ließ seinen Unterkiefer nach unten klappen, und schloss ihn wieder. Er erinnerte Icarus an einen Karpfen.
Statt zu sprechen nickte er nur und verließ mit seinen beiden Gefolgsleuten den Raum. Er hatte sich ergeben und Charons Blick ruhte wieder auf Icarus.
„Ich hoffe er hat dir sonst nicht weh getan. Ich sagte zu ihm er solle nicht übertreiben und dich nicht verletzten. Eigentlich wollte ich sowieso das er dich zuerst freundlich fragt, aber Atlas war schon immer eine...wie nennt ihr Jungspunde das noch einmal?" fragte er Icarus, als hätte er nicht gerade seinen eigenen Neffen aus den Raum geschickt.
„Drama Queen?" brachte er kleinlaut hervor und Charon schnippste mit seinen Fingern und zeigte mit einer Fingerpistole auf ihn, als hätte er gerade genau das erfahren, was er wissen musste.
„Genau. Drama Queen. So heißt das" meinte er nur leicht lachend und er machte es sich wieder auf seinem Sessel bequem. Icarus war unsicher was er jetzt tun sollte, schließlich kannte er Charon nicht. Was würde jetzt nur mit Atlas passieren?
Früher hätte er auf den Tot des Mannes gehofft, das Charon diese Frechheit als Beleidigung ansah und ihn bestrafte, aber das war Ketara gewesen. Jetzt hieß er Icarus und mit einem neuen Namen war auch ein neuer Mensch entstanden. Er hatte erkannt das der Tot ein Schlussstrich war. Er hatte so vielen Menschen das Leben beendet und hatte dabei gelächelt. Wenn er jetzt daran dachte würde er am liebsten Kotzen, aber er konnte sich zurückhalten und den schönen Teppich von diesem Unheil bewahren, schließlich blutete er bereits seine gesamte Kleidung voll, seine Nase hatte nicht aufgehört zu bluten und langsam dachte Icarus wirklich, das er daran sterben würde.
Es war sicher nicht gut für seine Psyche, weiterhin zu töten und zu morden, aber es herrschte Krieg. Ein Krieg, in dem es Tote geben musste, weil er sonst niemals enden würde und bisher war Icarus sich nicht sicher, ob Charon nicht auch ein Opfer des Krieges sein musste, damit dieser aufhören konnte ebenso wenig war Icarus sich sicher, ob er es sein würde, der den Tod des Mannes bestimmen musste.
Bisher hatte er noch keinen Grund, diesen Mann zu töten. Er beherrschte zwar ganz Amerika, aber irgendwie waren seine wahren Absichten ihr fremd. Sie hatte noch nie von Charon gehört, nur das er ein sehr einflussreicher Mann war, aber wie einflussreich wusste scheinbar keiner.
Icarus hatte von Casandra, seiner Mutter, gehört, aber nicht das sie eine Tripe war. Sie hatte ihren Nachnamen scheinbar verändert, ihn an den, vom Präsidenten angepasst aber Icarus kannte diesen Namen nicht. Niemand tat das. Er war verschwunden und aus dem Professor, der ein Heilmittel gegen den Frost gefunden hatte, war der Präsident, der die Arenen geschaffen hatte geworden.
Er hätte wohl bei seinen Heilmittel bleiben sollen, den nun war es die Aufgabe von Icarus und all den anderen Phoenixen geworden, einen Krieg zu heilen. Ein Krieg, den dieser Mann begonnen hatte.
Aber nein. Icarus kannte den Nachnamen. Atlas hatte ihn ihr verraten. Wight...Casandra Wight.
Icarus hatte auch von Achill Tripe gehört, die Achilles-Industries waren weltweit bekannt, sie lieferten mehr Gut, als irgendeine andere Firma und vor allem auf Eisen, Gold und Silber hatten sie sich spezialisiert. Das größte Eisenimperium der Welt, hieß es. Er benutzte den Namen eines griechischen Helden, Achilles und irgendwie fand er diesen Begriff für die Familie Tripe mehr als nur passend. Er war wie der gläserner Schuh bei Cinderella, einfach wie angegossen.
Die Tripes waren unsterblich, genauso wie Achilles selbst. Er hatte im Styx, dem Fluss der Unterwelt gebadet und hatte so die Unsterblichkeit erreicht. Der Name Tripe würde niemals sterben, er war einfach zu groß, zu übermächtig und er hatte sich in die Köpfe der Leute gebrannt. Sie waren überall, hatten ihre Kontakte beim Präsidenten, beim Handel und bei so viel mehr noch. Charon war reich, er hatte sein eigenes Imperium aufgebaut, sein eigenes Rom.
Aber wie auch Achilles muss die Familie Tripe eine Schwäche haben. Bei dem griechischen Helden war es die Ferse gewesen, was war es bei Charon Tripe? Was war es bei Achill Tripe und wo war diese Ferse bei Casandra ? Wo war dieser schwache Punkt, der diese perfekte Familie zusammenbrechen lassen würde?
Nein. Icarus durfte nicht daran denken. Er war nun auch ein Tripe. Er, Icarus Tripe. Wie fremd diese beiden Namen zusammen in seinen Ohren hallten und wie gut er doch in diese Familie passte, ohne es gewollt zu haben. Sie alle trugen griechische Namen. Charon, Achill, Casandra. Atlas, Casmiel. Die Familie Tripe hatte einen großen Hang zum Dramatischen und zum Griechischen. Sie schienen es zu lieben sich selbst mit den Namen griechischer Helden zu schmücken, das war gewiss und wieso auch nicht? Icarus hatte nichts anderes getan.
Er hatte seinen Namen in Icarus verändert, der zwar nicht als Held galt aber als der Neffe von Dädalus, einem grandiosen Erfinder der damaligen Zeit, der das Labyrinth von König Minos, in dem der Minotaurus gehaust hatte, erbaut hat. Er hatte auch Flügel konstruiert mit denen sie aus dem Labyrinth fliehen konnten, aber Icarus wollte zu viel. Er war zu nahe an die Sonne geflogen und das Wachs, das die Federn zusammengehalten hatte, war geschmolzen sodass er in den Wellen des darunterliegenden Meeres verschwand. So hatte Dädalus seinen Neffen verloren, seinen einzigen Neffen.
Wegen dieser Geschichte, hatte Icarus diesen Namen angenommen. Er war geflogen, hatte aber zu viel gewollt. Er wollte der erste Platz der Arena bleiben, ganz oben gen Himmel fliegen, aber er war zu weit oben gewesen. Er hatte die Sonne gestreift und seine Flügel waren verbrannt. Kyros hatte sie ihm genommen. Er hatte ihm alles genommen und nun drohte er zu stürzen und in den Wellen des Meeres zu versinken, aber nicht er. Nicht Icarus. Er würde neue Flügel finden und erneut gen Himmel fliegen. Dieses Mal würde er die Sonne jedoch nicht streifen. Dieses Mal würde er die Sonne sein, die jeden anderen verbrannte, der ihm zu nahe kam.
„Icarus. Hast du schon die Nachrichten heute Morgen gesehen?" fragte Charon dann und so riss er ihn aus seinen Gedanken, die sich einzig und allein um die Familie Tripe drehten, wie ein Schwarm Wespen, die einen Feind vertreiben wollten.
Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Ich bin gleich nachdem ich aufgestanden bin in den Supermarkt gegangen um den Einkauf zu erledigen. Wieso?" fragte er nach. Das war die Wahrheit. Kalea hatte die Nachrichten gesehen, aber nicht er. Er hatte heute die Aufgabe gehabt, die Einkäufe zu erledigen.
Charon nickte und sein Lächeln war wie aus seinem markanten Gesicht gewischt. Er nickte leicht, sein Blick ging an Icarus vorbei und fixierten den Boden. „Ja...ich habe durch sie erfahren das mein einziger Sohn tot ist" berichtete er und sogar Icarus konnte hören, wie verbittert er über diese Nachricht war. Seine Augen waren gefüllt mit Trauer und noch irgendetwas...aber was war es?
„Das tut mir leid. Ich kannte Casmiel nicht gut, aber er hat glücklich gewirkt..." meinte Icarus nur mitleidig. Der alte Mann hatte wohl schon viel hinter sich, das sah sie in seinen nun ehrlichen Augen, die nicht mehr so sorglos und ruhig wirkten wie zuvor. Eher...chaotisch, wild. Als würde er nicht wissen, wie er dieses Chaos aus seinem Kopf beseitigen sollte.
„Ich kenne meinen Sohn gut. Er war bestimmt ein großer Mann und er hat so viel erreicht auch wenn es nicht immer gut war, was er getan hatte. Aber anstatt das sie mir ihr Mitleid ausdrücken, erzählen sie lügen über mich" knurrte er nur bedrohlich leise und Icarus bohrte seine Nägel in das Holz seiner Armlehnen. Das Chaos war noch immer in seinen Augen zu sehen, deutlich. Er war traurig und diese Trauer wandelte er in Wut um. Ein typischer Fehler der Menschen, die mit Schmerz nicht umgehen konnten oder wollten.
„Sie haben tatsächlich erzählt ich würde ihm Schmerzen zufügen, meinem eigenen Sohn. Sie erzählten ich hätte etwas gegen seine sexuelle Orientierung gehabt, doch das sind alles Lügen aber wer würde mir schon glauben. Laut ihnen habe ich meine eigenen Kinder in diese Arena gesteckt und doch konnte ich nie dabei zusehen, wie sie verletzt wurden. Ich habe sie da nicht rein gelassen. Ich habe Cassiopeia und Casmiel doch geliebt wie ein Vater seine beiden Kinder eben lieben kann und sie verwenden seinen Tod. Sie feiern sogar seine Mörderin, die verdammte Leiterin der Scena.
Elladora McCoy" waren seine weiteren Worte und kurz schaltete Icarus sein Gehirn aus. Er vertraute dem Mann vor sich. Er vertraute seinen Augen, die Bände über seine Gefühle sprachen. Er vertraute seinen Worten, die einfach der Wahrheit entsprechen mussten. Er vertraute diesem Mann.
Elladora McCoy. Die Leiterin. Ihr Name. Icarus hatte versucht herauszufinden wie sie wirklich hieß und jetzt lag die Antwort vor ihren Augen. Elladora McCoy. Ein schöner Name, zugegeben. Aber einer, der nicht zu diesen kalten, hellgrauen Augen passte, die ihr so lange etwas vorgelogen hatten.
Man sollte denken Icarus würde langsam wissen, wann er angelogen wurde. Schließlich bestand sein ganzes Leben aus diesen kleinen Worten, die alles verändern konnten. Aber er wollte nicht wissen wenn ihn jemand anlog. Er wollte diesen Menschen vertrauen schenken und so auch seinem Onkel, der genau wusste wie viel Lüge in der Wahrheit stecken musste, um sie glaubwürdig zu machen. Er wusste genau welche Worte man verwenden musste, welche Taten zuvor getan werden mussten, damit man einen Menschen dort traf, wo es richtig weh tat. Im Herzen.
Es war sein Beruf Menschen zu manipulieren und bei Icarus war es noch leichter als erwartet. Er wollte ihm vertrauen und das war seine Schwäche. Er wollte das Gute in jedem Menschen sehen und Charon hatte ihm das Gute direkt vor die Augen gelegt nur um das Schlechte in zu verstecken. Er hatte Icarus nun in seiner Hand.
Gewalt war die Waffe der Dummen, aber Charon war alles andere als dumm. Er beherrschte die Macht der Worte, die Waffe der Intelligenz. Die Waffe der Tripes.
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