Kapitel 39

[Mors animarum]

Casmiel ging nervös in der steinigen Höhle herum. Er war unruhig, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und es fühlte sich so an, als könnte er nicht mehr richtig atmen, als wäre ein Kloß in seinen Atemwegen gefangen, so wie er in der Gegenwart gefangen war.

Er wartete auf Isayas Erwachen, er wollte endlich antworten auf seine vielen Fragen, die ihn beunruhigten und auf seine Gedanken einstachen. Er hatte stechende Kopfschmerzen und wollte das diese Fragen endlich verbannt wurden, bevor er sich noch freiwillig hinlegte und schlafen ging, er wollte diesem Schmerz entgehen, die ihn zwangen nachzudenken obwohl sein Kopf sich dagegen wehrte. Er wollte seine Last endlich verlieren und Cassiopeia wieder sehen.

„Also..." meldete sich Eirene zu Wort, die Isaya sofort angenommen und geheilt hatte, aufgewacht war sie jedoch nicht, da ihr die Energie noch immer fehlte. „Du...du hast deine tote Schwester gesehen weil Isaya mit Geistern sprechen und sie auch gestaltlich machen kann?" fragte sie erneut nach. Sie war ziemlich blass geworden als Cas mit einer leblosen Isaya auf den Armen zu ihr gekommen war, mit verwuschelten Haaren und dezent feuchten Augen, die er nicht vollkommen von seinen Tränen befreien hatte können und einem gestressten Gesichtsausruck.

Er nickte stumm. Zu mehr schien er nicht in der Lage zu sein, das war alles so viel. Zehn Jahre lang hatte er gedacht er würde seine Schwester nie wieder sehen. Er hatte den Schmerz tief in seinem Herz versteckt, niemanden ran gelassen und er hatte sich verändert.

Er war zwar schon immer ein seltsames Kind gewesen, das mehr einem Erwachsenen geähnelt hatte, aber dennoch hatte er noch ehrlich gelächelt.

Er war nicht immer so perfekt gewesen, wie er es jetzt war, im Gegenteil. Das charmante Lächeln, das er so gut wie immer trug, war antrainiert. Er war stundenlang vor dem Spiegel gestanden und hatte gelächelt bis es vollkommen perfekt war. Bis er so unantastbar ausgesehen hatte, wie er es bis heute noch tat.

Er hatte seine Haare nicht immer so fest und gut gebunden. Er hatte sie schon immer etwas länger gehalten, lange Haare hatten ihm immer besser gefallen als diese strengen Kurzhaarfrisuren, die sein Onkel immer getragen hatte, aber er hatte sie nicht immer zusammengebunden. Erst ab dem Moment, an dem sein Vater befohlen hatte, er müsse sie immer binden damit sein Onkel Achill ihn nicht an ihnen ziehen würde, da dieser der Meinung war, es wäre nicht männlich und somit eines Tripes unwürdig.

Aber Cas war nie wirklich männlich gewesen, in diesem Sinne. Er hatte es geliebt eine Modenschau mit seiner Schwester zu veranstalten und sogar ihre Röcke und Kleider anzuziehen. Er war es immer gewesen, der sogar besser auf hohen Schuhen gehen konnte als Cassiopeia, obwohl ihre Mutter wollte, das sie es perfekt konnte. Sie hatte es nie richtig gelernt und auch nie gekonnt. Lieber war sie barfuß durch das Haus gelaufen und hatte sich an die Bediensteten angeschlichen um sie zu erschrecken, das konnte sie immer gut.

Er hatte auch immer die Violine gespielt, während Cassiopeia gerne auf dem Klavier geklimpert hatte, doch leider haben diese lustigen Musikstunden bald geendet, nachdem ihr Vater es verboten hatte.

„Das tut mir so leid, Cas. Ich weiß..." weiter kam Eirene nicht, denn seine dunkelblauen Augen richteten sich auf sie und durchbohrten sie mit einem kalten Blick, als würden Eiszapfen sich durch ihre Brust bohren.

„Nein, Eirene. Du weißt nicht wie es ist und du wirst es auch niemals wissen. Ich und Cassiopeia waren keine Geschwister, wir waren Seelenverwandte und sie ist tot. Also sag mir, wieso bin ich nicht tot? Wieso lebe ist während sie nicht mehr hier sein darf, bei mir? Wieso kann sie mir nicht helfen wenn ich es am meisten brauche? Sag einfach nichts, was du nicht wissen kannst. Und vertrau mir wenn ich dir sage, das du nicht weißt wie ich mich fühle" zischte er etwas missbilligender als beabsichtigt, doch er bemerkte nicht wie sehr diese Worte ihr weh taten. Er war selbst zu sehr von dem Schmerz erfüllt, der der Verlust eines Seelenverwandten eben brachte.

Es war ein Schmerz, den man nicht beschreiben konnte. Er war so groß, schmerzte so tief, das man es nur erleben konnte, nicht erkennen. Niemand würde jemals verstehen wie es war, die bessere Hälfte zu verlieren. Man fühlte sich unvollkommen, allein gelassen. Als würde eine eigene kleine Welt vor den eigenen Augen zerbrechen und man konnte nur dabei zusehen, wie man selbst immer mehr zerbrach, wie eine Hälfte einfach verschwand und dieser Teil leer gelassen wurde. Nach einem solchen Ereignis war es sehr selten das man weiter machte. Es war sehr selten das man selbst noch lebte, außer man hatte eine Aufgabe, ein Versprechen das einen am Leben erhielt. Etwas, das man seinem Seelenverwandten versprochen hatte damit man endlich zu den Toten gehen konnte und sich wieder sehen durfte. Casmiel hatte ein solches Versprechen gemacht und es war das einzige, das ihn am Leben erhielt. Er hatte versprochen alles ins Chaos zu stürzen und die Welt brennen zu sehen.

„Aber es gibt doch noch viel mehr Menschen die dich lieben..." er unterbrach Eirene erneut, die aber dennoch ruhig blieb. Es war eine schwierige Situation und Cas brauchte eben seine Zeit um zu heilen. Eine alte Wunde war wieder aufgerissen worden, eine Wunde die nie wirklich die Chance gehabt hatte sich zu schließen, weil Cas sie immer wieder aufgekratzt hatte.

Denn nur weil man eine Wunde gekonnt ignoriert, bedeutet das nicht, dass man ihre die Chance gibt zu heilen, sich selbst zu reparieren.

„Nein, Eirene. Ich danke dir, das du versuchst mich aufzuheitern, aber du verstehst es nicht" sein Blick wurde glasig, er fixierte einen Punkt in der Ferne, eine unbekannte Welt, die nur er sehen konnte weil sie nur in seinen komplexen Gedanken existierte.

„Liebe ist nicht gleich Seelenverwandtschaft. Jeder denkt das es die wahre Liebe sein muss, doch das ist nicht richtig. Ja, ich habe meine Schwester geliebt, aber nicht so wie ich einen anderen Menschen lieben kann. Ich habe sie geliebt, wie Geschwister sich eben lieben können. Wir konnten immer in das Herz, den tiefsten Fleck der Seele sehen und wussten wenn etwas nicht in Ordnung war. Wir haben gespürt wenn der andere in Gefahr war, wir wussten wenn wir uns näher kamen und wir konnten die Sätze des jeweils anderen beenden, weil wir mehr waren als einfache Geschwister. Nicht im sexuellen Sinne. Wir waren eine Seele. Eine Person. Wir waren unterschiedlich und doch so gleich, weil wir wussten wie der andere sich fühlte. Wir hatten sogar dieselbe Fähigkeit" erklärte er und seine Stimme war leise geworden. Eirene konnte seinen Worten gerade noch so folgen, ohne näher hinzuhören.

Sein leerer Blick machte sie traurig. Sie wollte Cas nicht so sehen, so leer und mit Tränen in den Augen. Sie wollte ihren Anführer sehen, der herumsprang und andere Dumm nannte weil sie einfach nicht so dachte wie er es tat. Sie wollte seine arroganten Sprüche hören, seine dummen Kommentare wenn Jason einmal wieder den Helden spielte. Sie wollte Casmiel Tripe, ihren Casmiel Tripe.

„Ich...es tut mir so leid" hauchte sie leise. Ihre Stimme war versagt, seine Worte hatten sie traurig gemacht. Nicht weil er das falsche gesagt hatte, im Gegenteil. Er hatte genau das richtige gesagt und Eirenes Empathie brachte sie dazu, genau zu fühlen war er meinte, wie dieser Schmerz in ihrer Brust stach, wie seine Worte zuvor. Nein, viel schlimmer.

„Du kannst nichts dafür. Es ist alles meine Schuld" meinte er nur, wobei er den letzten Satz ganz leise murmelte, sodass sie es nicht hören konnte. Er sprach so leise, das sie nur ein leises Wispern hören konnte, das sie aber nicht verstand. Es war eine Nachricht nur für ihn selbst. Eine Nachricht, die nur ihn betraf, weil er wusste wie Eirene reagieren würde.

Seine Aufmerksamkeit wurde gestohlen, als er aus dem Augenwinkel sah, wie Isaya langsam zu sich kam und sofort stürmte er an ihre provisorisches Bett, das aus einer Decke und seinem zusammengerollten Mantel bestand. Nicht gerade bequem, aber besser als auf den kalten Stein zu liegen, der den Boden darstellte.

„Cassy!" rief sie aus als sie in die beiden dunkelblauen Augen sah, die sie fast schon flehend musterten, als wüsste sie etwas, was er unbedingt brauchte um zu überleben. Aber als sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, das das kleine Lagerfeuer abgab und die schwummrige, unscharfe Sicht sich langsam wieder normalisierte, sah sie das es nicht Cassiopeia war, sie über ihre thronte, sondern ihr Bruder, Casmiel.

„Oh. Hallo anderer Cassy" begrüßte sie ihn weniger euphorisch als zuvor. Sie hatte Cas nicht wirklich kennengelernt während sie Cassiopeia schon seit fast zehn Jahren kannte und sich mit ihr angefreundet hatte. Oder besser gesagt, verliebt hatte.

Es war eine witzige Begegnung gewesen. Cassiopeia war in der Welt der Sterblichen herumgeirrt, niemand hatte sie gesehen oder gar bemerkt. Sie war nur Luft gewesen, die man einfach ignoriert hatte, weil sie nicht existierte. Nur Isaya hatte sie bemerkt, wie sie es bei jedem Toten tat. Sie half ihnen in das Jenseits zu gehen, denn manche schafften es nicht sofort.

Das war kompliziert. Es kam darauf an, wie aufmerksam der Geist war. Die meisten wussten sofort was sie tun mussten, instinktiv und verschwanden sofort. Sie waren nur für ein paar Sekunden ein Geist, nicht mehr und dann verschwanden sie im Jenseits. Doch es gab Ausnahmen, wie Cassiopeia, die vollkommen verwirrt aufwachten und als erstes ihren eigenen Körper ansehen mussten. Tot. Sie sahen in ihre eigenes Gesicht, das blass und fahl war, manchmal sogar schon verrottet. Sie mussten sehen, wie andere um ihren Tod weinten und sie begraben wurden. Dann war die Verbindung weg. Das Begräbnis war wie ein Übergangsritual von Geist zu Tod. Wenn man den Moment verpasste, konnte man nicht ins Jenseits zurück, bis man all seine Versprechen, die man jemals gegeben hatte, erfüllt hatte. Und das war Cassiopeia passiert.

Isaya hatte sie unter ihre Fittiche genommen, ihr die ganze Situation möglichst schonend beigebracht und sie zu sich mitgenommen, auch wenn das sowieso unnötig war, da Geister ihre Aufgabe so schnell wie möglich erledigen wollten damit sie endlich in Frieden ruhen konnten. Doch nicht Cassiopeia. Sie wollte zu Isaya und fand das ein Leben als Geist nicht halb so langweilig war als kein Leben.

Jahre lang war Isaya mit Cassiopeia durch Amerika geirrt, hatte die Arena vermeidet und irgendwann hatte sie beschlossen in den Wald zu ziehen, damit sie ihre Ruhe hatte, Cassiopeia war immer bei ihr gewesen, an ihrer Seite. Sie war ihre Partnerin für die Ewigkeit.

Es war schwer zu beschreiben, wie Isaya es geschafft hatte, sich in einen Geist zu verlieben. Doch Cassiopeia war so charmant und charismatisch gewesen und dazu noch wunderschön. Jeder der sich nicht in sie verlieben würde, wäre wohl wahnsinnig oder hatte definitiv keinen Geschmack.

„Hey, Isaya. Wie geht es dir?" fragte Casmiel und hinter ihm tauchte seine Schwester wieder auf, die Isaya leicht anlächelte. „Hey Cas" meinte sie erneut und nun schien Casmiel sehr verwirrt. Kein Wunder. Isaya sah verträumt an ihm vorbei und sagte Hey Cas, obwohl sie damit nicht ihn meinte.

„Sorry. Ich...ich meinte Cassiopeia hinter dir" berichtete Isaya ihm und er drehte sich ruckartig um, sodass Cassiopeia einen Sprung machte und wäre sie kein Geist gewesen, wäre sie gegen die Wand der Höhle gestolpert, doch sie fiel einfach durch und rappelte sich wieder auf.

„Ich...ich kann sie nicht sehen" erkannte Casmiel und Isaya könnte schwören etwas Trauer in seiner Stimme zu hören. Sie hatte viele Geschichten über ihn gehört, Cassiopeia sprach oft von ihrem Bruder, aber sie hatte nicht erwartet das er so traurig reagieren würde.

„Lass ihm etwas Zeit, Isa. Er...er ist etwas überfordert mit der ganzen Situation" erklärte Cassiopeia ruhig, sie stand nun wieder neben ihrem Bruder und kurz war Isaya verblüfft wie viele Ähnlichkeiten die beiden Geschwister hatten.

Beide waren eher mager, das lag wohl an der Mangelernährung, durch die sie beide gegangen waren in der Arena. Zusammen. Beide hatten diese unfassbar seltenen, weiß-blonden Haare, die in leichten Locken über die schmalen Schultern fielen und beide waren eher klein, sie teilten sich ihre Größe. Sie waren beide einfach unfassbar attraktiv und würde Isaya sich nur auf das Aussehen konzentrieren, könnte sie nicht sagen wer von ihnen schöner war. Es war eine unmögliche Aufgabe.

„Ich...es tut mir leid aber ich bin noch zu schwach um sie sichtbar zu machen. Sie...sie sagt sie hat dich lieb" meinte sie nur in der Hoffnung den armen Jungen etwas aufzumuntern, doch er schien nur noch verzweifelter zu werden, denn seine Schultern sackten leicht ein und er drehte sich in Richtung Ausgang.

„Entschuldigt mich bitte" waren seine Worte, aber sie klangen eiskalt, nicht mehr traurig oder verzweifelt. Kalt wie frisch gefallener Schnee.

„Ich gehe frische Luft schnappen" bevor Isaya ihm hinterher rufen konnte, das er bitte da bleiben solle, war er schon hinaus gestürmt und Eirene, das Mädchen das sie geheilt hatte, sah ihm besorgt hinterher.

„Mach...mach dir nichts draus. Ich wette Cas ist nur...etwas durch den Wind" beruhigte Eirene sie und sie versuchte sogar ein leichtes Lächeln aufzusetzen, es war jedoch nur ein leichtes Zucken mit ihren Mundwinkeln, da sie sich immer wieder beunruhigt in die Richtung drehte, zu der Casmiel gegangen und in der er auch verschwunden war.

„Er wirkt zwar immer so stark, so unantasbar aber ich glaube das in Cas ein vollkommenes Herz schlägt, das Angst hat zu lieben. Es ist nicht deine Schuld" ihr Blick wanderte noch einmal zu dem Höhlenausgang, den sie provisorisch mit Efeuranken versteckt hat. „Er ist einfach Casmiel Tripe"

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