Kapitel 34
[Bis das der Tod uns scheidet]
„Cas..." schluchzte er nur überwältigt von Gefühlen die er einfach nicht zurückhalten konnte. Sie waren nicht kontrollierbar, seine perfekte Barriere brach zusammen und eine Flutwelle der Gefühle riss ihn mit, als würden die Wellen an seiner Haut ziehen und sie von seinen Knochen trennen. Er konnte den Damm nicht halten, er musste loslassen und Tränen sammelten sich in seinen dunkelblauen Augen, die vor Kummer und zugleich Freude glänzten. Er konnte es nichts glauben, er konnte sich selbst nicht vertrauen. Sah er da nur eine weitere Einbildung, die seinen Verstand in die Irre führte oder war es die Realität?
„Hey Cas..." begrüßte sie ihn nur sichtlich und spürbar unwohl und nervös. Cassiopeia schien nicht zu wissen wie sie mit diesem Gefühlsausbruch umgehen sollte weshalb sie einfach lässig blieb und Cas anlächelte, wie sie es auch schon früher getan hatte, als er sie mitten in der Nacht geweckt hatte weil er einen Alptraum gehabt hatte und ihre Hilfe brauchte um wieder einzuschlafen. Obwohl sie beide gleich alt waren, hatte immer Cassiopeia die Rolle der großen Schwester übernommen. Casmiel war einfach zu kaputt dafür gewesen. Ihr Vater hatte lieber ihn zerstört als seine gleichaltrige Schwester. Er war geplant gewesen, sie nicht. Eine traurige Wahrheit, die er früher nicht verstanden hatte, doch Zwillinge waren nie gewollt gewesen. Somit hatte Cassiopeia ein perfektes Bild zerstört und ihre Zukunft war von Charon bestimmt worden. Etwas das Cassiopeia niemals gewollt hatte, ein normales Leben als Ehefrau und Mutter. Sie wollte um die Welt reisen, ihre eigene Geschichte schreiben und vor dem Gesetzt fliehen. Sie wollte frei sein und ihre Flügel ausbreiten, die sie schon so lange getragen hatten.
Casmiel stolperte einen Schritt nach vorne und streckte seine Hand nach seiner Schwester aus. Sie zitterten heftig, als würde er frieren aber eigentlich war es Angst. Angst, weil er seine Kontrolle verlor, weil sein ganzer Plan und generell sein ganzes Leben durcheinander geworden wurde. Angst, weil er gerade zweifelte. An sich selbst. Normalerweise war er der einzige, dem er wirklich vertrauen konnte, aber jetzt war er sich nicht sicher ob er sich nicht doch selbst manipulierte.
„Du...du lebst..." stellte er verblüfft vor und er wollte ihre Hand schon berühren als sie sie betroffen wegzog und traurig zu Boden blickte. Auch er zog seine Hand zurück und betrachtete sie fragend. So viel Verwirrung. Er wusste nicht was er tun sollte, was sein nächster Schritt war. Er war doch sonst immer zwei Schritte voraus, jetzt lag er weit zurück und er ertrank im Meer der Verwirrung weil er nicht mehr wusste was real war und was nicht. Er wusste nicht was er sich einbildete, was sein Verstand ihm zeigte und was seine Augen sehen wollten. Er wusste nichts.
„Casmiel. Ich...ich bin tot. Ich starb vor zehn Jahren in deinen Armen, deine Erinnerung belügt dich nicht." Sagte sie ohne aufzusehen, ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern und erst jetzt bemerkte Cas den leichten Schimmer, der die Umgebung beleuchtete und sie umgab. Sie schwebte in der Luft, ihre Füße berührten wegen einigen Zentimetern den Boden nicht und ihre Haare hoben sich ein wenig in die Luft und setzten sich wieder ab, als würde sie versinken, als würden ihre Haare den Begriff der Schwerkraft nicht begreifen und einfach ignorieren. Sie war ein Geist.
„Aber...wie kannst du hier sein? Bei...mir? Bin ich tot?" fragte er verwirrt weiter. Er verstand nicht und er war sich nicht einmal sicher ob er überhaupt verstehen wollte was hier passierte. Er wollte seine Schwester umarmen aber stattdessen rannen nun glasige Tränen an seiner Wange herab und tropften auf seinen Mantel, der mit jedem Tropfen eine dunklere Färbung annahm und leicht fleckig wurde.
Als Antwort sah Cassiopeia zu Isaya, die ihn traurig anlächelte. Tatsächlich war um ihre Hände herum ein ähnlicher Schimmer, nur schwächer und mit einem leichte Gelbstich und ihre Augen strahlten noch heller als zuvor. Sie war es also, die Cassiopeias Geist gerufen hatte.
Cas trat noch einen Schritt näher und sah sie an. Seine Augen waren feucht, die Tränen kullerten seine Wangen herab und auch Cassiopeias Augen füllten sich mit dem flüssigen Glas.
Dann tat Cas etwas, das er selbst nicht erwartete hatte. Er schloss Cassiopeia in seine Arme und fühlte sie tatsächlich. Sie war kalt, eiskalt wie eine Leiche aber das interessierte ihn nicht.
Ihre Haut fühlte sich an wie Porzellan, kalt aber gefährlich dünn und zerbrechlich, jede Berührung könnte sie bersten lassen und sie könnte zerspringen aber sie hielt stand.
Cas umarmte sie fest, drückte ihren Körper an sich und strich über ihre feinen Haare, die sich zwar nicht echt anfühlten aber so wie die feinste Seide aus Makedonien. Dem feinsten Stoff aus Indien.
Sie fühlte sich so real an in seinen warmen Händen, die noch immer zitterten und nicht aufhören wollten aber er ließ sie nicht los.
Cassiopeia war geschockt. Die beiden Geschwister waren noch nie wirkliche Kuschler gewesen und genauso wie Cas hatte Cassiopeia immer ein Messer gezückt wenn sie jemand umarmt hatte damit sie es, wenn nötig, in den Rücken des Täters stechen konnte. (Die Paranoia der Zwillinge war schon vor der Arena sehr ausgeprägt gewesen)
Doch jetzt hatte Cassiopeia kein Messer zur Hand und es war ihr Bruder der sie umarmte weshalb sie nur ihre Arme um ihn legte und beruhigend über seinen Hinterkopf strich.
„Ich habe dich so vermisst. Ohne dich ist alles so schwer" schluchzte er überwältigt und Cassiopeia konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Sie sah aus wie fünfzehn und ihr Verstand hatte sich eigentlich nicht sonderlich verändert. Es war, als wäre sie in einer ewigen Zeitschleife gefangen und niemand konnte sie daraus befreien.
Aber Casmiel hatte sich verändert. Er war erwachsen geworden, 25 Jahre alt und ein stattlicher, gutaussehender junger Mann der wirklich etwas aus sich gemacht hatte. Nun ja, jedenfalls wenn man von den Schmauchspuren an seinem Mantel und dem verbundenen Kopf absah.
„Ich habe dich auch vermisst" seufzte Cassiopeia nur ruhig. Sie schien sich nicht wirklich sicher zu sein wie sie auf all das hier reagieren sollte. Sie hatte ihrem Bruder beigebracht seine Emotionen immer hinter einer Maske zu verstecken außer er findet jemanden, dem er vertrauen kann. Mit dem er all seine Last, die schon früh auf seinen Schultern gelastet hatten, teilen konnte und lernen konnte, mit seiner schweren Vergangenheit umzugehen. Jemand, der wie ein Bruder für ihn war. Ein Gefährte.
„Alles bricht zusammen, Cas. Einfach alles was ich aufgebaut habe bricht Stück für Stück ab und hinterlässt eine hässliche Klippe. Ich kann nicht mehr" schluchzte er verzweifelt und er sackte zusammen, als würde er all seine Last abladen und endlich einen freien Rücken haben, auf dem er all die Last getragen hatte, auf dem er all die Erinnerungen aufbaute, die nun einen gefährlich hohen Turm bildeten und drohten über ihm einzustürzen und ihn unter sich zu begraben.
Er trug eine ganze Welt und niemand konnte sie von seinen Schultern nehmen. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er nicht sehen konnte, wie jemand seine Qualen aushielt. Er konnte nicht sehen, wie jemand dasselbe Leid erlitt wie er es erlitten hatte. Er konnte es nicht.
„Ist gut, alles ist gut. Ich bin da für dich, ich bin da, Cassy" beruhigte Cassiopeia ihn, doch ihre Stimme zitterte unkontrolliert. Hatte sie seine Worte richtig vernommen, richtig gedeutet? Wollte er sich das Leben nehmen? Konnte er nicht mehr leben?
Sachte setzte sie sich auf den Boden und achtete darauf, das auch Casmiel bequem lag und auf ihrem Schoß weinen konnte. Sie wusste das er nicht oft seine Maske fallen ließ, es aber dringend nötig war. Schließlich vergaß er sonst wie er wirklich aussah, wie sein Spiegelbild wirklich war. Gebrochen. Gebrochen und zerstört aber wunderschön und noch zu retten.
Man kann einen Riss nicht nur mit Farbe verstecken. Man musste ihn richtig reparieren, sodass er sich nicht noch weiter ausbreitete und irgendwann alles zerbrach. Denn dann würde nichts mehr helfen, nicht einmal Farbe könnte diese Scherben verstecken. Sie wären für immer da, für immer präsent und für immer schmerzhaft.
„Es ist okay, Cassy. Ich bin immer für dich da" versprach sie ihm leise. Ihre Fingerspitzen hatten kein Gefühl mehr. Sie konnte Casmiels Haut nicht spüren, seine Haare nicht erkennen. Sie berührte ihn, doch es würde niemals so sein wie früher, wenn sie durch seine leicht verknoteten Haare bürstete und ihm dumme Frisuren machte weil er es liebte, wenn sie seine Haare flechtete. Sie würde nie wieder über die Fasern des Mantels streichen, den sie früher so gerne getragen hatten wenn sie und Cas gemeinsam gefroren hatten (er natürlich mehr als sie. Cassy war schon immer sensibel). Sie würde nie wieder über seine weichen Wangen streichen, die das Wort >>Pickel<< und >>Pubertät<< nicht zu kennen schienen, denn Casmiel hatte nie Probleme mit seiner beinahe perfekten Haut. Sie erinnerte sich an einen Tag, an dem Casmiel wie am Spieß geschrien hatte weil er einen Pickel auf seiner Stirn gefunden hatte, die Wachen ihm aber keine Schminke gegeben hatten. Deshalb hatte er den Pickel unter seinen Haaren versteckt und Cassiopeia hatte eine Wache bestochen und am Ende doch noch das rettende Make-Up bekommen, das Cas ihr förmlich aus den Händen entrissen hatte um den Pickeln schnell abzudecken. Diese Erinnerung war schön aber sie konnte sich nicht vorstellen das Casmiel in diesem Moment wegen eines Pickels heulte. Nein, er war gebrochen.
Er hatte all die Jahre überlebt, ohne sie. Er hatte eine Rebellion gegründet die dank ihrer Leiche möglich war und jetzt war er ein wichtiger Teil der Geschichte dank dem Sick Boy, Theseus Rendall (mit ihm müsste sie sowieso noch ein Wörtchen sprechen)
Aber in diesem Moment zählte nur diese Liebe, die die Geschwister teilten. Ein Band, das stärker war als das Band zwischen Freunden oder Liebenden. Geschwister waren mehr, sie kannten alle Facetten des anderen egal wie geheimnisvoll man sein mochte. Cassiopeia kannte Casmiels wahres Gesicht und sie wusste wie es dazu gekommen war, Casmiel kannte ihr wahres Gesicht, das sie hinter ihrer lockeren, kämpferischen Rebellenseite versteckte das sie mit ihrem lässigen Grinsen abrundete. Doch jetzt rann eine Träne über ihre Wange, die jedoch die Schwerkraft missachtete und statt auf den Boden zu fallen, in den Himmel flog.
„Es tut mir so leid, Casmiel, aber...ich muss wieder gehen. Ich habe nicht lange Zeit. Isaya kann mich nicht so lange hier behalten und schon gar nicht gestaltlich machen" sie warf einen besorgten Blick auf die Phoenix und sah die Schweißperlen, die sich den Weg über ihre Nase bahnten und ihre Stirn hinab rannen. Sie sah das ihr gesamter Körper zitterte und wie blass das Mädchen inzwischen war.
Er richtete seine dunkelblauen, tränenüberfüllten Augen auf die ihren und sah sie flehend an. „Du kannst mich jetzt nicht verlassen. Ich habe so viele Fragen!" er machte einen Hundeblick und es schmerzte in Cassiopeias Herz, das sie ihm nicht weiterhelfen konnte.
„Ich weiß, ich weiß, Darling. Aber ich muss jetzt an Isaya denken, nicht nur an mich. Sei nicht so egoistisch" tadelte sie ihn, aber sie klang mehr wie eine Mutter als eine wütende Schwester. Dann wurde ihr Blick sanfter und sie strich ihm noch einmal über die weiß-blonden Haare.
„Kümmere dich um sie. Ich stehe durchgehend mit ihr im Kontakt, sie kann unser Sprachrohr sein. Sie wird es dir näher erklären aber bitte Cas, mach nichts dummes. Ich kenne dich doch" warnte sie ihn noch bevor sie sich einfach auflöste und Cas auf den Boden stürzte. Er konnte sich gerade noch so abfangen und seine Arme als Schutz verwenden damit er nicht mit der Nase voraus auf den Boden fiel, aber doch er spürte wie seine Ellbogen schmerzten. Er würde morgen bestimmt blaue Flecken haben wegen diesem dämlichen Sturz.
Bevor er sich jedoch um sich selbst kümmerte, sah er zu Isaya, die tatsächlich müde aussah. Ihre Augenringe waren noch tiefer gewesen und erinnerten an tiefe Schlüchte, ihre Haare hatten wohl kurz den Zustand von Cassiopeias Haaren übernommen und hatten geschwebt, denn jetzt legten sie sich wieder hin, blieben aber komplett verwuschelt und zerstört hängen (den Raben darin schien das gar nicht zu gefallen denn Cas konnte ein empörtes Krächzen vernehmen)
Sie lächelte Cas noch einmal erleichtert an, bevor sich ihre Augen verdrehten und sie nach hintern kippte. Wäre Casmiel nicht vorgesprungen und hätte sie halbwegs aufgefangen (wenn man bereits am Boden lag war das doch etwas mühsamer) wäre ihr Kopf auf dem Boden aufgekommen. Doch so fiel sie nur auf Casmiels starke Arme, in denen er zuvor noch seine Schwester gehalten hatte. Nun lag Isaya in ihnen und sie rollte sich klein zusammen, als wäre sie eine Katze, die endlich einschlafen konnte und Casmiel hob sie hoch. Er musste zu Eirene, sie war bestimmt schon krank vor Sorge um ihn. Außerdem musste sie Isaya heilen und etwas aufpäppeln damit er endlich mehr erfahren konnte. Er musste einfach mehr erfahren. Er wollte wissen, wie er seine Schwester endlich wieder zurück bekam. Um jeden Preis.
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