Kapitel 33

[Ein Wiedersehen mit dem Tod]

Casmiel war wieder im Wald angekommen. Es war dunkel, also noch früh für seine Verhältnisse. Das bemerkte er auch daran, das er hellwach war, sich jedenfalls so fühlte. Das war aber immer so.

Cas spürte keine Müdigkeit mehr weil er sie durchgehend fühlte. Er wusste nicht mehr was Müdigkeit war, seitdem es sein einziges Gefühl war, das er nicht kontrollieren konnte. Zwar war er nicht erschöpft, nicht halb tot weil er keinen Schlaf mehr hatte, aber er war müde und das war auch gut so. Er hatte in dieser Woche (sie waren schon wieder an einem Freitag angelangt) nur viereinhalb Stunden Schlaf gehabt, viel zu wenig für einen Menschen der dauerhaft Stress hatte und fast jede Sekunde Beinahe-Toden ins Auge sah. Kurz gesagt: es war alles andere als gesund.

Hätte Cas seine eigenen Gefühle nicht kontrollieren können, hätte die heilige Dolores ihn nicht mit diesen Fähigkeiten beschenkt, dann wäre er jetzt vermutlich schon tot. Er würde einfach hinfallen und sich ausschlafen (was für den Tripe nicht viel ist. Fünf Stunden sind bereits mehr als genug)

Doch wie sollte jemand merken das es ihm nicht gut ging wenn seine Augenringe non-existent waren? Wie sollte man bemerkten das er mehr als nur gewöhnlichen Schlafmangel hatte, Cas hatte offensichtlich ein Problem. Aber er konnte diese Schwäche so gut kaschieren, hatte seine Fähigkeit so gut ausgeprägt das er nun ein Meister der Masken war. Er hatte für jeden einzelnen Anlass ein passendes Gesicht und er wechselte sie wie Verbündete. Tagtäglich.

Casmiel Tripe mag ein unlösbares Geheimnis sein doch das ist kein Vorteil. Es ist sogar ein Nachteil wenn man bedenkt, das er selbst nicht alle Seiten von sich selbst kennt. Er ist ein Arkanum, ein unlösbares Rätsel das jedem nur eine Frage in den Kopf wirft: Wer war er eigentlich?

Für Kalea war er wohl ein Held, weil er auf ihrer Seite war und nicht auf der Seite des Gesetztes was ihn wohl erneut zu einem Straftäter macht, aber auf der anderen Seite wollte Kalea nur Essen für sie und ihre Freunde besorgen, da der Staat ihnen alles genommen hatte.

Für seinen Widerstand war Cas nur ein erbärmlicher Anführer den niemand zu mögen schien. Theseus besonders nicht, aber er schien immer noch zu denken er könnte die heldenhafte Seite in Cas erwecken, als wäre in ihm nur ein Drache der schlummern würde. Doch das war falsch. Cas war bereits ein Drache, ein feuriger, wunderschöner Drache mit dunkelblauen Schuppen und hellen, beinahe weißen Augen die einen leichten, goldenen Schimmer trugen. Er war ein wunderschönes Wesen, doch nur außerhalb. In ihm schlief die Prinzessin, die jedoch jeden umbringen würde, der ihr zu nahe kam. Sein äußeres beschützte die Welt vor dieser Prinzessin, nein. Sie war eine Königin. Die Königin des Todes.

Sie zwang Cas dazu nicht zu schlafen, ließ ihn stundenlang über Probleme nachdenken, die ihm nie im Leben in den Sinn gekommen wären, wenn er nicht diese Königin in seinem Herzen hätte. Er könnte sich nicht zurück halten wenn ihn jemand imperfekt nennen würde, eine Beleidigung die Casmiel mehr als alles andere verabscheute.

Er hasste dieses Wort. Imperfektion. Es zerstörte alles, was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte. Einfach alles. Seine ganze Perfektion, die er als eine Maske benutzte, bröckelte unter dem massigen Gewicht der Imperfektion, die sein Inneres symbolisierte. Cas war nämlich alles andere perfekt.

Während er äußerlich immer so aussah als könnte er die Polarkappen schmelzen lassen, war er innerhalb ein Sturm, der alles in die Tiefe des Meeres riss.

Augen waren scheinbar die Fester zur Seele und bei Cas schien dieser überaus poetische und ebenso kitschige Spruch mehr als nur zu passen. Seine Augen spiegelten das wilde, nicht zu bändigende Meer wider. Den Ozean, der freier war als alles andere und vor allem nicht zu zähmen. Cas war wie das Meer, unzähmbar. Er war wild, frei oder stand jedenfalls dafür. Er war das Gesicht der Freiheit und doch war er es selbst nicht.

Die Ketten der Arena waren gelöst aber war er wirklich frei?
Hatten die Fesseln des Lebens ihn wirklich bereits entlassen oder warteten sie nur um ihn wieder zurück zu ziehen und ihn fallen zu sehen? Warteten sie nur darauf ihm alles vor seinen Augen zu entreißen und zu verbrennen? Was wollte das Schicksal von ihm und wieso waren dessen Ketten so schwer? Wieso lasteten sie an seinen Handgelenken wie der Himmel, den Atlas auf seinen Schultern trug? Wieso?

So viele Fragen. Zu viele Fragen. Fragen, die niemand gestellt hatte und doch suchte Casmiel eine Antwort für sie. Er wollte wissen was die pure Perfektion war und wie er sie erreichen konnte. Er wollte wissen wie man diese Welt vor dem Untergang bewahren konnte, wie man alles zum Besseren wenden könnte. Er fragte sich was Liebe war und wieso das Schicksal entschieden hatte, das er sie niemals erfahren würde.

Seine Gedanken wurden unterbrochen als er auf einmal Gelächter hörte. Seltsames Gelächter, das er nicht einsortieren konnte ob es gefährlich oder psychopathisch war. Vermutlich war es beides aber da Cas selbst ein gefährliches sowie ein psychopathisches Lachen von sich geben konnte, war es schwer wirklich zu wissen ob hinter diesem Busch ein Serienkiller wartete oder ein Mensch mit massiven Störungen der aus einer Psychatrie geflohen war. Beides würde Cas nichts ausmachen.

„Hallo?" fragte er in die Leere der Dunkelheit hinein. Er konnte nichts erkennen, hörte nur ein Rascheln und Gemurmel, seltsames Gemurmel das ihn wirklich sehr verwirrte. Aber er war Casmiel Tripe und galt sowieso schon als tot also wieso nicht auf dieses seltsame, wohlmöglich psychopathische Gemurmel zugehen und sehen, was herauskommt? Die Neugierde gewann eben immer am Schluss.

Also ging er auf den Busch zu, aus dem das Geraschel erklang und er begutachtete es interessiert. Er sah zuerst nichts bis das seltsame Wesen den Kopf herausstreckte und Cas irritiert musterte, als wäre er es, der verrückt gelacht hatte. Dann grinste es aber über beide Ohren und legte den Kopf schief.

„Casmiel Aradeon Tripe..." stellte das Wesen fest und es bewegte sich aus dem Busch. Cas stellte fest, das dieses Wesen ein Mensch war. Besser gesagt eine Frau, wenn man es denn so nennen mochte. Sie war entstellt.

Nicht auf der Weise, in der normale Menschen entstellt waren, sondern eine Weise die nicht natürlich war. Lange Krallen, wortwörtlich Krallen, wuchsen ihr zwischen den Fingern hervor von denen sie sechs hatte. Ihre Zähne waren spitz und scheinbar gefeilt sodass sie gefährlich blitzten, sie trugen eine gelbliche Farbe. Ihre dunkelbraunen Haare waren verwuschelt und hatten wohl seit Jahrtausenden keine Dusche oder wenigstens einen Kamm gesehen, aber die Frau roch nicht schlecht. Jedenfalls nicht vollkommen. An ihr hing der Duft der Wildnis, der Geruch nach nassen Holz, frischem Regen und Blättern, die sich im Wind verloren hatten.
Ihre Augen trugen ebendiese Farben. Sie hatten grüne Sprenkel, wie das Gras, auf dem sie mit ihren nackten Füßen ging und ebenso braune Töne untermalten sie, wie frische Erde die nach einem Sturm leicht aufbrach und über das Gras lugte. Aber auch kleine Akzente von einem frischen, tiefen blau waren in ihren Augen zu sehen, das an einen reißenden Fluss erinnerte der alles und jeden mit sich riss. Ihr gesamtbild war sehr seltsam anzusehen.
Auf der einen Seite war sie eine schöne Frau, wenn sie denn normale Kleider statt ihren Lumpen die scheinbar aus Tierfellen bestanden anzog, ihre Haare, die aussahen wie ein Vogelnest (Cas hätte sich nicht gewundert wenn tatsächlich Raben dort wohnen würden) pflegen und herrichten würde und wenn sie sich generell waschen würde. Sie hatte Dreck am Gesicht, viel Dreck sodass Cas nicht mit Sicherheit sagen konnte was ihre wahre Hautfarbe war. Diese Frau bestand aus der Natur.

„Sie scheinen mich zu kennen aber ich Sie nicht. Das würde ich gerne ändern wenn es denn möglich wäre" bat er sie immer noch höflich. Auch wenn ihre Gestalt nicht seinen Idealen entsprach war sie noch immer ein Lebewesen das es verdient hatte zu leben. So stand Casmiel zu den meisten Wesen, die auf dieser Erde wandelten aber manche brachten selbst ihn zur Annahme, das sie sterben müssten.

„Oh ja. Das interessiert dich. Namen haben bekanntlich Macht, viel Macht und nur die wenigsten wissen wie sie mit dieser Macht umgehen sollen" philosophierte sie dahin und in diesem Moment erinnerte die Fremde ihn an eine Person. Eine Person die er sehr liebte.

„Können Sie mir nun bitte Ihren Namen nennen? Ich wäre gerne vor Einbruch des Tages im Lager damit sich meine Partnerin keine Sorgen um mich macht" bat er sie erneut, noch immer höflich und freundlich. Er wollte hier schnell weg, je länger er die Fremde kannte, desto mehr wollte er verschwinden und sie vergessen aber scheinbar war dies unmöglich denn die Fremde würde nicht locker lassen ein Gespräch zu finden. Das verrieten ihre Augen.

„Oh. Das hätte ich doch fast vergessen ich bin..." sie stoppte und schien zu überlegen. Sie musste ernsthaft überlegen wie sie hieß und das nervte Cas jetzt schon. Sein Bein wippte abwartend aber nervös auf und ab.

„Oh. Ja. Fast vergessen. Man nennt mich Isaya, oder auch Mutter Natur" stellte sie sich mit einem stolzen Grinsen im Gesicht vor. Zwischen ihre spitzen, gelben Zähnen hingen Reste von Wurzeln, Blättern und ähnlichen. Cas wollte es gar nicht so genau wissen weshalb er wieder in ihre vor Stolz funkelten Augen blickte. „Du kannst mich aber auch gerne Isa nennen, das machen meine Freunde so" erzählte sie grinsend und tatsächlich steckte ein Vogel, vermutlich ein Drossel, ihren Kopf aus ihrem Nest das Isaya Haare nannte. Cas nahm diese Entdeckung locker auf, er hatte schließlich nichts anderes von dieser Verrückten erwartet als ein Vogelnest.

„Isaya also. Woher kennen Sie mich?" fragte er weiter. Außerhalb wirkte er ruhig, als könnte Isa keine Bedrohung darstellen aber innerlich war er angespannt und wartete nur darauf das sie ihn anspringen und essen würde (Cas hatte Kannibalen zwar schon immer interessant gefunden, wollte aber nicht als Essen enden)

„Das war dann wohl ich, Cassy" meldete sich eine allzu bekannte Stimme und das charmante, falsche Lächeln in Casmiels Gesicht war wie ausgelöscht. Seine Augen bekamen einen unsichern Schimmer und er sah ernst gerade aus. Er konnte es nicht glauben. Es war einfach nicht möglich und doch hatte er diese Stimme vernommen. Diese...diese Stimme die er seit zehn langen Jahren nicht mehr gehört hatte.

„Dein ernst? Zehn verdammte Jahre und du begrüßt mich nicht einmal? Ich hätte mit Tränen gerechnet, verblüfften Gemurmel und Freude aber stattdessen starrst du ins Nichts?" fragte sie nur mit falschem Enttäuschen in der Stimme und endlich drehte sich Casmiel um nur um in ihre Augen zu sehen.

Dunkelblau. Tiefer als jedes Meer in dem man schwimmen konnte. Tiefer als jeder Ozean, der noch nicht vollkommen entdeckt worden war. Augen, so schön und real das Casmiel aufschluchzen wollte als er sie tatsächlich sah.

Ihre Haare trugen die Farbe von einem platinblond, etwas heller als Casmiels Haare und sie fielen in leichten Locken über ihre schmalen Schultern. Sie gingen ihr bis zu Hüfte und sie hatte kleine Zöpfe hier und da eingeflochten weil die Langeweile sie übermannt hatte.

Ihr Lächeln. Oh dieses Lächeln. Es war charmant aber doch echt. Es war frech aber auch liebevoll. Es war alles...alles andere als unecht und das schönste daran: Es war real. Sie war es wirklich. Vor ihm stand Cassiopeia Aradea Tripe. Seine Zwillingsschwester. 

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