Kapitel 19
[Vergessen]
Casmiel war in der Dunkelheit des Waldes unterwegs. Eine weitere Schlaflose Nacht, eine weitere Wanderung durch die tiefen des scheinbar unendlichen Waldes. Das war wohl sein Fluch, der auf seinen Schultern lastete. Die Schlaflosigkeit, Energielosigkeit.
Er hasste es, die Nächte alleine zu verbringen. Eirene schlief, er wollte sie auch nicht wirklich wecken. Sie war ebenso wie er die Nacht lang wach gewesen war um Eleanors Genesung abzuwarten, damit sie nicht alleine war wenn sie wach wurde. Casmiel hatte sie schlafend auf dem Stuhl neben dem Bett der Frau gesehen und sie in ihr Bett getragen. Sie hätte dasselbe für ihn getan, sie hatte sogar dasselbe getan. Eirene hatte ihn ins Bett gebracht als er beinahe im stehen eingeschlafen war.
Ein Moment der Schwäche, etwas das sich Casmiel eigentlich nicht leisten durfte. Er konnte sich nicht einfach schlafen legen und die Kontrolle, die er sich so hart erkämpft hatte, abgeben. Er konnte nicht einfach alle Sorgen hinter sich lassen, die Augen schließen und sich der Dunkelheit hingeben. Er konnte nicht und er durfte nicht. Verantwortung lastete auf seinen Schultern, Verantwortung die er nicht haben wollte. Verantwortung, die er sich selbst auf die Schultern gelegt hatte.
Er genoss die Macht, die ihm in den Schoss gelegt worden war, aber Leute dort draußen glaubten an ihn. Er war ihr einziger Halt im Sturm des Krieges, ihre einzige Hoffnung auf Gleichberechtigung und Frieden. Das wollte er nicht.
Sein Tod würde das alles beenden. Er war das Bindeglied zwischen Hoffnung und Verderben. Wenn er wegbrechen würde, hätte der Präsident gewonnen und kein Phoenix würde überleben, das hatte Azrael gesehen.
Vermutlich war Cas deshalb als erste gestorben. Vielleicht war er nicht gefürchtet gewesen, sondern nur derjenige, der versagt hatte. Der, der getötet worden war. Die Hoffnungslosigkeit in Person.
Schnell schüttelte er diese düsteren Gedanken ab. Er war Casmiel Tripe, nicht irgendein dahergelaufener Mann mit Selbstzweifeln, das war nicht er. Arroganz und Egoismus bestimmten sein Leben, er war kein kleiner, hilfloser Junge mehr der sich selbst bemitleidete und sich ein anderes Leben wünschte.
Er hatte sich verändert. Die Unsicherheit war verschwunden, die Arroganz hatte die überhandgenommen. Ein Experiment war aus der Bahn gelaufen, er hatte etwas neues versucht und es hatte besser funktioniert als erwartet.
Ein Mädchen riss ihn aus seinen Gedanken. Es war spät, bald drei Uhr morgens, und dennoch schlich sie zu dieser Zeit noch herum. Für Cas war das zwar normal, aber sonst schliefen alle bis auf die Späher, die Nachtschicht hatten und Wache halten mussten. Dieses Mädchen war definitv keine Späherin.
In dem fahlen Licht, das die gedimmten Lampen von sich gaben, erkannte Casmiel die rot-braunen Haare von ihr, die bis zu ihren schmalen Schultern fielen und wie Feuer in der Dunkelheit waren. Sie war klein, unscheinbar, aber dennoch wirkte sie stark. Ihr Gesicht war ein wenig runder und dennoch war es irgendwie markant, Gegensätze. Sie wirkte aufgewühlt, aufgeregt. Vielleicht auch ein wenig verwirrt.
Casmiel bestimmte sie zu verfolgen. Was auch immer das Mädchen aus dem Schlaf gerissen hatte, es konnte nichts gutes sein. Oder sie hatte sich selbst aus dem Schlaf geweckt und war eine Verräterin. Etwas, das Casmiel gar nicht leiden konnte obwohl er selbst der größte Verräter war.
Vielleicht war das der Grund für seine Ignoranz. Er liebte sich mehr als alles andere, jedenfalls dachte er das von sich selbst. Vielleicht hasste er sich selbst, hatte keine Liebe für sich selbst übrig, aber er trug diese Maske der Selbstliebe nun schon so lange, das er vergessen hatte wie sein wahres Gesicht war, wie es aussah. Vielleicht hatte er nur vergessen wer er war.
Doch jetzt war nicht die Zeit für düstere Gedanken, schon gar nicht wenn sie die Vergangenheit betrafen, die Casmiel doch so gerne vergessen würde. Jetzt war es Zeit die Frau zu verfolgen und herauszufinden was ihr Plan war und wieso sie zu so später Stunde noch draußen unterwegs war, wie Casmiel selbst auch. Er hatte schließlich einen Grund dazu (zugegeben einen wirklich schlechten) aber andere durften nicht draußen sein. Sie mussten in ihren Hängematten schlafen und sich ausruhen damit sie am nächsten Morgen weiterreisen konnten.
Eine Zeit lang schlich sie nur durch den Wald, sie schien nervös zu sein und sich immer wieder umzusehen, sehr verdächtig wie Casmiel fand aber er schätze einen Menschen nicht vorschnell ein. Das könnte das letzte sein was man tat und diesen Gefallen würde Casmiel dem Schicksal nicht machen, niemals. Er würde nicht einfach sterben weil er jemanden unterschätzt hatte. Er war schließlich nicht irgendwer, er war Casmiel Aradeon Tripe. Der einzig-wahre.
Als sie stehen blieb und sich nahe an einen kleinen, fließenden Bach auf einen Stein setzte, blieb auch Cas in den Schatten der Bäume stehen. Er war versteckt hinter den hohen und meist dicken Baumstämmen, die seine Gestalt verschlangen und vor neugierigen Blicken schützten. Er war wie unsichtbar und so wartete er ab, was passieren würde.
Zuerst tat sich nichts. Der Bach plätscherte leicht und floss um die Steinchen, der Wind brachte die Blätter zum Rascheln und ein weiteres Geräusch, das Casmiel noch nicht identifizieren konnte, ertönte aus Richtung der Frau.
Dafür das Casmiels Fähigkeit sehr viel mit dem menschlichen Verhalten zusammenhing, verstand er erst spät was das unbekannte Geräusch war. Schluchzen.
Die Frau schien zu weinen und ihre Tränen tropften in das Bachbett herab, wo sie mit einem kleinen Ton aufkamen und mit dem restlichen Wasser mit floss.
Er trat näher an sie heran und panisch drehte sie sich um und zückte ein metallisches Messer, das sie in ihrem Ärmel versteckt aber kampfbereit gehalten hatte. Sie zitterte, das erkannte Casmiel deutlich und im ersten Moment schien sie Cas nicht zu erkennen, er tat es aber. Es war Alessia Lopez.
„Cas?" fragte sie ihn sichtbar verwirrt. In ihren blauen Augen waren noch immer deutlich die Tränen zu sehen, die alles um ihre Iris herum etwas rot gefärbt hatte. Sie sah müde aus, tiefe Augenringe machten sich bemerkbar und Casmiel starrte sie nur an. Er wusste nicht was zu tun war, die Gefühle anderer Menschen, die er nicht selbst kontrollieren, lagen ihm fern. Er konnte nicht gerade gut mit Menschen umgehen, wenn er nicht wusste, was sie wirklich fühlten.
„Alessia" beantwortete er ihre Frage nur mit ihrem Namen. Sie schien sich langsam wieder zu beruhigen und ließ das Messer sinken. Sie steckte es zurück in ihren Ärmel und setzte sich zurück auf den Stein, Casmiel tat es ihr nach und so saßen sie zusammen neben dem plätschernden Bach unter dem Sternenhimmel.
„Ist es nicht seltsam?" fragte sie nach einiger Zeit der Ruhe, man hatte nur gehört wie sie schniefte und ihre Tränen trocknete. Jetzt schien sie sich wieder vollkommen beruhigt haben und nicht mehr mit dem Messer zu drohen.
„Was meinst du?" hinterfragte Casmiel. Vieles war seltsam geworden in dieser Zeit, doch er kannte nichts anders. Er war schon immer anders behandelt worden, schon immer wie Dreck.
„Naja...alles. Früher, als ich noch ein Kind war, hätte ich mir niemals vorstellen können das ich einer Rebellion angehören könnte. Ich meine...wir sind nur Kinder, die nie eine wahre Kindheit erleben durften. Wir sind eine neue Generation, die alles in den Schatten stellen soll aber dennoch stehen wir nur im Licht der Arena, das die Reichen auf uns werfen um uns zu blamieren. Das fühlt sich alles..." sie konnte ihren Satz nicht einmal beenden, so sehr nahm dieses Thema sie mit.
Alessia war nicht gerade nahe am Wasser gebaut, sie war schließlich zu einer Kämpferin gemacht worden, aber dennoch war dieses Thema etwas, das ihr Herz traf wie ein Dolch.
Cas lachte nur bitter auf. Selten lachte er so, meist war es eher herablassend und abschätzig aber bei diesem Thema konnte er Alessia einfach nicht widersprechen.
„Wir wurden erschaffen um die Menschheit zu retten aber stattdessen zerstören sie uns weil sie Angst haben. Angst, das wir dasselbe mit ihnen tun könnten, sie vernichten. Schließlich ist es genau das, was eine neue Generation bedeutet" er machte eine kurze Pause und richtete seinen Blick, der zuerst auf dem Bach gelegen hatte auf den strahlenden Mond, „Zerstörung"
Stille. Casmiel fand sie meist sehr entspannend, aber die meisten Menschen sahen das anders. Stille war meist ein Vorbote für eine Katastrophe, doch genau diese Stille musste man nutzen um dem gewaltigen Lärm entgegen zu wirken, man musste das, was man bekam eben so nutzen, wie es am besten war. So nutzte Casmiel auch Leute, als seine Waffe.
„Das ist einfach...furchtbar" stellte Allie fest. Sie schien es ernst zu meinen, vollkommen ernst. Es gab eben nichts gutes an der Situation, in der sie lebten.
Wenn Casmiel sich vorstellte, was er in dieser Zeit schon alles erreichen hätte können... Er hätte heiraten können, Kinder großgezogen und seiner Familie seine Söhne und Töchter vorgestellt. Er könnte noch immer in Cassiopeias Augen sehen und ihr sagen: Ich hab dich lieb, kleine Schwester. Vielleicht hätte sie sich dann auf ihn gestürzt, seine Haare zerzaust und erwidert, das sie gleich alt waren, da sie Zwillinge waren. Genau das könnte in genau diesem Moment passieren. Ein normaler Alltag könnte stattfinden und Casmiel müsste nicht jeden Tag um sein kostbares Leben fürchten, das den Untergang der Welt hervorsagen würde. Alles wäre gut und das größte Problem wären die schlechten oder vielleicht viel zu guten Noten seiner Kinder.
„Ich weiß. Aber du kannst vor deinen Schatten nicht wegrennen. Du kannst sie nur zu einem Tanz auffordern" sagte Casmiel ruhig und plötzlich fühlte er Alessias Kopf an seiner Schulter. Sie war anscheinend doch müder als gedacht, während Casmiel noch hellwach und bei klarem Verstand war.
„Was wenn ich nicht tanzen kann?" fragte sie ihn bereits ein Stück leiser. Langsam schien die Müdigkeit überhand zu nehmen und sie mit in die Dunkelheit zu ziehen, aus der sie zuerst entkommen war.
„Dann musst du lernen zu kämpfen" erwiderte Casmiel während er ihren Kopf langsam ein wenig zur Seite schob, damit sie eine bessere Position einnehmen konnte. Er konnte schließlich nicht verantworten das eine Späherin übermüdet ihre Schicht antrat.
„Ich will aber nicht kämpfen" sagte sie, beinahe schon wie ein trotziges Kind. Cas konnte sie gut verstehen, er selbst kämpfte auch nicht. Aber sie alle kämpften schon viel zu lange um etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Das Leben.
„Das Leben war deine Motivation und der Tod hat dich trainiert" hauchte er leise, seine melodische Stimme klang wie das sanfte Rauschen des Meeres. Er versuchte etwas leiser und ruhiger zu reden, damit Alessia ohne Probleme schlafen konnte. Zwar schien sie noch immer wach zu sein, aber er konnte fühlen, wie ihr Herzschlag sich beruhigte und ihre Atmung mit jeden Luftzug flacher wurde.
„Das habe ich nie gewollt...niemals" widersprach sie ihm fast schon ein wenig verzweifelt. Casmiel sendete sanfte Wellen der Beruhigung aus, um sie schneller in den Schlaf zu wiegen. Schließlich musste sie morgen bereit sein, wieder umzuziehen. In eine andere Station zu wechseln.
„Oh aber Darling" begann er zu sprechen bevor er sanft seine Hand auf ihren Hinterkopf legte und die Wellen nun direkt auf ihr Gehirn zu leiten. Diese Stelle war am effektivsten und am einfachsten für ihn. „Du kannst die Vergangenheit nicht einfach ausradieren"
Alessia wurde ruhiger. Ihre Augenlider waren schwer wie Steine und endlich gab sie sich dem Schlaf hin. Leise und beinahe kaum hörbar murmelte sie noch: „Nicht einmal wenn ich sie vergesse?"
Nach diesen Worten schlief sie ein, ihr Puls wurde ruhig, ihre Atmung flach und ihre Augen waren geschlossen. Casmiel starrte weiterhin auf den wolkenklaren Himmel und seufzte.
„Man kann nicht einfach vergessen. Es ist, als würde man versuchen perfekt zu sein. Eine unmögliche Aufgabe, auch wenn jeder danach strebt und einen Versuch wagt" sagte er noch bevor er die Verbindung zu ihr unterbrach und so auch die Wellen in ihr Gehirn stoppten.
Vergessen. Wie gerne würde Casmiel vergessen.
Er würde vergessen wie seine Familie ihn behandelt hatte, wie er immer zu auf Perfektion getrimmt worden war. Er würde vergessen was er in der Arena erlebt hatte, seinen ersten Mord. Er würde vergessen wie seine Schwester vor seinen Augen gestorben war, wie ihre Leiche sich in seinen warmen Händen angefühlt hatte. Er wollte vergessen wie ihre glasigen Augen an den seinen vorbei gestarrt hatten, wie er Träne um Träne vergossen hatte und gehofft hatte, sie würde aufwachen, ihn an der Hand packen und mit sich ziehen. Wie gerne würde er alles vergessen und einfach neu anfangen. Ein neues Leben starten ohne Schmerz und ohne Tod. Ein normales Leben...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top