Kapitel 1
[Den Tag, den es nicht gab]
~Oder, der Tag, den es niemals hätte geben sollen~
Theseus hasste sein Leben.
Wirklich.
Er hasste sein Leben aus drei einfachen Gründen:
Erstens: Er lag hier auf einer eiskalten Metallliege.
Zweitens: Er lag hier auf einer eiskalten Metallliege, ohne T-Shirt.
Drittens: Er lag auf einer Metallliege, ohne T-Shirt, nachdem er von einem Bus überfahren worden war.
Der letzte Punkt war noch zu verkraften. Passierte öfter. Busse waren wirklich eine Gefahr für den Straßenverkehr. Die Fahrer waren immer so genervt und manchmal hatte Theseus das Gefühl, als würden sie Leute absichtlich über den Haufen fahren und es dann auf den non-existenten Zebrastreifen schieben.
Theseus fühlte sich auch nicht wirklich von dem Bus angegriffen. Jedenfalls nicht persönlich. Es war definitiv ein physischer Angriff gewesen. Sterben konnte für seine Psyche auch nicht sonderlich förderlich sein...aber wenigstens war es kein persönlicher Angriff gegen Theseus gewesen. Das war ein Bonuspunkt für den Tod durch Bus.
Was Theseus aber wirklich an der Situation störte, war, dass er kein Shirt anhatte. Also wirklich. Wer zog ihn denn einfach so aus? Er war nicht wirklich das, was man als einen richtigen Adonis bezeichnen würde.
Seine schwarzen Locken glichen meist einem Krähennest, seine dunkelgrünen Augen beachtete niemand wirklich und er war vielleicht größer als der Durchschnitt, aber mehr ein Grashalm im Wind als ein muskulöser, attraktiver Typ. Er hatte nicht einmal ansatzweise ein Sixpack. Wieso sollte man also genau ihn ausziehen?
Komplett dumm.
Theseus erste Priorität war es also, ein T-Shirt zu finden. Oder einen Stofffetzen. Irgendetwas, dass er sich anziehen konnte. Die Liege war echt verdammt kalt. Und hart. Und metall-
Warte. Wieso lag er auf einer metallenen Liege?
Theseus war mit dem Tod bekannt. Jedesmal wenn er starb, wachte er dort auf, wo er zuletzt eingeschlafen war. Zwar konnte er seine Wunden manchmal regenerieren, wenn er genug Zeit und Kraft dazu hatte, doch es war verdammt anstrengend und nicht wirklich angenehm. Deshalb präferierte Theseus es einfach zu sterben. Erleichterte vieles. (Er sollte vielleicht auf die Wortwahl achten, da „Sterben" nicht unbedingt auf jedermanns Tagesablauf verzeichnet war (hoffte er jedenfalls))
Doch er war normalerweise in seinem billigen Bett mit den einfärbigen, langweiligen Überzügen und der langweiligen, eintönigen Dekoration in seinem Zimmer, die nicht wirklich dabei half, dass Image seines Schlafzimmers aufzupeppen.
Jetzt war er in einem vollkommen weißen, sterilen Raum. Noch eintöniger als seine Wohnung (er wusste gar nicht, dass das eine Möglichkeit war) und lag auf einer kalten Metallliege, ohne Shirt, nachdem er von einem Bus überfahren worden war.
Großartig.
Neu war nicht gut. Naja, es war vermutlich gut in den Leben anderer. Doch nicht in Theseus' Leben. Nicht in diesem unendlichen Leben. Neu bedeutete Gefahr und Gefahr lief meistens auf den Tot hinaus. Theseus wollte nicht schon wieder ins Gras beißen. Es war nicht so witzig wie man denken mochte.
Die ersten paar Male war es vielleicht ein Adrenalinkick. Beim neunten Mal war Theseus bereit gewesen absolut abzukratzen (vielleicht hatte er ja nur eine katzenartige Mutation, die sich nur intrinsisch zeigte) aber danach war es irgendwie langweilig geworden.
Nur mehr Schmerzen, noch mehr Schmerzen. Blut, noch mehr Blut. Und Tod. Jede Menge Tod.
Als edgy Teenager denkt man sich vielleicht: Oh cool. Ich kann mich also endlich von jeder nur erdenklichen Brücke werfen und jedesmal sterben, wenn ich nen beschissenen Tag hatte!
Als Erwachsener denkt man sich möglicherweise: Oh toll. Ich kann mein unendliches Leben dazu nutzen, um reich zu werden und nie wieder zu leiden!
Als Renter sind die Gedanken dann vermutlich: Ach großartig. Noch ein Freund von mir der abkratzt, während ich in dem Körper eines 22-Jährigen stecke. Juhu.
Aber Theseus dachte sich nur mehr eines: Wann holt man mich endlich vom Kindergarten, den man Leben nennt, ab?
Wirklich. Wenn man so lange auf der Welt war, wie Theseus, dann kam die menschliche Spezies einem vor, wie eine Dauerschleife einer erbärmlichen Soap Opera. Man konnte nicht abschalten, aber wirklich weitersehen wollte man auch nicht unbedingt. Also machte man das beste daraus und investiert sich so in das Geschehen, dass es zu der eigenen Identität wird.
Menschen waren doch immer gleich. Sie begannen Kriege, vertrugen sich wieder, verrieten sich und begannen neue Kriege! Manchmal große Kriege, manchmal kleine Kriege. Kriege, die niemanden interessieren, da es sie in den Entwicklungsländern stattfinden und damit nicht wichtig sind für die restliche Welt. Kriege, die jeden interessieren, da sie so intensiv in die Medien integriert werden, dass man nicht mehr wegsehen kann. Kriege, die ganze Nationen auseinanderreißen. Kriege, die bei der Androhung der Polizei wieder beendet wurden. Und so weiter. Theseus hatte sie schon alle erlebt.
Dieser Krieg war nur einer von vielen.
Eine weitere erbärmliche Wiederholung von Supermächten, die eine bestimmte Rasse ausschlossen und mit diesem kollektiven Ausschluss ihre Macht unter Beweis stellen wollen.
Nur waren es dieses Mal keine Menschen, die ausgeschlossen wurden. Sondern eine neue Generation. Eine stärkere Generation. Wesen, die mehr Macht besaßen, als es einem Menschen möglich sein sollte.
Die Phoenixe.
Theseus fand den Namen bescheuert.
Er ergab keinen Sinn.
Es war, als hätte irgendein Autor sich diesen ganzen Scheiß ausgedacht und sich einen Namen für die Rasse überlegen müssen und war dann bei dem absolut idiotischen und unlogischen Namen „Phoenixe" stehen geblieben, einfach weil er cool und stylisch klingt. Die Erklärung der Supermächte für diesen Namen klang auch so, als wäre jener Autor gefragt worden, wieso er den Namen „Phoenix" für diese Rasse gewählt hätte und er sich schnell eine total zufällige und philo-pfostische Antwort überlegen müssen.
Scheinbar war der Name daraus entstanden, dass die Rasse der Menschen verbrannte und die Phoenixe aus deren Rasse entstiegen. Es klang richtig cool, aber eigentlich war es ein Mittel, um den Menschen Angst zu machen.
Die Phoenixe wurden als schreckliche Monster dargestellt, die nur auf Blut und Tod aus waren. Sie wollten die Menschen vernichten um endlich an die Spitze der Nahrungskette zu kommen und ihren rechtmäßigen Platz als stärkere Rasse einzunehmen.
Jeder der nur ansatzweise in Evolutionskunde aufgepasst hat, sollte wissen, dass das alles absoluter Schwachsinn war.
Doch Menschen dürsten nach Kriegen. Sie dürsten nach der Tragik, dem lebenden Drama. Sie dürften nach Blut und dem Tod.
Sie sind die wahren Monster.
Aber vielleicht schlug Theseus sich nur auf die Seite seiner eigenen Rasse. Schließlich machten viele Phoenixe das Image ihrerseits nicht gerade besser. Sie hatten den Krieg schon längst aufgegeben und lebten ein kriminelles Leben. Andere waren in der Arena und zeigten der Welt die blutrünstigen Monster, die sie sein sollten.
Und dann war da noch diese ganz besondere Art von Phoenix.
Der Widerstand.
Er nannte sich die rote Hand und wurde angeführt von Casmiel Aradeon Tripe. Einer lebenden Legende. Er war wohl der einzige Grund, weshalb die Phoenixe noch nicht ausgestorben waren, denn er führte eine illegale Untergrundsorganisation an. Eine Rebellion, die sich gegen den Staat und den Präsidenten stellte und die Phoenixe verteidigten. Sie kämpften für Gleichberechtigung und Gleichheit. Akzeptanz. Sie kämpften für das Gute in der Welt.
Für Theseus war Casmiel ein Held. Er entwischte den Jägern der Arena immer wieder aufs Neue, tauchte so lange unter, dass man dachte, sie wären erwischt worden und verkündete dann den nächsten Schachzug, der die Fortschritte des Präsidenten zunichte machten.
Er kämpfte nicht mit Waffen. Er kämpfte mit psychologischen Mitteln und das begeisterte Theseus.
Er selbst war ein Pazifist. Mehr oder weniger. Schließlich war seine Kraft ein unfairer Vorteil. Man konnte keine Chance gegen ihn haben. Das war total unfair. Jedenfalls aus seiner Sicht. Also bemühte er sich, keiner Seele etwas zu leide zu tun. Generell hielt er sich normalerweise aus allen Angelegenheiten raus, doch scheinbar hatten die Götter andere Pläne mit ihm.
Denn hier lag er. Auf einer Metallliege. Halbnackt. Nachdem er von einem Bus überfahren worden war.
Er sah an sich herab. Seltsame Schläuche waren an seiner Brust befestigt und er zog daran. Schmerz. Natürlich mussten es Schmerzen sein. Es konnten nicht einfache Saugnäpfe sein. Nein. Es waren verdammte Nadeln, die in ihm steckten.
Auch wenn Theseus nicht sterben konnte, war er echt kein Fan von Schmerzen. Jedem seine eigenen Präferenzen, aber er wollte nicht unbedingt verletzt werden.
Doch er kniff die Augen zusammen, krallte sich an der Liege fest und zog die Nadeln nacheinander aus seinem Oberkörper.
Danach konzentrierte er sich stark und ließ die Wunden wie von Zauberhand verschwinden, sodass er keine Blutspuren hinterlassen würde.
Logischerweise wollte Theseus abhauen. Er war ein Pazifist, kein Idiot. Natürlich blieb er nicht auf der Liege liegen bis jemand vorbeikam und ihm die Nadeln wieder in die Brust rammte.
Deshalb stand er auf und tapste mit seinen nackten Füßen über den kalten Boden. Erst fehlte sein Shirt, jetzt seine Schuhe. Wenigstens trug er noch Hosen, auch wenn es nicht dieselben waren, die er getragen hatte, als er von dem Bus überfahren worden war. Diese Hosen waren sauber. Kein Blut. Das waren definitiv nicht seine Hosen!
Außerdem würde er niemals graue Jogginghosen tragen, während er von einem Bus überfahren wird. Was wenn jemand Fotos gemacht hätte? Dann kann er doch nicht mit grauen Jogginghosen daliegen. Als Vollzeit-Toter muss man eben auf sein Äußeres achten.
Aber Mode war in dieser Situation nicht gefragt (leider) weshalb Theseus einen willkürlichen Knopf an der Tür drückte und dabei zusah, wie sie sich tatsächlich öffnete. Er wollte durchgehen, doch da standen ein paar Wachen und eine Frau.
Sie war hochgewachsen mit einem strengen, kantigen Gesicht. Ihre Haare waren hellgrau, ebenso wie ihre Augen, die ihn kühl musterten. Sie erinnerten ihn an die Augen eines Haies. Kühl. Gefährlich. Darauf vorbereitet, sich auf ihre Beute zu stürzen und sie zu verdauen. Theseus wollte nicht (schon wieder) gefressen werden. Es war nicht empfehlenswert.
„Theseus Rendall. Sie sind also endlich wach" bemerkte die Frau nur und Theseus sah kurz zu der Liege und dann wieder zu der Frau.
„Nein. Bin ich nicht. Ich bin Schlafwandler" beantwortete er nur so ehrlich es ihm möglich war. Die Frau wirkte nicht wirklich belustigt.
„Setzten Sie sich bitte und ziehen Sie ihr T-Shirt an. Es wurde extra für Sie angefertigt" befahl die Frau fast schon sanft und deutete auf das dunkelgrüne T-Shirt, dass auf dem Metallkästchen neben der Metallliege lag. Theseus hatte es übersehen.
„Okay" meinte er nur schulterzuckend und zog sich das T-Shirt über.
Vielleicht sollte man nicht wirklich den Befehlen einer Frau gehorchen, die dich nach deinem Tod aufgeklaubt und mitgenommen hat, aber Theseus wollte das friedlich klären. Gewalt war keine Lösung. Und auch keine Antwort. Gewalt war ein Weg, den man einschlagen konnte und Theseus würde es präferieren, dies nicht tun zu müssen.
„Sehr gut. Ich bin die Leiterin der Scena. Ihnen wohl besser bekannt als die Arena, doch das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass Sie nun ein Teil unserer Spiele werden. Gratulation."
Theseus fühlte sich nicht wirklich in der Position diese Gratulation in Empfang zu nehmen.
Die Arena, auch Scena genannt, wenn man fancy sein wollte, war ein Ort des Todes. Phoenixe wurden von den Jägern eingesammelt und hier hineingesteckt, damit sie gegen ihren Willen gegeneinander kämpfen mussten. Hier hieß es Kämpfe oder Stirb.
„Aha. Okay. Wieso?" fragte Theseus nur nickend, als würde er diese Information erst einmal verarbeiten müssen. Die Wächter schienen ziemlich verdutzt über diese Antwort.
„Weil Sie ein Phoenix sin-"
„Das ist mir schon klar. Danke. Aber wieso reden Sie so persönlich mit mir? Jeden Tag kommen hier sehr viele Phoenixe hin. Ich denke nicht das Sie sich für jeden Zeit nehmen. Und wenn doch, dann sind Sie eine echt nette Leiterin dieser Killerarena" fragte Theseus nur unschuldig. Es war tatsächlich eine erste Frage. Er wollte wissen, wieso diese Leiterin hier mit ihm plauderte, anstatt normales Leiterinnen-Zeug zu machen, wie beispielsweise...leiten.
"Bringt mir den Eisen. Ich will es selbst tun" meinte sie nur kalt lächelnd. Vom "Eisen" hatte Theseus noch nie gehört aber als einer der Wachmänner ohne weitere Frage einen Eisenstab mit einer seltsame, glühenden Form am einen Ende zu der Frau brachte, musste Theseus schlucken.
Die anderen beiden Wachen packten ihn und obwohl er versuchte sich zu wehren, so stark es nur möglich war, doch seine Versuche waren zwecklos und die Frau kam noch näher.
Die Luft war erfüllt von dem Geruch nach Rauch und bald würde es auch noch nach verbrannten Fleisch riechen. Theseus' Fleisch.
Sie zielte auf seinen Unterarm und presste das Eisen dagegen.
Ein unfassbarer, brennender Schmerz durchzog Theseus' Körper und er zog sich zusammen. Er stieß einen grellen Schrei aus und kniff die Augen zusammen. Die Hitze durchströmte seinen Körper und auch nachdem die fremde Frau das Eisen wieder von der Stelle entfernte, brannte es weiter als würde seine Hand noch immer im Feuer liegen.
Wo einst ein paar Armhaare gewesen waren, prangte jetzt eine Nummer. 7030.
7030 Opfer hatte die Arena bereits. 7030 Phoenixe waren in dieser Hölle gefangen. 7030 Leben wurden hier einfach verschwendet.
„Wieso Sie so besonders sind, werden Sie noch früh genug erfahren, Sick Boy. Begleitet ihn hinaus. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben" meinte die Leiterin noch kühl und die Wachen schupften Theseus unfreundlich weiter, als wäre er ein Rind, dass zum Schlachten gebracht wurde.
Vermutlich war das auch seine zukünftige Destination. Schließlich war er jetzt ein offizieller Spieler in der Arena und somit eine absolute Leiche. Er musste seine Jobbeschreibung von Teilzeit- auf Vollzeit-Leiche umändern. So viel Papierkram. Großartig.
„Warten Sie- was meinen Sie mit Sick Boy?" rief er der Leiterin noch hinterher, doch es war zu spät. Seine Worte verklangen in den langen Gängen der Arena und er wurde von den Wachen weitergeschleppt.
Hinein, in seinen vermutlich sofortigen Tod.
Welch ein schönes Urlaubsziel.
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