9 Erde! Tu dich auf!
Wie aus verschiedenen Andeutungen vielleicht schon bekannt ist, habe ich während des Studiums als freie Mitarbeiterin bei einer Tageszeitung gearbeitet.
Der Job war schlecht bezahlt, arbeitsintensiv, aber ausgesprochen spannend und interessant.
Als die CommunityLounge nach peinliches Situationen in unserem Leben gefragt hat, ist mir als erstes ein Sommerabend eingefallen, an dem ich am liebsten im Boden versunken wäre.
"Das musst du machen, Sia!" hatte mein Redakteur bestimmt, als er meine zum Himmel gedrehten Augen bemerkte. "Wir wollen das aus der Sicht einer jungen Frau geschrieben haben."
Wer mein Interview bei @vermittlerin gelesen hat, wird jetzt wohl an den Artikel über die Stripper denken. Gebt es zu! Ich sehe euer Grinsen.😅
Aber ich muss euch enttäuschen - es war so ziemlich das Gegenteil.
Ein feierliches Gelöbnis junger Soldaten stand an. Ich weiß jetzt gar nicht, ob es da schon Soldatinnen gab, aber in der Kleinstadt nahe Regensburg waren keine dabei.
Als Pazifistin habe ich dem Termin nicht einmal besonders nervös entgegengesehen, war nicht vor Ehrfurcht erstarrt, als ich das eingezäunte Gelände am Sportplatz erreichte.
Doch nach und nach nach zog mich die Stimmung in ihren Bann. Ein Presseoffizier begrüßte mich am Eingangstor, geleitete mich ( nie hatte dieses Wort je wieder so gut gepasst) zur einem Teil der Tribüne, zog mir den Stuhl, der mit einem rotgoldenen Kissen gepolstert war, zurecht, überreichte mir eine dicke Mappe mit all den Reden, die gehalten werden würden und dem ausführlichen Programm, winkte einem anderen Uniformierten, der mir eine Flasche Wasser und ein Glas brachte.
Mein Blicke glitten über mein Umfeld, es waren deutlich mehr Kollegen um mich herum als bei anderen Terminen. Das schien wirklich eine große Sache zu sein. Zahlreiche Fotografen hatten sich mit großen Kameras auf Stativen am Rande des Feldes platziert, auch einen Kameramann machte ich aus.
Eltern füllten die Plätze auf den Rängen, manche Mama wischte sich die Augen trocken, hin und wieder auch ein Papa.
Die jungen Männer standen in Reih und Glied in der Mitte des Spielfeldes, Augen geradeaus, Rücken durchgestreckt, um sie herum erleuchteten Fackeln das Areal.
Die Militärkapelle begann zu spielen, dann folgten die Reden von verschiedenen Offizieren und Politikern, bis der eigentliche Höhepunkt erreicht war: Die Rekruten sprachen den Eid.
Ich saugte die Stimmung in mir auf, mitzuschreiben brauchte ich ja nichts, ich hatte alles gedruckt in der Mappe, auch die Musikstücke mit Komponistennamen und den Text des Eides.
Nach dem offiziellen Teil unterhielt ich mich mit einigen der jungen Männern und mit Eltern, trank ein Glas Sekt mt Orangensaft und machte mich schließlich auf den Heimweg.
Der Text sollte an diesem Abend noch raus, aber das wäre nicht viel Arbeit, es mussten nur all die Informationen gekürzt werden.
Ich fuhr meinen Laptop hoch, zog meine Tasche zu mir, griff hinein - und fühlte nichts außer meinem Schreibblock, dem Mäppchen mit den Stiften und dem Aufnahmegerät.
Kalte Panik ergriff mich.
Wo war die Pressemappe?
Ich schüttete sicherheitshalber den Inhalt auf den Tisch. Eine Packung Taschentücher und ein paar Bonbons war alles, was dort landete.
Mein Herz setzte aus, raste los. Ich wurde abwechselnd knallrot und schneeweiß.
Es war einer der wichtigsten Termine des Jahres gewesen, und ich hatte - nichts! Keinen einzigen Namen, kein einziges der gesprochenen Worte.
Die Mappe lag wohl neben dem Stuhl, da, wo ich sie hingelegt hatte, um während der Veranstaltung Notizen zu machen, bevor die Stimmmung mich gefangen genommen hatte.
Nach einigen Minuten in Schockstarre, beschloss ich, das Beste daraus zu machen - es blieb mir auch gar nichts anderes übrig.
Also beschrieb ich meine Gefühle an diesem Abend, Gedanken über die Zukunft der Rekruten, Ängste und Stolz der Eltern, Zuversicht und Vorfreude bei den Söhnen. Mein Finger flogen nur so über die Tasten.
Ich hatte keine Zahlen, keine Namen, keine Zitate. Aber die konnten Leser auch bei den Konkurrenzblättern nachlesen.
Ich hatte dafür einen Dreispalter mit echtem Leben und ging ziemlich zufrieden schlafen, nachdem ich auf "Senden" gedrückt hatte.
Doch als am Morgen das Handy klingelte und ich die Nummer meiner Redaktion erkannte, hatte die Feigheit mich wieder in den Klauen. Ich ging nicht ran.
An Schlaf war danach nicht mehr zu denken. Ich hörte die Mailbox ab, wappnete mich gegen einen Anpfiff. Die Worte, die an meine ängstlichen Ohren drangen, habe ich nie wieder vergessen: "Ich wusste schon, warum ich unbedingt wollte, dass du das machst! A good Job!"
Meine Beine stießen urplötzlich am unteren Bettteil an, weil ich unvermittelt einen halben Meter gewachsen war.
Die peinlichste Situation meines Lebens hatte sich zum Guten gewendet.
Das Dankesschreiben des Generals, dessen Namen ich nicht einmal erwähnt hatte, liegt ganz vorne in der Mappe mit meinen Artikeln.
Vielleicht klingt das jetzt ein bisschen nach Selbstbeweihräucherung. Doch glaubt mir, das Selbstvertrauen, das ich an diesem Tag gewonnen habe, habe ich damals dringend nötig gehabt!
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