4 Musikalisch


Sollte mich jemand fragen, ob ich musikalisch bin, würde ich das auf alle Fälle bejahen.

Allerdings ist niemand aus meinem persönlichen Umfeld der gleichen Meinung wie ich.

Was ich nicht verstehen kann. Oder vielleicht doch?

Es ist ein wenig seltsam. Meine Schwester singt im Chor und spielt Gitarre zu Niederknien.
Warum sind all die Gene bei ihr gelandet? Machen Gene das? Überfluten ein Kind und vergessen das zweite?

Ich wollte das schon als Grundschülerin nicht akzeptieren und meldete mich, wie alle damals, zum Blockflötenkurs an. Warum der Musiklehrer meinen Eltern den Vorschlag gemacht hat, dass ich besser Melodica spielen sollte, habe ich weder damals verstanden, noch tue ich es heute.

Mir hatten die Töne, die ich der Flöte entlockt hatte, sehr gut gefallen.
Aber eben wohl nur mir.
So stand ich beim jährlichen Musikschulkonzert zwischen denen, die glockenklare Klänge erzeugten – mit einem eher brummenden Instrument.

Der Lehrer hatte mich gebeten, nicht zu fest zu pusten – etwas, das ich damals auch noch nicht so recht begriffen hatte. Ich war sieben Jahre alt und hatte mein musikalisches Selbstbewusstsein noch nicht verloren.

Im Gymnasium wurde ein kostenloser Geigenkurs angeboten, genau das Richtige für mich. Es gab Leihgeigen, aber ich musste natürlich eine eigene haben, denn mit einem Leihinstrument würde man keine Musikkarriere starten können.

Es waren harte Kämpfe, die ich mit meinen Eltern ausfocht, die mit „Bitte" begannen und mit „Ihr gönnt mir gar nichts!" endeten.

Also bekam ich meine Geige, stolzierte jeden Donnerstag hocherhobenen Hauptes mit dem Geigenkasten durch die Stadt zum Unterricht, übte überaus fleißig zu Hause.
Die Töne, die ich erzeugte, klangen wundervoll in meinen Ohren. In denen meiner Familie wohl eher nicht, denn sie hatten immer öfter an den Nachmittagen Termine.

Ihrem Elend und meinen Ambitionen wurde ein sehr jähes Ende gesetzt, als der Geigenlehrer verstarb. Noch heute lehne ich jede Verantwortung an seinem Tod vehement ab.

Ich stellte meine Musikkarriere erst einmal zurück. Der richtige Zeitpunkt würde sich schon ergeben, davon war ich überzeugt. Die nächste Gelegenheit bot sich, als ich während des Studiums einen Zettel angepinnt am schwarzen Brett fand, auf dem Interessenten für eine Anfänger-Gitarrengruppe gesucht wurden.

„Bei mir lernt jeder innerhalb eines Jahres, erste Lagerfeuerlieder zu spielen!" verkündete der Anbieter selbstsicher.
Ahnt ihr vielleicht, dass auf dem nächsten Zettel das „jeder" mit einem „fast" ergänzt wurde?

Aber ich greife vor. Ich schwatzte meiner Schwester eine ihrer Gitarren ab, besuchte freudig den ersten Kurs. Nach drei für ihn wohl qualvollen Wochen fragte mich der Kursleiter, ob ich womöglich, vielleicht, eventuell Interesse an einem anderen Hobby hätte.
Es tat ein wenig weh, denn er war zum einen ein echt hübscher Kerl, und zum anderen war ich schon immer eine pädagogische Optimistin – glaube also daran, dass Förderung wichtiger ist als Veranlagung.
Ich bin es noch immer, auch wenn mich niemand musikalisch fördern wollte.

Doch dann erinnerte ich mich, dass das so nicht stimmte. Als ich fünf war, durfte ich mit dem Sohn eines Kollegen meines Vaters auf seinem Klavier spielen, und er übte mit mir unendlich geduldig den Flohwalzer ein.

Also! Da hatte ich es! Ich hatte nur die falschen Instrumente gewählt und unfähige Lehrer gehabt.
Nein, keine Angst! Ich habe mir auf diese Erkenntnis hin kein Klavier gekauft – nur ein Keyboard.

Und natürlich einen Berg Notenhefte dazu bestellt, mit Songs meiner damaligen Lieblingsinterpreten.
Denn Notenlesen kann ich ja, das hat etwas mit Mathematik zu tun, was so mein Ding ist.
Ich übte wie besessen Melodie um Melodie, bis ich eine Sehnenscheidenentzündung in beiden Handgelenken bekam, aber nie klangen die Töne so, wie ich sie in meinem Kopf hörte.

Zum Glück lebte ich damals allein, kein Mann hätte diese Folter wohl überstanden.

Denn sowohl meine Schwester, mit der mich eine innige Liebe verbindet, als auch meine Eltern, die ihre Kinder lieben müssen, stellten eine ganze Weile ihre Besuche ein.

Während ich diesen Text hier schreibe, läuft eine musikalisch begleitete biographische Sendung über Bach im Fernsehen. Wunderschöne Töne, gigantische Cantaten!

Vielleicht sollte ich ..... ?

Nein, keine Angst! Das Keyboard habe ich meiner kleinen Nichte geschenkt, die der Wergel wunderschöne Töne entlockt. Die Gene eben ......

Ich werde in Zukunft lieber rechnen, denn das kann ich gut – und schreiben - das kann ich besser, als ein Instrument zu spielen.

Und ich glaube, dass ich mir eingestehen muss: Musikalisch bin ich nicht.
Aber ich kann fantastisch gut zuhören.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top