1 Ein Sommertag auf dem Land


Montagmorgen, 6 Uhr

Ich sitze auf der Terrasse, die erste Tasse Kaffee neben mir und genieße die himmlische Ruhe. Ein paar Amseln singen Liebeslieder, ein paar Spatzen versuchen es auch – klappt nicht so recht.

Ein paar Meisen holen sich die letzten Beeren von den Sträuchern.

Deshalb bin ich aufs Land gezogen – dieser Ruhe und Idylle wegen. Weg vom Lärm der Stadt.

Dafür nehme ich auch gerne in Kauf, dass der nächste Supermarkt fünf Kilometer entfernt ist und der nächste McDonalds zwölf, dass kein Pizzaservice und kein Asiate mich beliefert, und dass der Vorrat an Wein im Auge behalten werden muss.

Diese Ruhe – mit nichts zu bezahlen.

Diese Ruhe, von sechs Uhr bis sechs Uhr dreißig,   denn dann beginnt der tägliche Wahnsinn.

Ich wohne übrigens in einer Sackgasse mit acht Häusern und 35 Autos zu Spitzenzeiten – ohne Besucher.

Unterhalb von mir hat sich ein Dienstleister angesiedelt, mit zehn Angestellten.

Zehn Angestellte – das bedeutet zehn Autos.

Abgesehen davon, dass dadurch die Parkplatzsituation in unserem Sträßchen mehr als angespannt ist, heißt das natürlich auch:

Zehn Autos, die am Morgen ankommen, im Sommer mit offenem Fenster, lauter Musik, schlagenden Autotüren, kräftig Gas beim Einparken.

Um sechs Uhr dreißig kommt der erste, gegen zehn Uhr der letzte.

Dazwischen zahlreiche Mandanten und die Chefs – siehe oben.

Jedes Fahrzeug wird freudig begrüßt von einem der Permanentdackel der Nachbarn unterhalb des Dienstleisters. Die haben permanent Dackel, wenn einer endlich das Zeitliche segnet, beglückt uns 14 Tage später schon der nächste, permanent bellend, permanent unerzogen. (Sorry, Hundefreunde! Ich bin definitiv keine mehr von euch.)

Es ist also sechs Uhr dreißig, das erste Fahrzeug brennt die Sackgasse hinauf, triftet durch die Kehre, rast nach unten, parkt vor meinem Garten ein, Gott sei Dank hört die Fahrerin den gleichen Radiosender wie ich.

Der Dackel bellt, die verliebten Amseln fallen vor Schreck vom Dachfirst.

7.45, 7.46, 7.50, 8.15, .... - siehe oben.

Wer so früh zu arbeiten beginnt, muss erst einmal frühstücken, also zehn Mal die Kaffeemaschine angeworfen, zehn Mal die neuesten Wochenenderlebnisse berichten, bei offenem Fenster natürlich – es ist ja Sommer.

Mittlerweile steht die Sonne schon ein wenig höher, die elektronisch gesteuerte Beschattung des Wintergartens meiner direkten Nachbarn schließt sich.
Ein paar Spatzen fallen vor Schreck von den Bäumen.
Der Hund bellt - warum auch immer.

Nun ist auch der Nachbar auf der anderen Straßenseite erwacht – es ist acht Uhr – und beginnt sein Training auf dem Laufband, wegen der frischen Luft bei geöffnetem Fenster und wegen des Lärms, den das Laufband macht, mit laut gestelltem Fernsehapparat.

Sein 14jähriger Sohn sitzt schon - oder noch, so genau weiß man das nie – am Computer. Jeder Treffer des Ballerspieles wird kommentiert: „Scheiße! Geil!"

Wegen der frischen Luft steht das Fenster offen, aber die Sonne stört, also Rollo zugedonnert – eine Meise fällt vom Baum, der Hund bellt, er fühlt sich wohl von den Kommentaren angesprochen.

Eine Wolke hat sich vor die Sonne geschoben, die sensorgesteuerte Beschattung des Wintergartens öffnet sich. Die Vögel haben aufgegeben, deshalb fällt auch keiner mehr vom Baum. Aber der Hund bellt.

Es ist acht Uhr dreißig. Der Nachbar schräg gegenüber beginnt den Reigen der Rasenmäher, mit Motor natürlich, 600 Quadratmeter kann man nicht elektrisch mähen. Sein Rasen scheint voller Steine und Äste zu liegen, das Rasenmähen hört sich an wie ein Schredder im Steinbruch. Nach dem Mähen kommt die Motorsense zum Einsatz für die Ränder.

Eine Stunde später: Der Nachbar zwei Grundstücke oberhalb denkt: „Rasenmähen! Eine gute Idee!" – siehe oben.

Fünf weiter werden folgen, natürlich zeitlich versetzt.

Einige haben heute aber keine Lust zum Rasenmähen, sie schneiden lieber die Hecke, natürlich mit der Motorheckenschere oder häckseln ein wenig.

Ein paar Paketdienste trudeln ein, wegen der begrenzten Einkaufsmöglichkeit auf dem Lande wird halt mehr im Internet bestellt.

Diese Lieferanten verbinden zwei Dinge:

Sie sind allesamt schwerhörig, deshalb muss das Radio extrem laut aufgedreht werden, und an ihren Fahrzeugen ist grundsätzlich der Anlasser kaputt, deshalb muss der Motor weiterlaufen, während sie liefern.

Den Dackel freut's, hat er wieder mal jemanden zu begrüßen.

Es ist elf Uhr: das Nachbarstöchterlein erwacht aus seinem wohlverdienten Schlaf, erkennbar am hochgeknallten Rollo.

Eine wagemutige Amsel hat sich auf den Dachfirst zurückgewagt, ist aber vorgewarnt, krallt sich fest, fällt nicht. Aber der Hund bellt.

Dann beginnt der Fahrzeugreigen der Familie des Töchterleins. Vier Personen plus die jeweilige Freundin bzw. der Freund des Nachwuchses – macht sechs Autos plus ein Motorrad.

Für diese Fahrzeuge stehen zwei Garagen, zwei Stellplätze davor und zwei Carportplätze, die hintereinander liegen, zur Verfügung, was dazu führt, dass immer mindestens ein Fahrzeug bewegt werden muss, damit das andere wegfahren kann.

Von Beruf müssen alle sechs Paketausfahrer sein, wegen der Schwerhörigkeit und dem Problem mit dem Anlasser. Außerdem hat der arme Sohn sehr viel Pech mit seinem jeweiligen Auto oder Motorrad. Ständig ist der Auspuff kaputt, und er hat wohl kein Geld, diese dröhnenden Monster reparieren zu lassen.

Ich habe mir fest vorgenommen, auf dem nächsten Straßenfest für diesen Zweck zu sammeln.

Töchterlein will wegfahren, öffnet und schließt die acht Türen ihres Kleinwagens – sie muss einen neuen haben, der letzte hatte 16 Türen.

Leider steht das Auto des Bruders im Weg, es muss erst weg. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllt die Luft, der Motor muss aber erst warmlaufen, bevor der Wagen bewegt werden kann. In dieser Zeit werden 14 Autotüren auf ihre Funktion überprüft und Töchterlein zieht sich ein paar Rap-Songs rein.

30 Minuten später: das röhrende Monster hat in der Garage Platz gefunden, die 14 Türen werden zur Sicherheit noch einmal überprüft, das Garagentor schließt sich mit lautem Knall.

Der Dackel bricht erschöpft zusammen. Viel Arbeit heute!

Es ist 12 Uhr 30

Ich bin verwirrt, spitze die Ohren, höre nichts!

Na gut, das bisschen Lärm von der Beschattung des Wintergartens nebenan – es ist ein wolkiger Tag heute – der Sensor gibt im Minutentakt den Befehl zum Öffnen oder Schließen, aber wenn die Vögel sich daran gewöhnen können, schaffe ich das vielleicht auch.

Aber sonst? Ach ja – Mittagszeit!

Ach ja – Mittagszeit!!!!

Die Belegschaft des Dienstleisters trifft sich im Garten.

Ich gebe auf, verziehe mich an den Computer, schließe die Terrassentüre etwas unsanft.

Neun Damen und ein Herr, dieser Geräuschpegel übertrifft alles.

Der Dackel möchte sich auch an den Gesprächen beteiligen, findet aber kein Gehör, was ihn aber nicht dazu bewegt aufzuhören mit dem Bellen.

Die Vögel, die sich in den Bäumen zum Mittagsschlaf niedergelassen haben, flattern entrüstet davon. Ich beobachte sie, vielleicht kennen sie eine ruhigere Straße?

Töchterlein kommt nach Hause, Sohn fährt weg, Sohn kommt nach Hause, Freund der Tochter kommt nach Hause, Mutter fährt weg, Freundin von Sohn kommt nach Hause, beide fahren weg, Mutter kommt nach Hause, Vater und Mutter fahren weg etc. etc. etc.

Gefühlte 200 Fahrzeugbewegungen, 2000 Autotüren pro Tag. Irgendwann sind alle zu Hause. Ich atme auf, der Hund entspannt sich heiser, die Vögel kehren zurück.

Doch dann beschließt der Sohn, noch eine Spritztour mit dem Motorrad zu machen, das auch einen Auspuffschaden hat – siehe oben.

Es ist 14 Uhr. Die Belegschaft des Dienstleisters kehrt zurück an die Arbeitsplätze, zur Stärkung braucht aber jeder noch eine Tasse Kaffee.

Ich wage mich wieder hinaus.

Mittlerweile hat der Sohn des Nachbarn gegenüber Besuch von zwei Freunden bekommen. Sie sitzen zu dritt am Computer, kommentieren jeden Schuss des Ballerspieles: „Scheiße! Scheiße! Scheiße! Geil! Geil! Geil!"

Nach einer Stunde wird es langweilig, das Geübte muss in die Tat umgesetzt werden. Mit Softairwaffen ausgerüstet toben sie ums Haus, planen den Hinterhalt, schießen sich hundertmal gegenseitig tot.

Dem Nachbarn, der als erster Rasen gemäht hat, ist nun auch langweilig. Er beginnt ein Zaungespräch mit dem Vater des ballernden Sohnes. Er hat eine Stimme, als hätte er ein Megafon verschluckt. Der Vater des ballernden Jungen dagegen ist nicht zu verstehen. Das macht den Dialog für unfreiwillige Zuhörer etwas öde.

Ich versuche trotzdem, ein paar Seiten zu lesen.

Es ist 15 Uhr.

Der vierte Rasenmäher wird angeworfen, die Heckenschere ist noch nicht verstummt, die Beschattung geht auf und zu, die Jungs ballern, die Angestellten des Dienstleisters machen Kaffeepause.

Ich gebe auf. Ziehe mich an meinen Computer zurück, schließe die Terrassentüre etwas unsanft.(Hatten wir schon mal - ich weiß)

Plötzlich erbebt das Haus. Ich erstarre. Ein Hubschraubereinsatz direkt neben meinem Haus? Haben die Kids scharfe Munition erwischt, hat der Dackel einen Schwächeanfall? Oder eine Angestellte des Dienstleisters Herzflattern wegen zu viel Kaffeegenusses?

Doch schnell wird mir klar: Es ist Montag! Das unbebaute Grundstück neben mir gehört einem Frisör, der regelmäßig am Montag mit seinem Mähtraktor die Unkrautwiese mäht und am Samstag die meterlange Tujenhecke schneidet, ganz egal, ob in der vorausgegangenen Woche etwas von beiden gewachsen ist oder nicht.

Es ist 16 Uhr

Das Rasenmähermonster verschwindet in der Garage.

Das Dienstleistungsbüro macht Feierabend. Zehn Autos werden geöffnet, die Zündung angemacht – es ist heiß - die Klimaanlagen brauchen Saft.

Zur Sicherheit macht man auch das Radio an, man könnte ja etwas versäumen. Leider hören nicht alle den gleichen Sender, was an mein Ohr dringt, klingt babylonisch.

Dann beginnt die allgemeine Verabschiedung über den Lärm der Radios und der Klimaanlagen hinweg, man könnte meinen, mindestens jede zweite überlebt die kommende Nacht nicht.

Ich hätte da schon die eine oder andere Idee!!

Zu dieser Zeit kommt Sohn mit dem Motorrad nach Hause, zwei Autos stehen im Weg, Vater und Mutter wollen wegfahren, auf dem Garagenvorplatz bricht ein Verkehrschaos aus, sechs Autos und ein Motorrad blockieren sich gegenseitig und die Straße.

Die Angestellten kommen nicht mehr durch, nutzen die Verzögerung für ein kleines Pläuschchen. Der Hund ist ganz aus dem Häuschen über so viele Gesprächspartner.

Die Kids haben ihre Waffen abgegeben, sich wieder an den Computer zurückgezogen.

Die Wolken haben beschlossen, nicht mehr weiterzuziehen, ihnen war wohl das ewige Auf und Zu der Beschattung zu blöde.

Der sechste Rasenmäher legt los. 18 Uhr, noch zwei Stunden dürfen alle Gartengeräte auf Hochtouren laufen, elf Stunden habe ich schon überstanden.

Eltern holen die Freunde des ballenden Sohnes ab, ein kleines Schwätzchen an der Haustüre muss noch sein – dieses Mal verstehe ich wenigstens alles.

Freundin von Sohn und Freund von Töchterlein fahren weg, herzzerreißende Abschiedsszenen vor der Garage, noch mal die Autos umgeparkt, noch mal Abschiedsszenen. Ein paar Autotüren auf und zu.

Sohn und Tochter fahren weg, ich atme auf, vor halb zwei Uhr nachts erwarte ich sie nicht zurück.

Um halb acht Uhr kommt mein Mann nach Hause. Die Amseln singen Liebeslieder, die Spatzen versuchen, es ihnen gleichzutun und in der Ferne: ein paar leise Kinderstimmen.

Mein Mann steht im Garten und sagt: „Hast du es gut! Diese Ruhe und dieser Frieden den ganzen Tag!"

Ich knirsche innerlich mit den Zähnen und antworte: „Na, deshalb sind wir ja aufs Land gezogen, oder?"


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