Kapitel 55 ϟ Past
Castle on the Hill - Ed Sheeran ♪♫
79 Tage.
Der Feldweg, den ich entlang lief, war staubig. Das Wetter wechselte in den letzten Tagen ständig die Witterung, doch die warmen Stunden vermehrten sich. Der Sommer war nur noch einen Knieselsprung entfernt.
Nun ja, etwas würde es wohl noch dauern - zumindest offiziell. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, was nun nicht mehr lange dauern würde: meine Tätigkeit beim Propheten.
Heute begann meine letzte Woche. Am Freitag würde ich das Büro vorerst für immer verlassen - ich hatte das wiederholte Angebot einer Festanstellung abgelehnt.
79 Tage.
Ein wenig traurig war ich schon, doch ich wusste nicht, was ich wollte. Daher lag es für mich auf der Hand, dies zuerst herauszufinden, bevor ich einfach irgendwas machte.
Die Sonne schaute hinter einer Wolke hervor und ich seufzte bei der Wärme, die auf mein Gesicht traf. Quidditchtraining würde angenehmer werden, nicht mehr so eisig kalt. Da die offizielle Winterpause vorüber war, trainierten auch die Arrows wieder auf normalem Pensum. Für mich hieß dies doppelte Anstrengung, was mir allerdings nichts ausmachte. Lieber neun Mal in der Woche Training bei Wärme als vier Mal in der Kälte.
79 Tage.
Heute Morgen im Büro, welches ich mir - nach sich häufenden Vorschlägen, die wir beide regelmäßig abgelehnt hatten - immer noch mit Ginny teilte, hatte es im Radio eine Sonderausgabe gegeben, die sich über die ersten drei Stunden des Morgenprogramms gestreckt hatte.
Vor genau 80 Tagen war der Anschlag in London passiert, bei dem mehrere Zauberer, Hexen und auch Muggel verunglückt waren. Nicht wenige tödlich.
Nun gab es erste Berichte, die mit der Öffentlichkeit geteilt wurden. Endlich klärte das Ministerium die Allgemeinheit über die SATE auf, diesmal richtig. Nicht nur die heruntergespielte Version, die vor einem halben Jahr veröffentlicht worden ist - meiner Meinung nach ohnehin längst überfällig. Sie baten alle, nicht in Panik zu verfallen. Die Lage sei unter Kontrolle. Ich glaubte ihnen nicht.
Doch Angst hatte ich auch nicht. Zumindest nicht um mich. Wenn, dann hauptsächlich um meine Freunde und Familie. Selbst wenn die Lage nicht unter Kontrolle war, woran ich fest glaubte, denn wann hatte das Ministerium mal etwas unter Kontrolle; die Sanguras würden nie Einzelpersonen angreifen. Und so ein Anschlag brauchte ein Motiv, Planung und Sicherheit.
Und so wie das Ministerium keine Kontrolle hatte, hatten die SATE keine Sicherheit. Nicht mehr. denn wenn ich mir um eine Sache wirklich sicher war, dann, dass Shawn und die Auroren um ihn herum dafür sorgten, dass zumindest so etwas in nächster Zeit nicht geschehen würde.
Shawn. 79 Tage hatte ich ihn nun nicht gesehen, nichts von ihm gehört. In Gesprächen vermieden. Ich war überzeugt, dass es ihm gut ging.
Er würde sich durchbeißen, so wie ich es tat. Wir waren Kämpfer, das lag uns, wie er gesagt hatte, im Blut.
79 Tage. Es kam wir wie eine halbe Ewigkeit vor, auf der anderen Seite fühlte es sich wie letzte Woche an, als ich an Alias Tür geklopft hatte, um mich nach Lewis und Jace zu erkundigen.
"Ich komm ja schon! Wer - Kassy?"
"Hey, Lil. Ich ... Darf ich reinkommen?"
"Klar."
Alia trat einen Schritt zur Seite und ich durchquerte den schmalen länglichen Flur bis zum Wohnzimmer, in welches Alia mich von hinten dirigierte. Von Lewis und Jace gab es keine Spur.
"Sie sind bei Jace' Stiefdad. Kann noch etwas dauern."
"Wie geht es ihnen?"
"Na ja, ziemlich sch-"
"Sorry, war 'ne dämliche Frage", unterbrach ich sie sofort.
Lil deutete auf das Sofa und wir setzten uns. Sie bot mir etwas zu Trinken an, doch ich lehnte ab.
"Ich geh eh gleich wieder", erklärte ich.
"Zurück in die Wohnung? Ist Shawn wieder da?"
Ich schluckte. Und zu meinem Unglück - oder Glück - bemerkte Alia sofort, dass etwas nicht stimmte.
"Kassy, was ist passiert?"
"Andrew und Scott sind tot", sagte ich leise und hasste mich innerlich, die beiden als Ablenkung zu missbrauchen.
Alia schloss geschockt die Augen und sank etwas zusammen.
"Seine Teamkollegen, oder? Ich wusste, ich hab die Namen schon mal gehört. Das tut mir so leid, ich - "
"Shawn ist Zuhause. Wobei - mittlerweile vielleicht schon im Ministerium."
"Also geht es ihm gut?"
Als ich nicht antwortete, erhob Alia sich vom gegenüberliegenden Sofa und setzte sich neben mich. Die Tränen in meinen Augen verrieten mich sofort und als sie mich in den Arm nahm, brach alles aus mir heraus.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Alia brauchte keine Worte, um zu verstehen. Doch ich wollte es sagen. Aussprechen. Zu meiner Realität machen.
"Es ist endgültig."
Alia sah mich besorgt an, wie die gesamte Zeit schon.
"Endgültig wie nie wieder?"
"Endgültig wie wir werden nicht mal freundschaftlich miteinander reden. Sonst kann ich nicht abschließen. Aber ... ich habe aufgehört, immer und nie zu sagen."
Meine beste Freundin nickte wissend.
"Hast du Lust ... Hast du Lust zu helfen?"
Fragend blickte ich sie an. Sie zuckte mit den Schultern.
"Das St.-Mungo sucht dringend Helfer. Lewis und Jace sind eh nicht vor heute Abend wieder hier, wenn überhaupt. Und du ... du wolltest doch was tun, oder?"
Ich schniefte, wischte mir eine Träne von der Wange und musste dann lächeln. Plötzlich ganz aufgeladen stand ich auf.
"Das ist eine großartige Idee. Auf geht's."
Voller neuer Energie, wo auch immer diese herkommen mochte, schnappte ich mir meinen Rucksack und zog Alia vom Sofa.
Lachend ließ sie sich in den Flur schleifen, wo sie sich Schuhe und Jacke anzog. Kurz bevor wir zur Tür hinausgehen wollten, hielt sie mich am Arm fest.
"Der bleibt aber hier."
Sie deutete auf meinen Rucksack. Automatisch verstärkte sich mein Griff um den abgenutzten Träger.
"Was? Nein. Alia, nein."
Sie verschränkte die Arme und blickte mich vorwurfsvoll und entschieden an. Ich wusste, ich hatte keine Chance.
"Das kann ich nicht machen, Lil, du wohnst hier mit ... "
"Genau, ich wohne hier, und ich sage, du bleibst hier. Ich lass dich doch nicht ohne Dach überm Kopf da draußen rumwandern. Ich schicke Lewis zu Jace ins Gästebett und du schläfst bei mir. Familie muss zusammenhalten. Ende der Diskussion."
Ende der Woche würde ich bei Alia ausziehen. Ich hatte es früher versucht, doch Alia ließ mich nicht gehen, bevor ich keine eigene Wohnung hatte. Es war schwierig, etwas Passendes zu finden und Lil erlaubte mir auch nicht, etwas zu mieten, was mir gar nicht gefiel, nur um sie nicht weiter zu belasten. Doch jetzt hatte ich ein neues Zuhause gefunden.
Momentan befand ich mich in meiner Mittagspause auf dem Weg zurück ins Büro. Sobald ich einen unbeobachteten Ort entdeckt hätte, würde ich zurück nach London apparieren.
Das obere Geschoss einer Ein-Familien-Haus-Hälfte war klein, hell und beinhaltete alles, was ich brauchte. Der Weg zum Quidditchtraining sollte in Zukunft auch nicht mehr so weit sein, da sich Cassington - der ironische Name meiner neuen Heimatstadt - zumindest etwas näher an dem Trainingsstadion der Nationalmannschaft befand.
Soeben war ich hergekommen, um den Schlüssel abzuholen und die erste Anzahlung zu leisten. Die Haushälfte gehörte Joscelind Wadcock, einer ältere Hexe, die das untere Geschoss bewohnte.
Ich folgte der Gabelung zur linken Seite, in Richtung Wald. Wenig später verschluckten mich die Bäume, die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke und im nächsten Moment verschwand ich gemeinsam mit dem nächsten Windstoß.
Mit kribbelnden Füßen tauchten wir in einer Seitengasse auf. Das Lächeln hatte sich von meinem Gesicht gestohlen, bei dem Gedanken daran, welche Aufgaben mich gleich konfrontieren würden, doch eine kleine Flamme in meinem Inneren wuchs mit jedem Schritt.
Alia flüsterte der Schaufensterpuppe zu und in der nächsten Sekunde schlüpften wir in die Eingangshalle des St.-Mungo Hospitals für magische Krankheiten und Verletzungen.
So schlimm wie am vorherigen Tag war es nicht mehr. Die Halle wurde weitestgehend freigeräumt, nur eine Schlange von Besuchern und leicht Verletzten schmiegten sich an die äußeren Wände. In der Mitte war ein Informationspodest aufgebaut. Ich konnte mich nicht erinnern, ob er gestern auch schon dort gestanden hatte, denn es war gut möglich, dass ich ihn aufgrund der Menschenmassen nicht gesehen hatte.
Gegen die anderen Wartenden konnte sich die Traube vor dem kleinen Tresen nicht behaupten. Es dauerte keine zwei Minuten, ehe Alia und ich an der Reihe waren.
Noch bevor wir unseren stummen Krieg darüber, wer reden musste, anfangen konnten, meldete sich die Mitarbeiterin zu Wort: "Die Schlange für seelische Unterstützung ist dort drüben", und zeigte auf die linke Wand.
Alia und ich blickten uns verdutzt an. Auch die Dame schien unsere Verwirrung zu bemerken und ihr kurzer Finger richtete sich auf mich.
"Na, deinetwegen. Hier geht's auch nicht schneller."
Die Galleone fiel. Ich sah wohl noch so schrecklich aus, dass sie mich für eine Patientin hielt.
"Oh, nein, wir sind zum Helfen hier."
Die Dame blinzelte. Sie blinzelte erneut. Und nochmal. Dann brach sie in leises Gelächter aus, das ihren ganzen Körper zum Beben brachte.
"In diesem Zustand? Ha ha, nein, hi hi. Du kannst ... Ha! Du kannst in die andere Schlange gehen. Hi hi. Helfen ..."
Alia und ich blickten uns sprachlos an. Unbeholfen ließen wir uns von der scheuchenden Handbewegung der Dame zur Seite drängen.
"Alia? Kassy?"
"Liv!", atmete Alia erleichtert auf. "Die wollen uns nicht helfen lassen, weil sie Kassy für ... na ja ..."
Olivia schlängelte sich an zwei ausgewiesenen Helfern vorbei.
"Meine Güte, du siehst aber auch nicht gesund aus. Trink das."
Sie zog eine kleine Phiole aus einer ihrer Taschen und reichte sie mir. Zögernd nippte ich an der hellorangenen Flüssigkeit und leerte sie schließlich in einem weiteren Zug.
Danach nahm sie uns unter bestürztem Blick der Infostanddame mit nach oben. Liv führte uns ins dritte Stockwerk und übergab uns in die Hände ihrer Kollegin.
Diese stellte uns einige Fragen, während wir in passende Kleidung gesteckt wurden und einen Ausweis erhielten. Schließlich teilte man uns auf - ich sollte mich um kleinere Verletzungen bei Zauberern und Hexen kümmern und die Fluchbetroffenen pflegen, Alia würde den Heiltrankbrauern zur Seite stehen und beim Oblivieren helfen.
Wir blieben. Ich machte mich ganz gut darin, die Gegenflüche zu lernen und Alia blühte regelrecht auf. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht, braute sie einen Zaubertrank nach dem nächsten, heilte Verletzungen und sorgte für gerechtes Oblivieren der Muggel.
Olivia sahen wir nur selten, da sie sich um die schweren Fälle auf einem anderen Stockwerk kümmerte, doch nach zwei Tagen, am Montag, schaute sie bei mir vorbei.
"Ich habe gehört, du machst dich so gut wie Alia?", begrüßte sie mich.
"Nicht mal halb so gut", entgegnete ich lachend. "Aber es läuft ganz okay."
"Kassiopeia?", rief mich ein Heiler im Vorbeigehen, dem ich seit zwei Tagen vergeblich versuchte zu erklären, mich einfach "Kassy" zu nennen.
"Ich muss", verabschiedete ich mich von Olivia und umarmte sie kurz.
"Ich find's übrigens super, dass ihr immer noch hier seid." Sie lächelte mich an. "Danke."
"Kassiopeia!"
Ich hechtete in das benachbarte Zimmer, wo Joscelind Wadcock lag, deren Hand einen Fluch abbekommen hatte.
Eigentlich lag sie nicht in meinem Abschnitt, aber seitdem ich Joscelind gestern Morgen notgedrungen einen Tee vorbeigebracht hatte, ließ sie sich von kaum jemand anderem behandeln. Dabei war ich gar nicht qualifiziert genug für ihre Verletzung, doch das schien sie nicht zu interessieren.
Denn zu meiner Überraschung hatte sie mich erkannt - so, wie auch ich sie erkannt hatte.
Joscelind Wadcock, ehemalige Jägerin der Puddlemere United. Sie hielt den Rekord für die meist geworfenen Punkte in einer Saison.
Mich erkannte sie sofort als Kassiopeia Bole, oder eher als Sassy Kassy, wie mich die Witch Weekly vor einigen Wochen vorgestellt hatte. Ich fand den Namen gar nicht lustig, aber Alia hatte nach wie vor ihren Spaß daran.
Wir kamen ins Gespräch und nun wollte sie, wann immer sie sich einsam fühlte, eine Unterhaltung mit mir führen. Dass ich eigentlich noch andere Patienten hatte, kümmerte sie wenig.
"Kassiopeia, endlich", meckerte der Heiler. Er schien gar nicht damit einverstanden zu sein, dass ich als unausgebildete Laie so wichtige Aufgaben wie das Fluchbehandeln bekam. "Miss Wadcock möchte, dass du ihren Verband wechselst."
Damit drehte er auf dem Absatz um und verschwand. Verband wechseln? Wie machte ich das richtig? Ich war hier zum Behandeln von leichten Flüchen, was mir mit jedem Tag mehr Spaß machte, aber die Verbände waren stets abgenommen, wenn ich den Raum betrat und wurden wieder von anderen erneuert.
Planlos setzte ich einfach ein Lächeln auf und startete eine Konversation. Joscelind freute sich und fing sofort begeistert an, zu erzählen.
Ich entfernte zuerst den alten Verband ab und versuchte mir zu merken, wie er gewickelt war.
"Eine schöne Kette haben sie da", sagte sie plötzlich und deutete mit ihrer gesunden Hand auf meinen Hals.
Instinktiv fasste ich an die Kette, die durch meine gebeugte Haltung der Luft baumelte. Ich hatte sie ganz vergessen.
Die Tränen zurückdrängend schluckte ich.
"Ja, sie ist von einem ... ganz besonderen jungen Mann."
Joscelind lächelte wissend und lehnte sich zurück.
"Ah, dann sollten sie ganz besonders für diesen jungen Mann sorgen und aufpassen, dass die Kette immer in den richtigen Händen bleibt."
Stumm nickte ich und befestigte die neue Bandage mit wenigen Zauberstabwinken.
Sie hatte Recht. Ich sollte dafür sorgen, dass sich die Kette immer in den richtigen Händen befand.
Meine waren es nicht mehr.
Noch am selben Abend schrieb ich Shawn einen Brief. Jegliche Worte, die unausgesprochen verblieben waren. Worte, die mir durch den Kopf gingen, die ich mir vom Herzen schrieb.
Und eigentlich war der Deal gar nicht schlecht, immerhin hat es funktioniert und wir haben viel gelernt.
Zwischendurch bezweifelte ich, das Geschriebene wirklich abzugeben, und nicht doch nur die Kette abzuliefern, doch nichtsdestotrotz schrieb ich weiter. Es war, als würden die ersten Wunden verheilen.
Shawn, ich habe nicht gelogen. Ich liebe dich, das werde ich wahrscheinlich für immer irgendwie tun.
Als könnte ich abschließen.
Ich dachte, ich versage, wenn ich dich gehen lasse. So wie meine Freundschaft mit Melody versagt hat. Wie so vieles in meinem Leben.
Als würde alles gut werden.
Aber Erfahrung ist Erfahrung und ich bereue nichts. Das habe ich nie und das werde ich auch nie.
Und vielleicht wurde es das.
Du hast mir mehr gegeben als sonst jemand und jede Sekunde mit dir war alles andere als verschwendete Zeit. Aber um alles richtig zu machen, muss ich jetzt gehen.
Mit jedem Tag ein Stückchen mehr.
"Kassiopeia!"
Ich schreckte hoch. Ginny kam in das Büro gestiefelt, erhobenen Hauptes und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
Hinter ihr folgte ein Schatten, größer als sie, doch er versteckte sich so elegant hinter der Tür, dass ich nicht viel sehen konnte.
"Ich habe jemanden mitgebracht!", flötete sie. "Ersatz. Nachfolger. Wie auch immer."
"Du meinst jemanden, der die zukünftige Leere meiner nicht auszugleichenden Anwesenheit füllen soll?"
"Hör auf, ich vermisse dich jetzt schon. Aber das Leben muss weitergehen. Und ich habe wirklich mein Bestes gegeben, den meiner Meinung nach hochwertigsten Ersatz zu finden. Immerhin haben sich wieder ein Haufen Leute auf das Jobangebot beworben."
"Jobangebot? Du machst Witze!"
Alia schüttelte den Kopf, während sie aus ihrer Wasserflasche trank.
"Sie haben mir die Ausbildung angeboten. Zum Heiler. Ich könnte mit ein wenig Arbeit sogar ein Ausbildungsjahr überspringen."
Ich glaubte es nicht. Das war großartig - Lil hatte früher immer ein wenig davon geschwärmt, einmal eine Heilerin zu werden, beurteilte ihre Schulleistungen jedoch von Anfang an als zu schlecht.
"Du wolltest das doch schon immer, irgendwie", freute ich mich. "Mal davon abgesehen, wie viel Gold dir in die Tasche fliegen würde."
Leicht wehmütig schüttelte Alia den Kopf.
"Ich habe abgelehnt."
"Du hast WAS?!", fragte ich bestürzt.
"Abgelehnt. Das Angebot."
"Aber - Lil!"
"Kassy ..."
"Du hast ... was? Das ist doch - "
"Kas."
"Aber ... wieso?"
Alia seufzte, sah sich rechts und links um, sichergehend, dass niemand zuhörte, und beugte sich dann nach vorne.
"Ich ... wollte es dir eigentlich nicht so erzählen, aber ... ich bin schwanger."
Ich schlug die Hände vor den Mund. Mein Herz begann zu rasen und ich konnte nicht anders als viel zu breit zu grinsen.
"Das ist ... Ach, Lil!"
Überglücklich schmiss ich mich in ihre Arme. Sie drückte mich fest.
"Das ist toll! Wie lange weißt du es schon?"
"Dreizehn Wochen! Unglaublich, dass jetzt die letzte ist."
Ginny redete seit fünf Minuten über all die Zeit, die wir gemeinsam verbracht hatten.
Nun ja, sie erzählte meinem Nachfolger all dies - ich konnte jedoch nur halbherzig zuhören, da ich Elias immer wieder unauffällig anstarrte.
Wieso ausgerechnet er? Wieso musste mich mein verdammtes Schicksal immer wieder einholen, wenn ich gerade einen Versuch gestartet hatte, es selbst in die Hand zu nehmen?
"So, Kassy", schloss Ginny nun ihren Vortrag ab. "Ich muss deinen Abschlussbericht fertig schreiben - ich überlasse Elias jetzt dir. Ihr könnt euch Kürbissaft oder so holen gehen und euch ein wenig besser kennenlernen. Und dann arbeitest du ihn ein. Also los, raus mit euch."
Keiner von uns beiden hatte erwähnt, dass wir bereits Bekanntschaft geschlossen hatten.
Achtzig Tage war es her gewesen und trotzdem hatte ich das blöde Gefühl, dass sich zwischen uns kaum was geändert hatte.
Wir verließen das Büro und ich führte Elias durch die unzähligen Türen in einen kleinen runden Raum mit hohen Decken, in dem diverse Sofas und kleine Tische standen.
"Ganz schön verwirrend hier", sagte er leise und setzte sich geräuschlos hin.
Ich führte eine saubere Zauberstabbewegung mit dem Handgelenk aus und zwei Kelche mit Kürbissaft tauchten auf dem Tisch auf.
"Du gewöhnst dich dran. Ich hab mich zu Beginn ständig verlaufen, aber mittlerweile tu ich's gar nicht mehr."
Ich setzte mich auf das Sofa gegenüber und musterte meinen Halbbruder. Noch immer hatte er nicht den blassesten Schimmer, wer hier vor ihm saß.
Mich überkam nur die Angst, dass er es bald merken könnte.
Schließlich wiesen wir Ähnlichkeiten auf, die sogar Fremden auffallen konnten. Die einzige Sicherheit blieb, dass keine Verbindung zwischen uns existierte. Wenn Theo bis jetzt geschwiegen hatte, würde er es weiterhin tun.
Ich war nicht seine Tochter.
"Tut mir leid, dass deine Zeit hier bald zu Ende ist. Ich hoffe, du fühlst dich nicht, als würde ich versuchen, dir den Platz wegzunehmen oder so."
"Florfliegendreck, nein. Natürlich nicht. Ich bin froh, fertig zu sein."
In Elias Gesicht spiegelte sich Angst.
"So meine ich das nicht", klärte ich auf. "Die Zeit hier war toll. Etwas chaotisch, seht stressig, aber wirklich toll. Es ist nur - mit Quidditch wurde das alles zu viel für mich. Außerdem ziehen wieder dunkle Zeiten auf. Ich ... möchte lieber da draußen sein und helfen, anstatt nur darüber zu schreiben."
"Kann ich gut verstehen. Aber denkst du wirklich, dass es wieder wie damals wird?" In Katies Blick spiegelte sich Angst. "Ich meine - wir kennen die Zeiten damals nur aus dem Unterricht, aus Büchern und Erzählungen. Wir waren zu dem Zeitpunkt noch nicht mal geboren. Bis auf Teddy. Und er hat seine Eltern verloren. Denkst du, es wird wieder ... so?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaube nicht. Ich hoffe nicht. Solange Granger-Weasley an der Macht ist, denke ich, dass es nicht soweit kommen wird. Sie war dabei, hat ja wirklich in der ersten Reihe gekämpft. Sie ist eine der intelligentesten Hexen, die leben. Sie wird etwas tun."
"Aber was, wenn sie nichts tun kann? Ich meine - sieh es dir doch mal an!"
Katie deutete auf die umliegenden Gebäude, die in der Verantwortung der Muggel lagen und noch zertrümmert die Straßen sperrten.
Sie hatte mich soeben von meiner Schicht im St.-Mungo abgeholt und nun liefen wir zu Fuß so ziemlich genau die Strecke ab, die auch die SATE genommen hatten. Katie sah die Zerstörung zum ersten Mal aus nächster Nähe und war geschockt.
So wie wir alle.
"Vielleicht hoffe ich einfach, dass sie es unter Kontrolle kriegt."
"Muss sie. Sonst haben wir keine Chance. Weißt du, in Brasilien kann kaum jemand den Patronuszauber. Ich weiß nicht, ob sie es nie so gut gelernt haben oder ob wir einfach einen guten Lehrer hatten, aber bei uns hat es ja gut die Hälfte des Jahrgangs geschafft."
Mein Herz schlug schneller. "Das ist mir schon häufiger aufgefallen", sprach ich eine Überlegung aus, die mich schon seit über fünf Jahren begleitete. "In Uagadou war er auch eher ungekannt. Trotzdem ... Unser Jahrgang war anders. Im Endeffekt haben nicht mal ein Drittel den Gestaltlichen geschafft, aber Saiph hat mir erzählt, dass es in ihrem UTZ-Kurs nur zwei Leute gewesen sind."
"Das muss an unserem Geburtsjahr liegen", grinste Katie und warf sich die dunklen Strähnen über die Schulter. Ich lachte.
"Oder an Professor Goldstein", gab ich zu bedenken. "Er war ein verdammt toller Lehrer."
"Ist er das nicht mehr?", fragte Katie geschockt. "Seit wann das denn?"
"Nun ja, es gab da einen Zwischenfall mit James Potter ... aber ich glaube nicht, dass es daran liegt. Ich glaube, da ist noch etwas anderes, aber ja. Er wird häufiger - "
Ich stockte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte vergeblich, ihn zu schlucken.
"Er wurde häufiger von Professor Sandhell vertreten. Sie ... sie stand auf der zweiten Liste."
"Oh", stieß Katie hervor und wurde noch blasser um die Nase. Wir bogen links ab.
Eine Weile liefen wir still nebeneinander her, ehe Katie Luft holte und mit fester Stimme sagte: "Na ja, ich hoffe, dass Professor Goldstein sich entschließt zu bleiben, oder dass jemand gutes neues kommt. Nicht nur wegen des Patronus. Ich glaube, wir brauchen jetzt das Beste, was wir kriegen können."
"Sehe ich auch so." Elias nickte eifrig. "Auf zwei Seiten sieht es besser aus."
Das Eis zwischen uns war gebrochen. Ich wusste nicht genau, wie und wann es passiert war, aber unsere Unterhaltung war irgendwie von stockend zu flüssig übergegangen und seit knapp einer Stunde hockten wir gemeinsam in dem Büro über mehreren Papieren und schoben das Layout für die nächste Ausgabe zurecht. Außerdem beschloss ich, das Beste draus zu machen, denn ich konnte nicht ewig davonlaufen.
Elias lernte schnell. Ich gab es nicht gerne zu, doch dies schien eine weitere Eigenschaft zu sein, die wir teilen. Es wunderte mich wirklich, dass er noch keinen Kommentar dazu hatte fallen lassen, da er so gut wie alles kommentierte. Doch mir sollte es recht sein.
Zugegeben überraschte es mich ein wenig, dass wir uns so gut verstanden. Wir ähnelten uns in vielen Punkten und normalerweise kam ich mit Menschen, die mir ähnelten, nicht besonders gut klar. Doch bei Elias schien es anders zu sein. Wobei ich mich weigerte, dies auf unsere Verwandtschaft zurückzuführen. Er wusste es nicht einmal, es spielte keine Rolle.
"Und hier vielleicht die Schrift etwas größer? Oder so schräg, dann kriegen wir die Feuerblitz 8 Anzeige weiter rechts drauf und dann passt das Ergebnis-Orakel noch in die Ecke."
Kritisch betrachtete ich das Layout und spielte Elias' Idee im Kopf durch. Dann fing ich langsam an zu Nicken.
"Das ist eine großartige Idee, Elias. Ja, doch, das könnte funktionieren. Sehr gut! Ich gebe das gleich ... "
Die Tür wurde aufgerissen und ich verlor mich in meinen Worten.
"Oh, Kassy, entschuldige, ich wusste nicht, dass du jemanden da hast", stammelte Camila hochrot. Sie hatte noch nie geklopft, sondern war immer gleich reingekommen. Ginny missfiel dies sehr stark, doch Camila kümmerte das nicht.
"Schon gut, komm rein", bat ich sie. "Kennst du Elias schon? Er wird meine Stelle auf Dauer übernehmen, ich arbeite ihn ein."
Die beiden schüttelten sich die Hand und Camila lächelte traurig. "Ich habe schon wieder ganz vergessen, dass du schon Ende der Woche gehst. So schade, dann sollte ich mir das Klopfen wohl wirklich wieder angewöhnen, sonst werde ich noch gefeuert."
"Gute Idee."
"Ich wollte auch eigentlich nicht viel, nur war ich eben bei MacDougal unten am Zentaur - so nennen wir den großen Tisch der Rezeption", sagte sie an Elias gewandt, "und es gab Post für dich. Ich dachte, ich bringe sie dir vorbei."
Sie streckte mir einen Brief entgegen.
Mein Herz setzte aus. Konnte es -
"Von deiner Mum", fügte Sydney hinzu und reichte mir den leichten Umschlag über den Tisch.
Natürlich war es nicht Shawn gewesen. Ich erwartete keine Antwort von ihm. Ich wollte keine Antwort von ihm. Ich hatte den Brief tatsächlich abgeschickt, die Kette beigelegt. Es war mit das Schwerste, was ich je getan hatte, doch es war das Richtige. Und ich wollte die richtigen Dinge tun. Diese Kette gehörte mir nicht mehr.
Doch mein Hals - ich - fühlte mich so nackt ohne das vertraute goldene Stück. Daher hatte ich mir als Ersatz eine neue Kette gekauft. Eine dünne goldene, ähnlich der alten, nur länger und mit einer Schildkröte als Anhänger.
Die Schildkröte erinnerte mich an Australien und damit automatisch an eine wundervolle Reise und meine Freunde. Und Schildkröten wurden alt und aßen und schliefen viel. Und nichts anderes wollte ich momentan tun.
Sydney hatte schon gescherzt, ich solle aufpassen, dass mein Animagus nicht zu einer Schildkröte mutierte.
Ich hatte beschlossen, ihr einen Besuch abzustatten. Da sie nicht wie wir anderen in London lebte, sahen wir sie am wenigsten. Doch ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Momentan wollte ich glücklich sein, und meine Freunde zu besuchen half mir. Also tat ich es.
Wir saßen bei ihr in der kleinen Wohnung, tranken Tee und quatschten einfach. Ich hatte ewig nichts gehört und stellte fest, dass ich trotz der Briefe kaum etwas wusste.
Und eine halbe Minute zuvor war eine Eule auf Syds Fenstersims gelandet und hatte gegen die Scheibe geschlagen. Nun hielt ich einen Brief in den Händen. Nicht Shawns Antwort. Ein Brief von Mum.
"Lese ich später", sagte ich nur und wollte ihn wegstecken, doch Syd winkte ab.
"Lies ihn ruhig jetzt, ich mache uns solange neuen Tee."
Sie schnappte sich die Tassen und verschwand in der Küche.
Eigentlich wollte ich den Brief trotzdem nicht lesen, doch meine Neugier siegte.
Ich überflog die paar Zeilen, die Mum mir hatte zukommen lassen und schüttelte den Kopf. Ich seufzte, biss mir auf die Lippe, warf meinen Kopf in den Nacken, stieß die Luft aus, doch nichts meiner Versuche, die Verzweiflung auszudrücken, entfernte das Geschriebene.
Dad wollte mich sehen. Der dritte Brief in vier Tagen. Mittlerweile war ich mir sicher - Dad verfolgte ein Motiv. Er wollte etwas von mir oder etwas, an das er durch mich ran kam. Ich wusste nicht, was es war, doch ich würde es herausfinden.
Seit Tagen hielt ich ihn an der kurzen Leine, doch ließ ihn nie nah genug ran, um zuzubeißen. Mein Plan war, unauffällig und mit äußerster Vorsicht dran zu bleiben und zu verstehen, wieso jetzt der Zeitpunkt war, an dem Kontakt wollte, sich aber nach wie vor nicht entschuldigt hatte.
"Was schreibt sie?", fragte Syd und brachte zwei dampfende Tassen Tee in das Zimmer.
"Danke. Nichts Besonderes, geht nur um Dad."
"Dad?", wiederholte ich angespannt.
"Steht zumindest drauf." Camila zuckte mit den Schultern. Leicht zitternd öffnete ich ihn. "Ich lass euch dann mal alleine. Kassy, wir gehen auf jeden Fall noch essen. Diese Woche. Elias - wir sehen uns öfter, nehme ich an. Hat mich sehr gefreut, einen schönen Start dir noch."
"Danke", erwiderte Elias etwas schüchtern. Camila fegte zur Tür hinaus.
"Soweit ich weiß, hat sie keinen Freund", sagte ich beiläufig, während ich ohne Vorsicht das Pergament aus dem Umschlag riss.
Elias lief knallrot an. "Was meinst du?"
"Oh, ich bitte dich. Du hast mich Heulen gesehen, wir sind sowas wie Buddys. Ich sehe doch, dass du sie toll findest."
Noch im selben Moment erstarrten wir beide. Es war das erste Mal, dass einer unsere vorherige Begegnung vor achtzig Tagen angesprochen hatte.
"Du siehst nicht so glücklich über den Brief aus", lenkte Elias ab.
"Ach, es ist kompliziert."
Inzwischen hatte ich festgestellt, was Dad von mir gewollt hatte, oder irgendwie immer noch wollte. Nur weshalb er genau es wollte, warf noch Fragen auf. Dies stand allerdings nicht mehr in meinem Interesse. Ich sorgte nun nur noch dafür, dass er nie das bekam, was er wollte.
Denn neuerdings wusste ich es besser. Ich wollte ihn nicht mehr treffen, wollte am liebsten so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben, und hielt den Kontakt nur noch aus Höflichkeit, damit er keinen Verdacht schöpfte.
Dad unterlag dem Bewusstsein, dass ich schlau war. Doch wie irgendwie viele Leute unterschätzte er mich dennoch. Doch wie in ebenfalls vielen dieser Fälle kam es mir entgegen und ich nutzte es schamlos aus. Ab sofort befand ich mich ihm gegenüber immer einen Zauberschachzug voraus.
"Mir scheint so einiges in deinem Leben kompliziert zu sein, das ist jetzt das zweite Mal, dass ich diese Antwort von dir bekomme."
Ich wusste nicht wieso, doch es brachte mich zum Lachen. Bei jeder anderen Person hätte ich nun Wut verspürt, doch Elias' und meine Geschichte war so verkorkst, dass ich ihm irgendwie nicht böse sein konnte.
"Dein Tipp hat geholfen, weißt du?", sagte ich leise.
Elias blickte mich verwirrt an und ich konnte sehen, wie er sich anstrengte, sich zu erinnern, was er mir alles für Tipps gegeben hatte.
"Ich gehe zu einer Therapeutin", half ich ihm auf die Sprünge und sein Gesicht erhellte sich. "Es hilft wirklich. Ich muss sie zwar ständig oblivieren, weil sie sonst zu viel wüsste, aber es geht."
"Das ist wirklich toll", lächelte Elias fröhlich. "Echt, es freut mich zu hören, dass es dir besser geht."
"Okay", zwang ich den Schauer zurück, "wo waren wir stehengeblieben? Tut mir leid, du kannst mir bestimmt kaum noch folgen, so wie das hier drunter und drüber geht."
Elias lachte. Meine Ohren nahmen es als vertrautes Geräusch auf. Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, ich kann dir noch sehr gut folgen. Du bist 'ne tolle Lehrerin."
"Niemals."
"Es wäre eine Überlegung."
"Vergiss es."
"Na ja, ist ja deine Sache. Kannst ja nicht ewig Quidditch spielen."
"Tu ich auch nicht. Ich habe gekündigt."
Henry blieb wie angewurzelt stehen.
"Du hast was?", rief er geschockt aus.
"Ich habe gekündigt, ich spiele bald kein Quidditch mehr."
"Kassy, das war ein Scherz. Zumindest zum Teil. Mit ewig meinte ich nicht für alle Zeit, aber bestimmt noch die nächsten zehn Jahre! Du ... du ..."
Völlig überfordert fuchtelte Henry mit seinen Händen rum. Ich drehte mich mit dem Rücken gen unser Ziel und lief zwei Schritte rückwärts, doch er folgte nicht.
"Du bist vielleicht die momentan erfolgreichste Spielerin -"
"Bin ich nicht", widersprach ich sofort.
"Aber du bist verflucht gut! Du könntest eine Quidditchkarriere hinlegen, wie noch keiner sie gesehen hat. Du spielst so gut, dass du im Handumdrehen in die Nationalmannschaft gekommen bist, du ..."
"Ich habe die Entscheidung schon getroffen", lächelte ich ruhig.
"Aber ich verstehe es nicht!", beschwerte Henry sich überfordert und warf die Hände in die Luft.
"Es geht auch nicht darum, dass du es verstehst. Es muss niemand verstehen, aber wenn du mein Freund bist, dann akzeptierst du es einfach. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass es für meine Situation momentan das Beste ist. Und ich höre ja nicht von einem Tag auf den anderen auf, das lässt mein Vertrag gar nicht zu."
"Sondern?"
Endlich holte Henry mich ein und wir setzten unseren Weg zurück zu Cloves Wohnung fort.
"Ich beende die Saison und spiele natürlich noch die CM mit. Ich müsste verrückt sein, mir diese Möglichkeit entgehen zu lassen. Aber das wird das Ende meiner Karriere, wie sie irgendwie jeder nennt."
"Weil es eine ist", kommentierte Henry trocken.
"Aber nicht so eine."
"Doch, natürlich. Das hat mich an dir schon immer genervt, Kassy. Du siehst überall die Fakten, doch wenn es um dich geht, könnte man meinen, du bist auf beiden Augen blind."
"Danke."
Wir grinsten uns an. Ich merkte nun erst richtig, wie sehr ich Henry vermisst hatte. Nachdem er sein letztes Jahr in Hogwarts wiederholen musste, hatte ich ihn nie wieder gesehen, zumindest nicht mit weniger als acht anderen Leuten.
Er arbeitete momentan im Tropfenden Kessel als Aushilfe. Sein Traum war, irgendwann Zauberkunst-Professor zu werden. Daher kamen wir auf das Thema. Das Flitwick vermutlich in Rente ging, sagte ich ihm nicht. Auch nicht, dass McGonagall ihn nie einstellen würde, zumindest nicht innerhalb der nächsten zwanzig Jahre. Man musste schon verflucht talentiert sein, um mit unter vierzig Professor für so ein Fach zu werden.
Henry war der Ansicht, ich sollte mir doch überlegen, auch in der Lehrerposition tätig zu werden. Doch das würde nicht passieren. Ich war nicht gut genug und Leuten etwas beizubringen zählte auch nicht zu meinen Stärken.
"Wie geht's deiner Mum?"
"Ach, ganz gut." Henry zuckte mit den Schultern und trat gegen einen unsichtbaren Stein. "Sie hat jemanden kennengelernt, aber ich glaube, das hält nicht lang. Na ja, solange sie glücklich ist."
"Und du? Bist du glücklich?"
Bei dieser Frage zuckte Henry zusammen. Er mied meinen Blick, holte aber Luft.
"Irgendwie ... keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, ich hatte mal so viel und jetzt kaum noch was, verstehst du? Und ihr seid alle so erfolgreich. Da kann ich einfach nicht mithalten."
Ich hatte etwas Aufbauendes sagen wollen, doch wir waren an Cloves Wohnung angelangt.
"Das wird jetzt nicht irgendwie komisch, oder?", fragte ich nervös.
"Wieso? Weil du Clove seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hast?"
"Weil du 'ne halbe Sache mit ihr am Laufen hast, wenn du gerade mal keinen Kontakt zu Sydney hast und auch 'ne halbe Sache mit ihr am Laufen hast, wenn du gerade mit Syd Kontakt hast. Und weil ich eher auf Sydneys Seite stehe als auf ihrer, unabhängig von deinem Beziehungsstatus."
Henry lief hochrot an, protestierte allerdings nicht.
"Wenn du ihr das so sagst, wird es sehr komisch werden."
Immerhin konnte er wieder grinsen. So undurchschaubar und ehrlich wie damals - auch vom Aussehen hatte Henry sich nicht groß verändert. Irgendwie machte mich das froh.
Henry wollte gerade klingeln, als die Tür sich von innen öffnete und eine Kapuzengestalt aus dem Gebäude stürzte.
Sie schenkte uns zunächst keine Beachtung, hielt jedoch inne, kurz nachdem sie an uns vorbeigelaufen war.
"Henry?", murmelte Zack und zog sich die Kapuze vom Kopf. "Kassiopeia?"
"Kassy", antwortete ich automatisch und wunderte mich im selben Moment, wieso ich ausgerechnet Zack meinen Rufnamen anbot.
"Kassy", murmelte er düster.
Und gegen all meine Erwartungen kam er auf uns zu.
Er reichte uns weder die Hand, noch machte er sich überhaupt die Mühe, sie aus seinen Jackentaschen zu ziehen. Seine schwarzen Haare hingen ihm über die Augen, doch er hatte etwas an seiner Bedrohlichkeit verloren. Er wirkte nun eher wie ein hilfloser Junge - wenn das irgendeinen Sinn ergab, denn wenn einer nicht aussah, wie ein Junge, dann Zack.
Die Konturen seines Kiefers und der Wangenknochen traten deutlich hervor, sein Drei-Tage-Bart frisch gestutzt. Die Haare hingen ihm zwar im Gesicht, doch es sah gewollt aus. Die Augen so dunkel wie immer und die Lippen, die sonst so farblos und trocken erschienen waren, erschienen nun voller und leicht rosa. Und sie bildeten sich zu einem Lächeln.
"Hey, Zack", sagte Henry unsicher und rückte etwas zu mir auf.
Eine Zeit lang sagte keiner von uns ein Wort. Wir hatten uns nichts zu sagen. Nicht wirklich.
"Wow, das ist awkward", bemerkte Zack und grinste.
"Hast du von Lewis gehört?", fragte ich auf einmal.
Zacks Augenbrauen fuhren in die Höhe. Auch er schien die Frage nicht erwartet zu haben.
Er nickte. "Ja, habe ich. Unschön. Ich wollte ihn besuchen, dachte aber, dass er mich wahrscheinlich nicht sehen will. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass mich seit letzter Woche kaum einer sehen will."
Wenn jegliches Licht, was in seinen dunklen Augen aufgesogen wurde, mich nicht täuschte, meinte ich, etwas wie Verletzlichkeit in ihnen lesen zu können. Seine Stimme zeugte nicht davon, aber irgendwie sprach seine Haltung dafür, dass es ihn belastete.
"Er ist etwas aufgelöst, das stimmt", pflichtete ich ihm bei. "Aber ich denke trotzdem, dass er sich freuen würde. Schreib ihm vorher und komm dann mal vorbei."
Erneut trat Stille ein. Henry hielt sich bewusst im Hintergrund. Ich wusste, dass er Zack schon immer gruselig gefunden hatte und so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben wollte.
"Kassy? Es tut mir leid."
Ich kannte Zack nicht besonders gut und die Erinnerung an unsere Vergangenheit verfing sich in seinen dunklen Pupillen, doch ich konnte genau sagen, dass er die Wahrheit sagte. Dass er es ernst meinte.
Dass es ihm wirklich leid tat.
"Schon gut", entgegnete ich leise.
"Nein, eigentlich nicht", erwiderte er trocken. "Das war ziemlich unkorrekt von mir. Das weiß ich. Aber ich habe nie den Mut aufgebracht, es dir zu sagen. Du glaubst es mir vielleicht nicht - ihr beide wahrscheinlich nicht -, und ich kann es euch nicht verübeln, aber ich bin kein schlechter Mensch."
Er blinzelte. Henry stieß hörbar die Luft aus.
"Namen sind eine Sache, Miller", sagte er ruhig. "Das weiß ich. Und ich glaube, das wisst ihr auch. Ja, ich habe einige Fehler gemacht und nein, ich bereue nicht alles. Aber ich versuchte einfach, mit diesen Zeiten abzuschließen."
Zack drehte sich zu mir.
"Ich hoffe, du kannst die Sache vergessen."
Ich schüttelte den Kopf. "Ich vergesse nicht, Zack", sagte ich ernst. "Ich vergebe, aber ich vergesse nicht."
"Das reicht mir. Es tut mir wirklich leid, Bole."
"Angekommen, Lestrange."
Er nickte uns einmal zu und wollte sich umdrehen, stoppte sich aber ein letztes Mal und seine funkelnden Augen fanden meine, ehe er mit todernster Stimme sagte: "Aber bild dir da bloß nichts drauf ein."
Es freute mich überraschend stark. Ich konnte nicht einmal genau sagen warum, schließlich wollte ich nie unterrichten. Doch Elias Kompliment ließ mein Herz noch Stunden später höher schlagen.
Wegen der Aufregung beschloss ich, zuerst ein Stück zu laufen, bevor ich zurück zu Alia apparierte. Auch in London herrschte angenehmes Klima und ich schlenderte in der inzwischen ruhigen Winkelgasse entlang.
Professor. Es klang schon irgendwie nicht schlecht, doch es war sicher kein Job für mich. Ich bekam mein eigenes Leben gerade so auf die Reihe, wie sollte ich dann Kinder dazu bewegen, es bestmöglich zu machen?
Wobei der Tag heute Spaß gemacht hatte. Elias war ein sehr guter Schüler gewesen, bis hin zu dem Grad, zu dem man ihn so nennen konnte, und irgendwie hatte es mich glücklich gemacht, wenn er etwas verstand und umgesetzte.
Ich hatte zu den meisten meiner Professoren in Hogwarts aufgesehen. Jahrelange Erfahrung, Reife, und eine gewisse Art von gegebenem Respekt machten sie so unerreichbar und gleichzeitig unglaublich cool.
Das würde ich nie erreichen. Ich war keine Autorität, dessen Präsenz die Menschen spürten. Man verstummte nicht, wenn ich etwas sagen wollte und ich konnte eine Klasse auch sicher nicht mit einem Blick zum Schweigen bringen.
Doch musste ich das? Gab es nur diese eine Art? Ich war zufrieden - doch hatte ich je eine Lehrkraft gehabt, die das war, was ich wirklich gebraucht hatte?
Hogwarts war mein Zuhause gewesen, für eine sehr lange Zeit. Eine sehr bedeutende Zeit, mehr, als mir bis vor Kurzem bewusst gewesen war. Es klang fast wie ein Traum, dorthin zurückzukehren -
Alles drehte sich.
Ich fühlte mich, als würde man mich durch ein dünnes Rohr quetschen.
Mit einem Flügelschlag war es wieder vorbei. Ich sah mich um. Nach wie vor Läden, doch nicht Ollivander oder Madame Malkins, sondern Derwisch & Banges und der Honigtopf.
"New York?!" Meine Stimme war rau und ich starr vor Schreck. "Beide? Das könnt ihr mir nicht antun!"
"Es gibt Gelegenheiten, Sternchen, die sollte man nicht ausschlagen."
"Aber du ... ihr ... schon Anfang des Sommers? Tori, du bist doch gerade erst wiedergekommen!"
Tori lächelte mich traurig an. "Ich weiß, und in diesem Punkt tut es mir auch so leid, aber es ist das, was wir wollen. Teddy hat das Angebot erhalten und es ist gerade für uns das einzig Richtige."
Ich gab mich geschlagen. Es hatte nicht lange gedauert, aber was konnte ich dagegen sagen? Ich tat doch momentan genau dasselbe.
"Das versteh ich ja, aber Merlin! New York ... ihr beide!"
Teddy zuckte mit den Schultern. "Da, wo die Wege uns hinführen."
"Du kommst uns besuchen", beschloss Tori und ich nickte eifrig.
"Ich muss nur aufpassen", scherzte ich, "dass ich mich nicht auch noch in die Stadt verliebe uns auswandre."
"Wenn du es so sagst, klingt es ganz grausam", bemerkte Teddy.
"Aber das ist es doch, was ihr tut, oder? Auswandern?"
Tori nickte, doch Teddy zögerte.
"Teddy, darüber hatten wir doch gesprochen", murmelte Tori.
"Ich weiß, aber wenn man Auswandern sagt, klingt es so endgültig. Wer weiß, vielleicht kommen wir irgendwann wieder zurück?"
"Die Türen stehen euch immer offen", ermutigte ich die beiden. "Ihr könnt auch gerne eine Zeit bei mir bleiben, ich bin euch beiden eine Menge schuldig."
"Du bist uns gar nichts schuldig", wandte Teddy ein, doch ich ignorierte ihn.
"Aber bis dahin wird New York großartig, da bin ich mir sicher. Und eure Jobs bestehen ja darin, regelmäßig zurückzukommen, also sehen wir uns gelegentlich."
Wir lächelten uns an und ich seufzte schwer. Teddy und Tori in New York - mein bester Freund würde bald hunderte Kilometer entfernt leben. Ich freute mich für sie. Das sollte das Einzige bleiben, was es mich akzeptieren ließ.
Es war seltsam, sie gehen zu lassen. Aber für die beiden? Irgendwie auch schön.
Es war schön, wieder hier zu sein. Aber auch verflucht seltsam.
Hogsmeade.
Zuerst war ich ein klein wenig verwirrt, doch nach einer Weile schien es mir einleuchtend. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass mein Bewusstsein sich in Gedanken verlor und plötzlich eigenständig handelte. Gerade seit Uagadou, wo ich gelernt hatte, Magie auch ohne Zauberstab anzuwenden, passierte dies häufiger.
Nun, wieder in Griff von Kontrolle, wusste ich genau, wo ich hin wollte. Wo ich hin musste. Es war ein längerer Fußmarsch, doch nichts, dem ich nicht gewachsen wäre. Nichts, was es mir nicht wert wäre, diesen Weg auf mich zu nehmen.
Kurz zögerte ich, als ich die großen Steinstufen erreicht hatte. Das Tor vorhin hatte sich von selbst für mich geöffnet, doch die Tür tat es nicht.
Noch konnte ich umkehren, man ließ mir die Entscheidung.
Obwohl ich bei vollem Bewusstsein war, setzte mein Gehirn einen Moment aus. Vielleicht kein wirkliches Aussetzen, aber eine Art Schub an unerklärlichem Selbstvertrauen. Saiph hätte es vielleicht sowas wie einen "Fuck-It"-Moment genannt.
Ich trat einen Schritt vorwärts und die massiven Eichenholztüren schwangen auf. Als ich die Eingangshalle betrat, durchlief mich ein Schauer.
Es hatte sich nichts geändert. Ich würde mich vermutlich nicht einmal wundern, wenn ich Filch hinter den Flints herjagen hörte oder Weena beim umher scheuchen des Ravenclaw-Quidditchteams beobachtete.
Natürlich hatte sich nichts verändert. Jetzt hätte auch genauso gut vor fünf Jahren sein können, aber wann veränderte sich Hogwarts schon? Das, was zählte, blieb.
Die Türen zur großen Halle standen offen, das Abendessen befand sich in vollem Gange. Zu meinem Glück hielt sich gerade kein Schüler auf meiner Seite des Durchgangs auf. Schnell huschte ich an der belebten Halle vorbei und die Marmortreppe hinauf.
Mir war bewusst, dass Professor McGonagall sich vermutlich ebenfalls in der großen Halle aufhielt, weswegen ich mir Zeit ließ, zu ihrem Büro zu laufen.
Auf dem Weg begegneten mir nur eine Handvoll Schüler, deren junge Gesichter mir alle nichts sagten. Vor dem Schulleiterbüro angelangt stellte ich schließlich betroffen fest, dass ich das Passwort überhaupt nicht kannte.
Über mich selbst ärgernd stampfte ich leicht auf und überlegte, was ich nun tun sollte. Doch meine Gedanken spannen sich nicht weit.
Der Wasserspeier bewegte sich, die Treppe dahinter begann sich zu drehen und im nächsten Moment trat ein älterer Junge auf mich zu. Er war groß, muskulös und seine Haare schimmerten im Schein der Fackeln leicht rötlich, als würden sie die Farbe des Feuers annehmen.
"Kassy?", fragte er in einer tiefen Stimme, die ich garantiert noch nie in meinem Leben gehört hatte. Woher kannte er meinen Namen?
Mein fragender Blick schien genug zu sein und der Junge fing an zu lachen.
"Keine Angst, ich nehm's dir nicht übel", grinste er und hielt mir die Hand hin. "Finley Creevey."
Mir fiel die Kinnlade runter.
"Niemals", hauchte ich und lachte. Seine ausgestreckte Hand ignorierte ich und umarmte ihn einfach. "Das gibt's nicht!"
Entgeistert musterte ich ihn von oben nach unten. Finley? Der Erstklässler Finley von damals, den Henry und ich mit den anderen Erstklässlern zum ersten Mal zum Gemeinschaftsraum geführt hatten? Finley, der so klein, dünn und tollpatschig gewesen war, und dennoch immer aufgeweckt, neugierig und zuvorkommend? Der mir auch noch in meinem letzten Jahr auf den Gängen zugewunken hatte?
Wir unterhielten uns eine Weile, doch meine Ungläubigkeit wurde nicht weniger. Der Finley, den ich hier vor mir stehen hatte, hatte kaum noch etwas mit dem kleinen Jungen zu tun.
Irgendwann deutete Finley auf den Adler. "Willst du auch zu McGonagall?"
Ich nickte. "Aber mir ist unglaublich früh eingefallen, dass ich ja gar nicht das Passwort kenne. Sie hat mich nicht eingeladen, ich bin so hergekommen. Ich ..."
Mir kam mein Vorhaben wieder in den Sinn und mein Magen drehte sich um.
"Ich muss etwas Dringendes mit ihr besprechen."
Finley fing breit an zu grinsen und für einen Moment erkannte ich ihn wieder. "Da kann ich mich endlich revanchieren und dir zur Abwechslung mal mit dem Passwort helfen."
"Wieso warst du oben?"
Breit grinsend zog Finley die Falte seines Umhangs gerade und ein schimmerndes Vertrauensschülerabzeichen streckte sich mir entgegen.
"Gab ein wenig zu besprechen. Sie hat unterschwellig fallen gelassen, dass sie mich nächstes Jahr zum Schulsprecher machen will."
"Beim Barte des Merlin ... ", murmelte ich glucksend. "Hätte mir das jemand vor fünf Jahren erzählt ..."
"Und mir erst", lachte er und wandte sich dem Adler zu. "Obliviate!"
Die Stufen fingen erneut an, sich zu drehen und Finley schob mich ihnen entgegen.
"War nett, dich mal wiederzusehen. Viel Glück bei deinem Vorhaben, was auch immer es sein mag!"
Ich drehte mich zu dem Ravenclaw. "Es hat mich unglaublich gefreut, dich zu sehen, Finley! Grüß jeden, der sich noch an mich erinnert! Und danke!"
Eine Sekunde lang sah ich noch seine winkende Hand, dann hatte sich die Treppe zu hoch gewunden und die steinerne Wand schob sich in mein Blickfeld. Ich sprintete die verpassten Stufen nach oben und klopfte voller Adrenalin und mit heftig pochendem Herzen ich an der Tür.
"Herein", erschallte es gedämpft von innen. Leise trat ich in den kleinen, aber hellen Raum.
"Ach, Miss Bole. Kommen Sie rein, setzten Sie sich. Möchten Sie etwas zu trinken?"
Ich deutete mit meinem Zauberstab auf Dr. Ishizaki und sagte deutlich: "Obliviate!"
Kurz schien sie wie betäubt, dann schüttelte sie sich und brauchte zwei Sekunden, um die zurückgekehrten Erinnerungen zu verarbeiten und sich zurecht zu finden.
Dr. Ishizaki hatte sich bereit erklärt, diese Art von Behandlung für mich zu ermöglichen. Ich hatte ihr meine Lage erklärt, auch, dass ich eine Hexe war, und sie hatte zugestimmt, sich zum Schutz und dem Befolgen des Geheimhaltungsgesetzes am Anfang und Ende jeder Stunde oblivieren zu lassen.
"So langsam gewöhne ich mich dran", murrte sie. "Aber irgendwie ... na ja, setz dich, bitte. Kaffee?"
"Tee wäre nett, vielen Dank."
Sobald der Wasserkocher Ruhe gab, fragte sie: "Wo waren wir das letzte Mal stehen geblieben?"
Ich schluckte. Es war unsere vierte Sitzung in sechs Wochen, doch nach wie vor fiel es mir schwer, so offen darüber zu reden.
"Bei meiner Familiensituation, denke ich."
"Ach, genau!" Dr. Ishizaki brachte zwei dampfende Tassen zu dem kleinen Sofa und stellte eine vor mir ab. "Heimat, nicht?"
Ich nickte und bedankte mich noch einmal.
"Dann beschreib doch noch einmal, wie genau du dich fühlst. Hat sich schon irgendwas geändert?"
"Nicht wirklich", hauchte ich. "Irgendwie immer noch einsam. Seitdem Shawn weg ist noch stärker, aber irgendwie anders. Von meiner Familie bin ich es gewohnt, zumindest was meine Eltern angeht. Mit Saiph ist es etwas anderes. Und mit Shawn auch."
"Bereust du deine Entscheidung?"
"Nein, immer noch nicht. Es war das Richtige, ganz sicher."
Es stimmte. Es tat weh, aber es war wie ein heilender Schmerz. Als würde man die Wunde säubern.
Genau so beschrieb ich Dr. Ishizaki den Umstand und sie nickte, während sie sich etwas notierte. "Also fühlst du dich allein gelassen?"
"Nein", sagte ich sofort. "Ich glaube, ich bin noch nie allein gewesen. Ich habe Alia. Und Olivia. Und jetzt auch wieder Henry und Sydney. Katie ist auf einer neuen Forschungsreise in China, aber ..."
Mir fiel die Neuigkeit wieder ein und ich lächelte traurig.
"Teddy und Tori ziehen nach New York."
Dr. Ishizaki blinzelte. "Wie fühlt sich das an? Was löst das in dir aus?"
"Ich weiß nicht. Ich freue mich für die beiden. Aber irgendwie ... Teddy ist mein bester Freund. Natürlich tut es weh. Ich fühle mich verraten und hasse mich ... tschuldigung", sagte ich schnell bei Dr. Ishizakis mahnendem Blick. Sie mochte es nicht, wenn ich das Wort hassen verwendete. "Ich bin gerade sehr wütend auf mich, dass ich so fühle. Ich habe kein Recht dazu und es ist egoistisch."
"Hast du das Gefühl, dein Umfeld bricht dir irgendwie weg?"
"Ein Stück vielleicht. Ich habe Angst, dass Teddys und meine Freundschaft darunter leidet. Und die zu Tori natürlich auch. Wir werden uns nicht mehr so häufig sehen und sie werden einen Haufen neuer Freunde finden. Ich will sie aber nicht verlieren."
"Verstehe. Denkst du, das wird wirklich passieren? Dass du sie verlierst?"
Ich schwieg eine Weile und dachte darüber nach. Dann legte ich den Kopf schief. Eine neue Erkenntnis schlich sich in meinen Kopf und meine Mundwinkel hoben sich leicht.
"Nein", antwortete ich ehrlich. "Eigentlich, wenn ich so darüber nachdenke, nicht. Es ist fünf Jahre her, als Teddy seinen Abschluss gemacht hat und drei, in denen wir anderen auch getrennte Wege gegangen sind, irgendwie. Ich glaube, die Distanz wird nichts ändern. Echte Freunde bleiben, egal wie weit sie entfernt sind, wenn man sie nahe behält."
Sie hob eine Augenbraue und ich wiederholte den Satz in der richtigen Form.
"Wenn ich sie nahe halte. Und das werde ich. Ich bin so froh, wieder mehr mit Sydney und Henry in Kontakt zu stehen. Als hätte sich nichts geändert. Und ich werde in Zukunft dafür sorgen, dass von meiner Seite aus mehr passiert."
"Am Ende unserer letzten Unterhaltung hast du erzählt, dass du gerade versuchst herauszufinden, was dir das Gefühl eines Zuhauses zurückgeben kann. Glaubst du, du könntest dir so eine neue Heimat, ein neues Zuhause, mit diesem Vorsatz aufbauen?"
"Vielleicht sowas in der Art, hoffentlich", dachte ich laut. "Auch wenn es für mich nach wie vor nur einen Ort gibt, den ich als Zuhause in Erinnerung habe."
Professor McGonagall lächelte bei diesen Worten.
"Ich dachte mir schon, dass ich Sie früher oder später hier begrüßen würde."
Sie bedeutete mir, mich zu setzen. Ich kam der Aufforderung nach. Die alte Hexe schmunzelte mir entgegen.
"Aber die Antwort lautet leider nein. Professor Flitwick hat bereits einen Nachfolger."
Ich trug es nicht nach außen, doch meine Haltung brach. Ich fürchtete mir davor, wie groß die Enttäuschung einschlug. Natürlich hatte ich mit einer Ablehnung gerechnet - allerdings dachte ich bei dem Grund an mangelnde Fähigkeiten und Erfahrungen. Nicht daran, dass die Stelle schon wieder besetzt sein könnte.
"Also geht er wirklich", schlussfolgerte ich die ursprüngliche Vermutung, die sich nun bestätigte.
"Leider, ja. Filius ist alt. Es hat mich vier Jahre gekostet, ihn überhaupt dazu zu kriegen, in Betracht zu ziehen, sich rentieren zu lassen. Ich muss gestehen, dass ich eigentlich gehofft hatte, Sie kommen nicht."
Mein Magen drehte sich um. Was? Wie meinte sie das?
"Professor?"
"Sie kennen unseren zukünftigen Professor. Ich hatte gehofft, Sie hätten sich vielleicht unterhalten, aber wie es scheint, gibt es in Ihrer Familie nach wie vor Spannungen."
"Wenn man es so nennen will ...", entgegnete ich abwesend. Wer war es? Von wem sprach sie? "Ich weiß nur leider wirklich nicht, wen ..."
"Ihr Cousin Elay", sagte Professor McGonagall. "Elay Flitwick. Eine lustige Begebenheiten, wenn Sie mich fragen."
Elay?! Ich hatte seit Jahren kein Wort mehr mit meinem ältesten Cousin gewechselt, ebenso wenig zu Gesicht bekommen.
Zwar wusste ich, was Evan tat, so halbwegs, doch ich hatte weder etwas von Elay noch von seiner Freundin Jules gehört. Genau genommen wusste ich nicht mal, ob die beiden immer noch zusammen waren.
"Er hat sich dem Studium der Zauberkunst gewidmet und schon einige Aufbaukurse im Ministerium gegeben. Außerdem braucht Hogwarts frischen Wind. Wir bleiben auch nicht ewig jung, es ist an der Zeit, Ihrer Generation eine Chance zu geben. Ich weiß, dass Elay sich genauso darüber freut, wie ich es damals getan habe."
Ich freute mich auch für Elay. McGonagall hatte Recht, die Lehrerschaft wurde immer älter und Elay hatte sich diese Chance verdient. Auch, wenn dies bedeutete, dass ich nie eine erhalten würde.
Es überraschte mich sehr, wie stark es mich trotz allem enttäuschte.
"Da haben Sie Recht, Professor. Ich freue mich sehr und bin mir sicher, dass Elay seine Sache gut machen wird."
Ehrlich gesagt konnte ich mir Elay überhaupt nicht als Lehrer vorstellen, aber ich hatte ihn auch ewig nicht gesehen. Und sicherlich würde er ähnliches von mir halten.
"Es tut mir wirklich leid, Miss Bole. Ich hätte Sie gerne eingestellt, doch ich konnte nicht warten und, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, ich hätte keinen triftigen Grund gehabt, Ihnen Elay vorzuziehen."
"Das verstehe ich." Das tat ich wirklich. Doch es bedeutete nicht, dass ich mich damit im Reinen befand. "Ich möchte Ihre Zeit auch nicht weiter beanspruchen, Professor McGonagall. Ich danke Ihnen wirklich sehr, nicht nur hierfür, sondern für alles, was sie jemals für mich getan haben."
Mit nach wie vor leicht zittrigen Knien stand ich auf. McGonagall wiederholte die Bewegung.
"Es tut mir wirklich äußerst leid, Miss Bole. Ich bin mir sicher, wir werden uns sehr bald wiedersehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Ich schüttelte ihre Hand, bedankte mich erneut und wandte mich zum Ausgang. Mit schweren Schritten lief ich auf die Tür zu und war im Begriff, sie zu öffnen, als mich etwas abhielt.
Es passierte in letzter Zeit häufiger. Ich ließ es zu, denn ich erachtete es als ganz normal: Ich hatte an Shawn denken müssen.
Er hätte nicht so schnell aufgegeben. Er hätte mich nicht so schnell aufgeben lassen.
Ich war ihn noch nicht so gewohnt wie meine alte Kette, weswegen ich den Schildkrötenanhänger um meinen Hals deutlich auf meiner Brust liegen spürte.
Wenn das hier tatsächlich das war, was ich wirklich wollte, dann sollte ich nicht aufgeben.
Dann sollte ich das Anwenden, was Shawn mir beigebracht hatte.
"Professor?", fragte ich leise und drehte mich wieder um.
Die Schulleiterin beobachtete mich über den Rand ihrer Brille hinweg, die Hände unterm Kinn verschränkt. Fast so, als hätte sie erwartet, mich rebellieren zu sehen.
Ihr Schweigen fasste ich als Aufforderung auf, mich zu erklären.
"Meine Schwester hat mir geschrieben, dass Professor Sandhell in der letzten Zeit immer häufiger Professor Goldstein vertreten hat ... nun ja, ich habe natürlich gehört, dass sie ... Sie wissen schon. Bei den Angriffen ums Leben gekommen ist. Das tut mir übrigens sehr leid."
Professor McGonagall verzog nach wie vor keine Miene. Ich kam zwei kleine Schritte auf den Schreibtisch zu und schaute zu ihr hoch.
"Daher frage ich mich, wer Professor Goldstein momentan vertritt? Und wieso er überhaupt eine Vertretung benötigt, wenn ich soweit gehen darf, dies zu fragen."
"Professor Goldsteins Mutter ist an Drachenpocken erkrankt", regte sich die Schulleiterin endlich und lehnte sich zurück. "Er ist immer häufiger verhindert, da er sich um seinen Vater kümmern muss. Er teilte mir bereits mit, dass er im Falle ihres Todes die Schule verlassen würde. Momentan entfällt leider sehr viel des Unterrichts."
Ich schluckte. Sie sah mich herausfordernd an.
"Haben Sie vor, Professor Sandhell zu ersetzen?"
"Ich verstehe die Frage nicht, Miss Bole."
"Ich würde gerne die freie Stelle als Professor Goldsteins Vertretung übernehmen."
Professor McGonagall zog die Augenbrauen hoch und ein spitzes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie lehnte sich weiter zurück.
"Die Berufung des Professors ist eine gehobene Position, verbunden mit einem hohen Grad an Verantwortung. Es ist essentiell, einen von Nöten niveauvollen Wissensstand mitzubringen. Auch Erfahrungen, Forschungsreisen oder Referenzen zeichnen diesen Titel aus. Disziplin, Durchsetzungsvermögen und Liebe zum Lehren und den zu Lehrenden sind wohl die wichtigsten Eigenschaften. Nicht jeder ist dieser Aufgabe gewachsen. Es steht in meiner Pflicht, das Amt mit der mir besterscheinenden Möglichkeit zu besetzten, die das Wohl unserer Schule garantiert."
"Ich könnte ab nächster Woche anfangen."
Professor McGonagall stand auf und ich ging langsam zu ihr hinüber.
"Sie werden Professor Goldstein zu Beginn unter die Arme greifen. Ich erwarte hohes Interesse an dem Fach und den Erwerb der nachweißlichen Qualifikationen bis zum Ende der diesjährigen Sommerferien. Intensives Auseinandersetzen mit den Dunklen Mächten und genügend praktische Erfahrung. Höchste Konzentration auf das Studium der Verteidigung. Und Menschlichkeit."
Die Schulleiterin hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie, doch wir schüttelten sie nicht, sondern drückten nur leicht.
"Willkommen, Professor Bole, ich freue mich sehr, dich ab nächster Woche im Kollegium begrüßen zu dürfen."
***
Das war es. Vielleicht. Hoffentlich.
Überwältigt von Emotionen nahm ich den langen Weg nach Hause, über die Hügel des Schulgeländes.
Es hatte gedauert, doch jetzt war ich mir sicher, dass ich mich wieder auf dem richtigen Weg befand.
Drei Hügel hatte ich bereits hinter mir gelassen, als ich erneut innehielt. Es war hier gewesen. An dieser Steigung.
Ich drehte mich um und blickte auf das Schloss. Die Sonne sank und tauchte den Himmel in ein leichtes Rosa.
Genau hier, auf diesem Hügel, haben Shawn und ich damals getrunken und meinen Feuerblitz verschönert. Genau hier haben wir zu zweit gesessen und auf Hogwarts niedergeblickt.
Jetzt stand ich allein dort, aber nicht einsam. Aufrecht. Stark. Glücklich.
Mit jeder Sekunde schien es dunkler zu werden. Sterne tauchten am Himmel auf, Kassiopeias waren einige der ersten.
Meine Theorie mit den Kreisen hatte ich vor langer Zeit versucht zu vergessen. Doch nun kam sie mir erneut in den Sinn, nur anders.
Das Leben war ein Kreis. Jeder würde früher oder später zu dem zurückfinden, wo er wahrlich herkam. Zumindest hoffte ich, dass jedem dieses Glück widerfahren würde.
Die Sonne war verschwunden, doch noch nie erschien mir die Welt so hell.
Ein letztes Mal schaute ich auf Hogwarts zurück.
Hogwarts.
Es glänzte in tausend Farben. Obwohl ich nur noch die vielen kleinen Lichter in dem großen Schwarzen Umriss sehen konnte. Sie hatten denselben Glanz, den meine Augen wiedererlangt hatten.
Ich hätte es nie gedacht, doch nach so vielen Jahren war es passiert. Ich war zurückgekehrt.
Nach all der Zeit war ich endlich wieder Zuhause.
ϟ ϟ ϟ
Achtuung Spoiler: Das war das letzte Kapitel <3
Nächste Woche gibt es noch den Epilog, genau 3 Jahre nach dem Prolog (also in unserer Zeit gerechnet xD) und dann ist es tatsächlich vorbei. Kann's immer noch nicht so richtig glauben.
Aber ich hab hier noch ein Video für euch, für unser liebstes OTP, denn jetzt, da ihr wisst, dass es die beiden nach New York verschlagen hat, kann euch nichts mehr gespoilert werden ^^
https://youtu.be/wX_rex7kN0g
Bis demnächst, Amelie :)
Last Update ⥋ 01.09.2020 (Tuesday)
[26.08.2020]
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