Kapitel 54 ϟ Upside

Take What You Want - ONE OK ROCK feat. 5 Seconds of Summer ♪♫

Die Wanduhr zeigte mit beiden Zeigern irgendwo zwischen die Sieben und die Acht, und das Radio sorgte immer noch für leise Hintergrundgeräusche, als ich endlich aufwachte.

Zuerst war ich ein wenig orientierungslos, doch als ich mich auf dem vertrauten dunklen Sofa wiederfand, schlugen alle Erinnerungen der Geschehnisse auf mich ein.

Sofort setzte sich ein großer Stein in meinem Magen ab und meine Kehle schnürte sich zu. Rational gesehen wusste ich genau, was passiert war, doch angekommen war es noch nicht ganz. Es handelte sich nach wie vor um das einzig Logische, dass Shawn noch lebend da draußen war. Oder?

Letzte Nacht hatte ich es noch mehrere Male auf Shawns Handy versucht, jedoch ohne Erfolg. Eigentlich wollte ich auf das Radio achten und überlegen, wie ich am besten helfen konnte, doch ohne es zu wollen, war ich immer wieder vor Erschöpfung eingenickt.

Gegen drei Uhr morgens musste ich komplett eingeschlafen sein. Und jetzt war die kurze Nacht vorbei. Und der Horror ging weiter.

Obwohl ich gerade aufgewacht war, fand ich mich in meinem Albtraum wieder.

Erholt fühlte ich mich auch nicht. Es wurde mit jeder fortschreitenden Sekunde schlimmer. Ich wusste nicht wo und in welchem Zustand Shawn sich befand, ob er je wieder nach Hause kommen würde, ob ich ihn je wieder sehen, anfassen, riechen würde und ich wusste nicht, wie ich damit umginge, wenn er es nicht tat. Wenn er für immer da draußen bliebe und mich allein ließe.

Ich hatte keine Kraft mehr, darüber nachzudenken, und trotzdem tat ich es. Das war es, was mich zersetze, mich langsam von Innen auffraß. Die Sorge nagte unaufhaltsam an Energie, die schon längst aufgebraucht war.

Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich der Macht der Gewohnheit nach. Ich lief zuerst ins Bad und duschte in der Zeit, die der Wasserkocher brauchte, seiner Aufgabe nachzugehen, zog mir dann frische Kleidung an, und hörte den Geräuschen aus dem Radio zu, während ich mir meinen Tee aufgoss.

Die einzigen Neuigkeiten, die verkündet wurden, waren Details zu den Orten der Angriffe, der angerichteten Verwüstung und der Motive, die die nach wie vor unbekannten Angreifer gehabt haben könnten.

Doch das alles interessierte mich ehrlich gesagt einen Bowtrucklemist. Ich wusste, wer es gewesen war und warum sie es getan hatten. Eigentlich regte es mich auf, dass es der Öffentlichkeit nun, nach so einem Vorfall, weiterhin vorenthalten wurde. Aber Aufregung war eine weitere Sache, für die ich keine Kraft besaß, weswegen ich ihre Anwesenheit ignorierte. Denn das konnte ich. Ich konnte all meine Gedanken zu allen Themen steuern. Außer die über Shawn.

Denn meine Fantasien, was wohl gerade mit ihm geschah, wenn er gefangen genommen worden war, gingen mit mir durch und ließen meinen Tee kalt werden.

Bevor das Bild der gesponnen Folterschreie und Körperverletzungen sich endgültig in meinem Kopf einbrennen konnte, klopfte es an der Tür. Mein Herz machte einen Satz, obwohl mir klar war, dass es nicht Shawn sein konnte. Shawn würde nicht klopfen. Die einzige Person, die in so einer Situation den Anstand besaß zu klopfen, war eine ganz andere.

Ich ließ Alia in die Wohnung und nahm ihr die lauwarmen Tüten ab, in denen sie das mitgebrachte Frühstück transportierte, um es auf Teller auszupacken. Keinem von uns beiden war nach Herumgammeln zu Mute, weswegen wir uns stumm an den Tisch setzten und den Sonnenaufgang beobachteten.

Es war ein klarer Tag. Bis jetzt war keine einzige Wolke am fernblauen Himmel zu sehen und der Mond stand noch schwach mitten über London.

Wir sagten kein Wort, als wir appetitlos an den Backwaren knabberten und den Kaffee tranken. Blieben still, als wir das Geschirr ohne Magie wegräumten, und schwiegen, als ich das Radio lauter drehte und wir auf Neuigkeiten warteten.

Es gab keine.

Zumindest keine, die mit der Gesellschaft geteilt wurden. Die erste Liste, wie sie es nannten, wurde erneut vorgelesen. Die erste Liste umfasste alle Namen der bisher identifizierten Toten. Es standen einige Namen drauf, die mir geläufig waren, allerdings eher vom Hören. Nachnamen, die man mal auf irgendeinem Papier gelesen hatte, bei einem Gespräch aufgeschnappt hatte. Doch niemanden, den ich oder Alia kannten.

Bis auf Lewis' Eltern und Shawn fehlte niemand aus unserem Freundeskreis. Meiner Mum ging es gut, die Eule hatte mich noch gestern Abend erreicht. Dass Shawn vermisst wurde, antwortete ich ihr nicht. Auch sonst waren alle in Sicherheit. 

Katie und Nate, Teddy, Jace. Sydney und Jusrus. Stella, Ginger, Camila und Clove. Sogar Henry und Davina hatten sich gemeldet, ebenso fast die gesamte Quidditchmannschaft. Ich war überrascht gewesen, persönliche Nachrichten von Kieran und Isabelle, Uriah, Ivy, Eve und selbst Weena und Evan zu bekommen.

Ich selbst hatte niemandem geschrieben, dass es mir gut ging. Um ehrlich zu sein hatte ich gedacht, es würde niemanden außer meiner engen Freunde interessieren, was mit mir passierte. Ich hatte ausschließlich den ganzen Nachrichten, die gestern Nacht eingetrudelt waren, geantwortet. Keinem sagte ich etwas von Shawn, obwohl einige gefragt hatten. 

Die meisten wussten über seinen Job Bescheid und auch, was dies bedeutete: Er käme schon klar und wäre vermutlich ohnehin nicht Zuhause anzutreffen.

Als derselbe Bericht wie gestern Nacht erneut gesendet wurde, drehte ich die Lautstärke runter und bot Alia aus Gewohnheit einen Tee an. Eigentlich hasse Alia Tee, weswegen ich umso überraschter war, als sie dankend annahm.

Abermals geräuschlos arrangierte ich die Heißgetränke, schob Alia eine Tasse zu und setzte mich. Die Sonne stand nun am Horizont und tauchte die Stadt und ihre Häuser in helles aber kaltes Licht. Auch wenn es nicht so aussah, waren die Temperaturen niedrig.

"Wie geht es Lewis?", fragte ich leise und pustete auf die Oberfläche meines Tees.

"Er und Jace sind zu Hause", entgegnete Alia mindestens genauso ruhig und starrte ihren Henkel an. "Lewis macht sich immer noch Vorwürfe, aber Jace will ihn ablenken. Ich glaube, sie haben sich auf den Weg gemacht, um sich an den Aufräumarbeiten zu beteiligen. Steine wegräumen uns so. Nur an Orten, wo bereits alle Menschen geborgen wurden."

Den letzten Satz schob Alia schnell hinterher, als sie meinen bestürzten Gesichtsausdruck sah.

"Ich würde auch so gern helfen", gestand ich. "Aber ich kann nicht mal mehr den Wasserkocher anzaubern. Und würde wahrscheinlich bei der kleinsten Aufgabe ein riesen Chaos verursachen, weil ich unkonzentriert bin."

"Das ist doch in Ordnung", begann Alia tröstend, doch ich unterbrach sie.

"Nein! Eben nicht! Lil, andere haben ihre Familie und Freunde verloren und helfen trotzdem! Und ich sitze hier und tue nichts!"

"Hey, Kassy."

Alia blieb ganz ruhig und wies mich an, mich wieder zu setzen. Mir war gar nicht aufgefallen, wie ich aufgesprungen war. Zitternd folgte ich ihrer Anweisung und ließ zu, dass sie mir ihre Hand auf den Arm legte.

"Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie schlimm das für dich sein muss. Ich kenne dich. Und ich kenne deine größte Angst. Ihn auf diese Art zu verlieren. Und ich sage dir, es ist okay, dass du hier drin bist. Das ist schon wahre Stärke. Andere hätten mittlerweile den Verstand verloren. Wenn es um Lewis gehen würde, wenn Lewis in Shawns Job wäre und ... ich wäre bereits am Ende. Aber du schaffst das. Du bist stärker als du denkst. Hör mal, du konntest einen Patronus in diesem Zustand heraufbeschwören. Es ist okay, dass du dich auf dich selbst konzentrierst. Es sind genug Leute da, um zu helfen. Und du kannst nicht alle retten."

Ich blinzelte ein paar Mal. Mir war nach Weinen zumute, doch ich war trotz des ganzen überdurchschnittlichen Teekonsums wie ausgetrocknet.

Alia zog ihre Hand zurück. "Manchmal ist es wichtiger, sich selbst zu retten."

Als ich wiederholt aufsprang, sah sie mich etwas enttäuscht an, doch es war nicht, weil ich die Beherrschung verlor. Ich hatte etwas gehört.

Schnell erhöhte ich die Lautstärke des Radios und fror noch in der Bewegung ein, als meine Vermutung sich bestätigte.

" ... zweite Liste. Sie umfasst vierzehn Namen, die wie folgt lauten: Mia Abbott. Penelope Clearwater."

Diese Nachricht traf uns völlig unvorbereitet. Wir hatten keine Zeit, Luft zu schnappen - uns wurden direkt vierzehn weitere Tote an den Kopf geworfen.

"Tristan Corvus."

Mit jedem weiteren Namen trat das unsichtbare Erumpent zu. Es tat weh, Teil zu haben, wie Leben anderer zerstört wurden. Und dennoch wollte ich einfach nur unbeschadet an dem Buchstaben M vorbei kommen.

"Agnus Dover. Andromeda Flint."

Ja, es tat weh. Aber das war nichts im Vergleich zu dem nächsten Tritt. Und wie andere Personen ihn fühlen mussten.

"Raphael Johnson. Diana Jones. Abercrombie Khan."

Alia war von Natur aus blass, doch so leichenweiß wie jetzt hatte ich sie nicht mal vor den UTZ-Prüfungen erlebt.

Nun war die Stille greifbar. So dick, als müsste ich hindurch waten, um zu Alia zu gelangen. Doch ich hatte keine Kraft dafür. Egal, wie überzeugt Alia davon war, dass ich stark sei, ich konnte nicht mehr. Ich konnte sie nicht erreichen. Und sie war so zerstört, sie konnte mich nicht mal ansehen.

"Lily Moon", zog es an uns vorbei, doch ich verspürte kaum Erleichterung.

So einen komischen Moment hatte ich seit Jahren nicht zwischen uns erlebt. Vielleicht sogar nie. Ich wollte es enden lassen, traute mich jedoch nicht zu sprechen.

Erinnerungen schleuderten mich zurück an einen Abend vor über sechs Jahren. Ich saß auf dem Boden der Bibliothek und musste eine Strafarbeit mit einem mir fremden Jungen durchleben. Ich mochte den fremden Jungen auf eine seltsame Weise, traute mich aber nicht, ihn anzusprechen. Ich wollte reden, doch mein Hals war trocken und ich nervös.

Alia war kein Fremder. Sie war meine beste Freundin und wir steckten gemeinsam in einer uns unbekannten Situation. Doch ich war so am Ende, so überfordert, dass ich sie alleine ließ.

Der Hass auf mich selbst wuchs mit jeder Sekunde.

"Du solltest zu ihm gehen", brachte ich schließlich über die Lippen und sah sie an, in dem Versuch, ihren Blick aufzufangen. Doch Alia schaute nicht zurück. "Zu beiden."

"Ich bleibe hier", murmelte sie ganz leise.

"Tust du nicht", antwortete ich und sprach damit das Lauteste aus, was diese vier Wände heute zu Ohren bekommen hatten. "Du gehst jetzt und kümmerst dich um deinen Verlobten. Jemanden, der wirklich Hilfe braucht, weil ... weil ..." Ich atmete tief durch. Manchmal musste man die Dinge aussprechen, egal, wie angsterregend sie waren. "Weil seine Eltern gestorben sind."

Alia fuhr herum und kniff die Augen zusammen. Weinend erhob sie sich und blinzelte ein paar Mal. Dann nickte sie.

"Ich komme wieder, versprochen. Ich will dich nicht alleine ... "

"Ich bin nicht alleine", stoppte ich sie. "Ich habe jede Menge Menschen, die sich um mich sorgen, mehr als ich dachte. Mehr als ich wohl jemals wahrnehmen werde. Lewis hat auch jede Menge, aber Lewis braucht dich jetzt. Ich komm schon klar."

Alia konnte mir noch so oft erzählen, ich sei stark - ich war nichts im Vergleich zu ihr. Sie watete durch diese erdrückende Spannung und umarmte mich. Sie besaß sogar die Kraft, dies fest zu tun. Ich konnte ihr lediglich eine Hand auf den Rücken legen. Im nächsten Moment war sie verschwunden und ich wieder allein.

Den gesamten Tag über wurden Liste eins und zwei vorgelesen. Immer wieder spürte ich die Tritte in die Magenkuhle, immer wieder fand ich einen neuen Namen, den ich doch irgendwie kannte.

Lester Xavier.

Mr. Xavier, unser ehemaliger Lehrer für Flugstunden, der sich strikt gegen Quidditch geweigert hatte. Ich wusste nicht, ob es seine Frau, seine Mutter, Schwester oder Tochter war, doch Filis Xavier stand auch auf der Liste.

Parin Malcome.

Ein Freund meines Vaters, der ab und zu zu den Kinder-Sind-Unten-Verboten-Abenden vorbei gekommen war.

Livia Scott.

Ich war mir ziemlich sicher, dass dies die Mum von Bea Scott war, einer Hufflepuff aus meinem Jahrgang.

Zenya Kass.

Eine Bekannte meiner Mutter. Meine Mutter kannte ziemlich viele Leute, doch ich meinte mich zu erinnern, dass sie und Zenya in ihrer Kindheit Nachbarn gewesen waren.

Sandra Sandhell.

Saiph hatte mir geschrieben, dass Professor Sandhell Professor Goldstein zeitweise in Verteidigung gegen die dunklen Künste vertreten hatte und dass sie sie hasste. In beide Richtungen: Saiph hasste sie, sie hasste Saiph.

Mir schwirrten Namen im Kopf herum. Ich trank zu viel Tee. Ich aß nicht. Ich öffnete das Fenster, schloss es wieder, öffnete er erneut, zog mir einen Pullover an, zog ihn wieder aus, schloss das Fenster, zog ihn wieder an, hörte dem Radio zu, hörte mehr Namen, hörte Namen von Vermissten, Namen von Leuten, die wieder aufgetaucht waren, Aufrufe nach Hilfe, Erklärungen, wie Hermine Granger-Weasley den Muggeln den Vorfall erklären wollte (es sei ein Erdbeben gewesen), zog den Pullover aus, wollte das Fenster schließen, erinnerte mich, dass das Fenster schon zu war und zog den Pullover wieder an.

Wie ein besonders langsamer Streeler zog sich die Zeit dahin, doch wie viel exakt vergangen war, konnte ich nicht sagen. Es war noch mitten am Tag, so viel stand fest. Die Sonne hatte den Zenit überschritten und nach wie vor bedeckte keine Wolke den Himmel. Es wehte zwar ein kalter Wind, doch ansonsten war es verhältnismäßig warm. 

Doch so langsam die letzten Stunden verstrichen waren, umso schneller brachen die nächsten über mich herein. Man konnte nicht mal von Stunden sprechen - es handelte sich lediglich um Minuten.

Kurz vor dem Punkt, an dem sich die Sanduhr wendete, wurde das Radio automatisch lauter. Reflexartig horchte ich auf.

"Die erste und die zweite Liste mit Namen der verstorbenen Personen hat uns bereits erreicht, um sie erneut abzurufen, tippen Sie bitte einmal mit dem Zauberstab auf Ihr Gerät und sprechen die gewünschte Liste deutlich aus. Gerade erhalten haben wir die dritte und nach Angaben des Ministeriums soweit letzte Liste. Unter den aufgeführten Namen befinden sich Anschlagsopfer, als vermisst und nun tot aufgefundene Personen, und Verletzte, die leider den Verwundungen erlegen sind. Die dritte Liste umfasst zehn Namen. Sie lauten wie folgt: Azrael Bayley."

Ich schluckte. Azrael war ein Spieler bei den Ballycastle Bats und Ersatzhüter der englischen Nationalmannschaft. Gewesen. Ich hatte erst letzte Woche mit ihm trainiert, er sollte eigentlich in der CM spielen.

"Thekla Bletchley."

Mir wurde schlecht. Es schien, als folgten nun lauter Namen, die mir viel zu gut bekannt waren. Thekla und ich hatten keine positive gemeinsame Vergangenheit zu verzeichnen, und dennoch war es komisch zu wissen, dass jemand, mit dem ich zur Schule gegangen war, nun als tot bekanntgegeben wurde.

"Andrew Gertler. Scott Harris."

Nein.

Nein, nein, nein.

Nein.

Andrew und Scott. Nein. Shawns Freunde. Teil seines Teams. Nein. Das durfte nicht sein.

Die Welt begann sich zu drehen. Mir war so schlecht vor Nervosität, dass meine Beine mich zum Waschbecken der Küche trugen und ich erneut würgte.

Ich kannte Andrew und Scott. Ich hatte sie mehrmals getroffen, mit ihnen geredet, mit ihnen gelacht. Mit Andrew, Scott und Shawn. Weil die drei als Team da draußen waren.

"Elisabeth MacDougal."

Melodys Großmutter. Ich hatte mal vor Jahren die beiden Wochen der Osterferien gemeinsam mit Mel bei ihren Großeltern verbracht.

Ich sollte mehr Trauer spüren. Doch ich tat es nicht. Ich würde gar nichts tun können, bis Shawns Name nicht vorgelesen wurde. Und falls doch, würde ich nie wieder etwas tun können.

"Shawn Mansfield. Basil Moore."

Der Punk war gekommen, an dem das Stundenglas kippte und der Sand plötzlich still zu stehen schien. Und dann fing er an zu stürzen, ein Sandkorn nach dem anderen, ohne Halt, ohne Schutz. Viel zu schnell, um greifbar zu sein.

Ich würgte das Frühstück ins Waschbecken. Für eine Sekunde hatte ich diesen tödlichen Schlag in meinem Bauch gefühlt. Der Stein, der tiefer in den Abgrund sank, mit mir im Schlepptau. Einen Moment lang dachte ich, alles sei vorbei. Für immer.

Doch das war es nicht. Shawn war nicht tot. Er war auch nicht hier, aber Andrew und Scott hatte es erwischt - Shawn nicht. Zumindest nicht offiziell. Wenn ...

Wenn sie keinen Fehler mit der Liste gemacht hatten. Wenn sie mit Shawn Mansfield gar nicht Shawn Mansfield meinten. Aber Shawn müsste von jemandem identifiziert werden. Ich hatte seinen Namen hinterlassen, mir hätte jemand Bescheid gesagt. Sie hätten mir vorher ... Tränen stiegen mir in die Augen. Lewis hatte vorher auch niemand Bescheid gesagt.

Trotzdem, ein Fehler wäre in dieser Lage kaum vorstellbar. Ich musste rational denken. Shawns Name war gerade im Ministerium bekannt, sie würden keinen Fehler machen. Und ich kannte einen Shawn Mansfield vom Propheten.

"Malcolm Torebs."

Keine Sekunde war verstrichen, in der ich durch alle möglichen Emotionen gegangen war.

Für eine Sekunde hatte ich gedacht, Shawn sei tot.

Es war die schlimmste Sekunde meines Lebens gewesen.

Als die Erleichterung einschlug, verstand ich zum ersten Mal, weshalb ich jahrelang so panische Angst davor hatte, dass genau sowas wie jetzt gerade passierte. Es ging nicht nur darum, dass Shawn tot sein könnte.

Es ging darum, dass ich mit ihm starb.

Die Sorge nahm mich Stück für Stück auseinander und nur weil Shawns Name nicht auf der Liste stand, bedeutete das nicht, dass er nicht tot war. Von wegen, ich wäre nicht von ihm abhängig.

"Enya Whisp."

Malcolm und Enya. Enya war in Shawns Jahr gewesen, sogar eine Gryffindor. Malcolm ebenfalls, er war in meinem gewesen. Lewis hatte sich immer beschwert, dass er nachts so laut schnarchte.

"Nina Wood."

Das war's. Das waren die zehn Namen, die hundertfach so viele Leben zerstört hatten. Ein einzelner Tod beeinflusste so viele andere Leben. 

Ich kannte - bis auf Basil Moore und Nina Wood - jeden einzelnen Namen auf Liste drei. Und obwohl Shawns nicht dabei gewesen war, verspürte ich keine Erleichterung.

Der Schock über Shawn Mansfield saß noch so tief, dass ich erst realisierte, was soeben passiert war, als ich mich zurück auf einen der Küchenstühle setzte. Einen einzigen Vorteil hatte diese Schreckenssekunde, auf die eine seltsame Art der Angst und Befreiung folgte: Ich fing an zu weinen.

Und ich hörte nicht auf. Als hätte diese Panik eine Wand durchbrochen, konnte ich plötzlich weinen. Es tat erschreckend gut.

Es tat sogar so gut, dass ich nicht aufhören wollte. Endlich hatte ich was zu tun, durch das ich abgelenkt wurde. Ich konnte meine Gedanken sich gegenseitig jagen lassen, konnte all die Angst und die Hoffnung und den Schmerz einfach rauslassen, mit der Stille und Einsamkeit der Wohnung teilen, die nicht mehr mein Zuhause war, und für einen kleinen naiven Moment erlaubte ich mir sogar zu denken, dass es jetzt nicht noch schlimmer werden könnte.

Es sei denn, die eine Sekunde, in der ich von Shawns Tod überzeugt gewesen war, wurde doch noch zur Ewigkeit.

Die Gegenwart lebte sich im Zeitraffer. Obwohl die Schmerzen sich zogen und gar nicht so viel in einen so kleinen Zeitraum passen konnte, blinzelte ich einmal und drei Sekunden waren verstrichen.

Obgleich das Radio nicht leiser wurde, hörte ich es dennoch nicht mehr. Da war nur dieses Laute rauschen und der komplette Verlust meines Zeitgefühls. Ich spürte, wie ich langsam den Bezug zur Realität verlor.

Daher konnte ich nicht sagen, wie lange es dauerte, doch schließlich sprang ein silbriges Tier durch das geschlossene Fenster und fing vor mir noch heller an zu leuchten.

Es sprach mit Shawns Stimme: "Nicht erschrecken, bin gleich Zuhause", doch ich war überzeugt, dass Shawn diese Nachricht nicht gesendet haben konnte.

Denn das war kein Otter, der das sagte. Es war etwas ähnlich Kleines. Etwas, das ich schon mal für einen Otter gehalten hatte. Doch das konnte unmöglich wahr sein. Olivia sagte, ich hätte ihr einen Otter geschickt. Wenn Shawn nun ein Wiesel - 

Es gab einen kleinen Knall und ich fuhr herum.

In der Mitte des Raumes, genau auf der Hälfte zwischen Wohnzimmer und Küche, stand eine große Person, die in einem schweren dunklen Umhang gekleidet war. Die Haare, die Haut und die Kleidung waren blutdurchtränkt, die schweren Stiefel voller Erde. Lauter Kratzer, Verletzungen, Schnitte bedeckten das Gesicht, die Hände und Handgelenke.

Doch die Augen waren immer noch dieselben.

"Shawn", wimmerte ich, unmöglich für ihn zu hören. Dennoch drehte er sich zu mir um.

Wenn ich die Situation mit Alia von heute Morgen als komisch beschrieben hatte, fehlten mir jetzt jegliche Worte. Wie begrüßte man jemanden, um den man die letzten zwanzig Stunden Angst gehabt und den man für tot befürchtet hatte?

"Kassy", raunte Shawn schwach, als hätte er mich doch verstanden.

Irgendwie machte das alles einfach.

Ich lief auf ihn zu und schmiss meinen Körper gegen ihn, fest, doch er blieb standhaft. Meine Arme klammerten sich um ihn, seine kalten Klamotten drückten gegen meine Haut. Ich spürte getrocknetes Blut und roch allerlei Dinge, die ich nicht aufzählen wollte, doch ich hielt ihn fest.

Er hingegen legte nur einen Arm um mich und drückte mir einen Kuss in die Haare. Seine Atmung ging unregelmäßig und heftig, als sei er gerade um sein Leben gerannt, doch von außen nahm man diese Anstrengung kaum wahr.

"Was ist denn los?", fragte er leise.

Als stände er in Flammen, trat ich schlagartig einen Schritt zurück.

"Was los ist?", krächzte ich und spürte, wie die Tränen zurück an die Oberfläche gelangten. Die, die ganz tief vergraben waren. "Was los ist?"

Geschockt sahen wir einander an. Shawn schien es wirklich nicht zu verstehen.

"Andrew und ... Scott ... sind ..." Meine Stimme verließ immer mehr den Raum und ich konnte mich nicht überwinden, den Satz zu beenden.

"Tot. Ja, ich weiß. Ich war dabei."

Ich zuckte zusammen, als hätte Shawn mich geschlagen. Wie konnte er so einfach damit umgehen? Seine Freunde waren getötet worden und er hatte es gesehen und fragte mich trotzdem, was los war?

"Ja, dann ... ich ... "

Sprachlos stammelte ich einzelne Wörter vor mich hin. Die Zeit flog vorbei. Ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte. Ich war froh, dass Shawn wieder da war, aber auch so wütend, und einfach nur müde.

"Aber ich frage mich", ergriff Shawn nun das Wort, "was mit dir los ist. Hast du dich mal angesehen? Du siehst schrecklich aus, du bist total blass."

Mir stand der Mund offen.

"Sag mal, haben sie dir einen Klatscher gegen den Kopf geschlagen?"

Jetzt zuckte Shawn zusammen, doch ich bemerkte es kaum.

"Hör mal, ich saß hier fast einen ganzen Tag rum und habe gebetet, dass du unversehrt nach Hause kommst. Ich habe Verletzte aus nächster Nähe gesehen, habe die Überbringung der Toten mit verfolgen müssen, habe aus erster Hand miterlebt, die Freunde gestorben sind und verdammt noch mal auf dich gewartet, weil ich mir Sorgen gemacht habe!"

Shawns Augenbrauen zogen sich unverständlich zusammen.

"Kassy", sagte er leise und trat einen Schritt auf mich zu. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe mich noch nicht mal lebend im Ministerium gemeldet, die denken, ich bin immer noch weg. Weil ich erst zu dir wollte. Ich dachte mir, dass du wartest, aber ich hätte nicht gedacht, dass du so am ... außer dir bist. Ich habe dir doch versprochen, immer zurück zu kommen."

"NA UND?", brüllte ich plötzlich. Mein Hals fing sofort an zu brennen, doch es war mir egal. "Bist du aber nicht! Zumindest nicht gleich! Du warst erst zwanzig Stunden verschwunden, weil du um dein Leben kämpfen musstest! Und nur weil du es versprichst, heißt das ja noch lange nichts! Andrew und Scott haben ihren Familien sicherlich auch einiges versprochen! Ich saß hier und bin vor Angst fast kaputt gegangen!"

"Können wir das gleich weiter besprechen? Ich würde gern duschen gehen."

Shawn blinzelte. Ich starrte zurück. Was?

"Ich würde gerne duschen gehen", wiederholte Shawn, als hätte er meine Gedanken gehört.

"Jetzt." Es war keine Frage.

"Ja, jetzt", erwiderte Shawn gefasst. "Ich habe überall Blut, stinke, und möchte jetzt duschen gehen."

"Wow."

Aus meinem Gesicht musste viel Abscheu sprechen, denn Shawns Stirn zog sich Richtung Nase. Ich spürte momentan nichts als Enttäuschung. Über mich selbst, weil ich es nicht früher gesehen hatte. Weil ich erst meinen Albtraum durchleben musste, um es zu verstehen.

"Du hast auch versprochen, gestern Abend um sieben zu Hause zu sein."

"Das war etwas ganz anderes! Du hast doch gesehen, wie - "

"Ach, und das hier nicht? Das hier ist nichts anderes? Weißt du, was du noch versprochen hast?"

Shawns Haltung wurde ganz klein, doch ich bemerkte, wie er versuchte, sich aus eigener Kraft aufzurichten.

"Kannst du dich erinnern?", keuchte ich. "Erinnerst du dich daran, als du mir versprochen hast, alles dafür zu tun, dass du mir irgendwann versprechen kannst, dass wir für immer zusammenbleiben können?"

Etwas in Shawns Gesicht bewegte sich. Ich konnte nicht erahnen, welche Gefühle er mit der verbundenen Erinnerung durchlebte. Nicht mehr.

"Und davor, dass du nur Dinge versprichst, die du auch wirklich halten kannst?"

Meine Unterlippe zitterte und stumme Tränen bewässerten den Boden unter mir. Eine kleine Schramme oberhalb Shawns linker Augenbraue riss wieder auf und fing leicht an zu bluten. Ich spürte die Sonne in meinem Rücken.

"Es war gut, dass du mir nicht von vornherein versprochen hast, dass wir für immer zusammenbleiben. Denn du hattest recht, man kann es nie wissen. Und ich glaube dir, dass du deine Versprechen für immer hältst. Aber ehrlich gesagt hoffe ich, dass du dieses gebrochen hast. Denn wenn das hier alles ist, alles, was du dafür tun willst, dass wir zusammenbleiben, dann ist es nicht viel und ziemlich enttäuschend."

Ich sprach nicht mehr nur von heute oder gestern - das wussten wir beide.

Ohne ein Wort drehte Shawn sich um und ging ins Bad. Ich hörte die Tür klicken - das Zeichen, dass er abgeschlossen hatte - und starrte in die Leere vor mir. Es kam mir nicht kälter vor.

Zu dem konstanten Hintergrundgeräusch des laufenden Wassers bewegte ich mich auf und ab, hin und her, von der Sofalehne zum Küchentisch und wieder zurück.

Und die Gedanken kreisten hinterher.

Ich schämte mich für das, was ich eben gesagt hatte. Wie ich reagiert hatte. Shawn war traumatisiert, hat vermutlich nicht nur Scott und Andrew sterben sehen. War in ihrem Blut getränkt. Natürlich wollte er duschen gehen.

Wahrscheinlich war alles, was er seit Stunden wollte, nach Hause zu kommen, wo alles normal war, um so zu tun, als wäre alles normal.

Aber mit mir hatte er nicht gerechnet. Nichts war mehr normal, das musste auch Shawn verstehen. Doch wenn er genau dies von mir erwartete, dann missverstanden wir uns immer noch. Keiner von uns beiden hatte je mit so einer Situation gerechnet. Aber jetzt war sie da. Und sie mischte und verteilte die Karten neu.

Karten eines Spiels, von dem ich dachte, ich kennte die Regeln. Aber urplötzlich, während sie vermengt wurden und die neue Runde begann, bemerkte ich, dass ich die gesamte letzte Runde nur eine entfernte Ahnung gehabt hatte und nun feststellen musste, dass ich das Spiel verwechselt hatte.

Das hier war nicht das, was es noch zu Beginn gewesen ist.

Auf der anderen Seite - sein Patronus. Mein Patronus. So etwas hatte ich noch nie erlebt. War das, was der Hut meinte? Wir seien perfekt füreinander - das mochte sein. Doch perfekt bedeutete nicht gleich gut. Oder gesund.

Wenn Shawns Patronus sich tatsächlich verändert hatte, dann konnte ihm alles nicht so egal sein, wie er es erscheinen ließ. Doch warum versteckte er es? Erkannte er nicht, was er gerade am verlieren war?

Dass Shawn fast gestorben wäre, änderte nichts - ich konnte nicht mehr.

Es machte mich nicht wach, schenkte mir keine neue Energie - im Gegenteil. Es würde nicht aufhören. Erschreckend langsam machte sich die Erkenntnis breit, dass es jetzt nur schlimmer werden würde. Jetzt, da das hier passiert war.

Shawn würde nicht aufhören.

Und ich wollte nicht, dass er aufhörte. Er musste das Spiel zu Ende spielen, denn er kannte die Regeln. Es war wichtig, dass Shawn seinem Beruf nachging. Wichtiger als je zuvor. Jetzt von ihm zu verlangen, aufzuhören, wäre, als würde man von mir verlangen, meinen Zauberstab zu zerbrechen.

Viele Menschen waren gestorben - Zauberer und Muggel - und Shawn war einer der wichtigsten Bestandteile dieses Falles. Er war der Teamleiter, die Informationsquelle.

Trotzdem war er direkt nach Hause gekommen, anstatt zuerst ins Ministerium zu gehen. Er wollte erst sicher gehen, dass es mir gut ging und ich die Erste war, die wusste, dass es ihm gut ging.

Ich schlug die Hände über den Kopf. Abermals begann sich alles zu drehen. Ein komisches Rauschen drückte sich auf meine Ohren, als hätte ich die dicken Ohrenschützer aus Kräuterkunde auf, doch hören konnte ich noch alles ohne Probleme.

Vor meine Augen legte sich ein Schleier, alles kam mir so schrecklich unscharf vor. Ich konnte nichts fassen, ließ die Dinge einfach vorbeischwimmen. So hatte ich mich das letzte Mal in der Zeit der UTZ-Prüfungen gefühlt. Und ich war damals schon mit dem Anspruch an mich selbst zu weit gegangen.

Doch war ich bereit dazu? War ich bereit zu diesem Schritt? Endgültig?

Ich setzte mich aufs Sofa und drückte die Hände vor mein Gesicht. Als könnte ich damit alles ausblenden, es ungeschehen machen, es wieder einfach werden lassen. Als wären die Probleme weg, nur weil es schwarz um mich herum war.

Mein Zeigefinger streifte mein Auge und ich zuckte zurück. Es fühlte sich komisch an. Irgendwie weich und dennoch druckempfindlich.

Ich erinnerte mich, was Shawn gesagt hatte. Du siehst schrecklich aus, du bist total blass. Mit zittrigen Knien stand ich auf und wankte langsam zur Haustür, neben der ein Spiegel über der Kommode hing.

Als ich hinein schaute, dachte ich erst, er sei kaputt. Dann erschrak ich. Der Spiegel war nicht kaputt - ich war es. Ich erkannte mich nicht wieder.

Meine Haut war, wie Shawn gesagt hatte, blass. Mehr als das - grau und eingefallen. Man sah meine Wangenknochen. Man hatte meine Wangenknochen noch nie gesehen. Unter meinen Augen regierten schwarze Schatten, meine Haare wirkten farblos und dünn, allgemein hatte ich viel mehr abgenommen, als es in den letzten Stunden möglich gewesen wäre.

Doch das Schlimmste war, als ich mir in die Augen sah. Es war, als blickte eine andere Person zurück. Da leuchtete nicht mehr das vertraute Braun, immer stark genug, um noch einen weiteren Tag zu kämpfen und sich zu behaupten. Nicht mehr die kleinen Sprinkler, die sie so interessant gemacht hatten.

Anstarren taten mich nur zwei matte braune Sinnesorgane, getrübte Pupillen. Nichts von dem war noch ich.

Als die Tür des Badezimmers erneut klickte, bemerkte ich erst, dass das Wasser schon eine Zeit lang aufgehört hatte, zu rauschen.

Shawn kam aus der Tür, völlig sauber. Wären die Schnitte nicht gewesen, könnte man meinen, nichts von all dem wäre gewesen. Mir schossen die Tränen in die Augen.

Meine Entscheidung stand fest.

Er kam auf mich zu, wollte mich in den Arm nehmen, doch jetzt war ich es, die ihn sanft wegschob. Verdutzt blickte er mich an.

"Was ist - "

"Ich kann nicht mehr", murmelte ich und gleichzeitig vielen die ersten Tränen aus diesen müden, stillgelegten Augen, die meine sein sollten.

Es lag nicht nur an den letzten zwanzig Stunden. Es lag an den letzten zwanzig Jahren.

Tagein, tagaus war ich jeden Morgen aufgestanden, selten ohne Sorgen im Hinterkopf. Doch gerade die letzten zwanzig Monate waren kein Leichtes gewesen. Die letzten zwanzig Wochen hatten einiges dazu beigetragen, und die letzten zwanzig Tage für das gesorgt, was ich jetzt war.

Leer.

Meine Energiereserven waren aufgebraucht. Ich tat Dinge, die mir Spaß machten, doch es waren zu viele. Ich wollte in allen perfekt sein, doch mir fehlte die Grundlage. Mich nur für andere aufzuopfern war nicht das, was Perfektion hervorrief. Perfektion maß sich an der Zufriedenheit des Gestalters.

Und je mehr ich versuchte, mit dem zufrieden zu sein, was ich hatte, als desto schwieriger stellte es sich heraus. Ich konnte mich weiter belügen oder ich konnte beweisen, dass auch Ravenclaws mutig sein konnten. 

Ich wollte, dass alles einfach wurde. Aber eigentlich wollte ich, dass ich die richtige Entscheidung traf. Und nun stand ich an der berühmt-berüchtigten Kreuzung und musste einen Weg wählen: Den einfachen oder den richtigen.

"Was kannst du nicht mehr?", wiederholte Shawn leise und trat einen unmerklichen Schritt zurück.

"Ich leide. Und es wird nicht besser. Zumindest nicht so."

"Ich verstehe das nicht, Kas. Was denn? Wieso ..."

"Ich habe meinen Bruder getroffen."

Shawn sah mich verdutzt an, als wolle er sagen, ich hätte keinen Bruder, und dann schien er den Schnatz zu fangen. "Du hast ... Theo?!"

"Ja. Er hat Kinder. Mindestens zwei. Ich habe mich mit meinem Halbbruder unterhalten."

Müde blinzelte ich synchron zu Shawn, der sich mit der Hand durch die nassen Haare fuhr. "Weiß er es?"

"Natürlich nicht! Keine weiß es. Du auch nicht."

Ich sah ihn eindringlich an. Er nickte.

"Wir können darüber reden", schlug er vor, doch ich schüttelte den Kopf.

"Das wollte ich", erklärte ich. "Zuerst über Melody, aber du musstest arbeiten."

"Melody? Warum Mel - "

"Und dann habe ich meinen Bruder getroffen und du bist gestern nicht gekommen und ..."

Ich holte tief Luft.

"Der Punkt ist, dass es zu viel ist."

Shawn öffnete den Mund, erstickte an zwei Versuchen, etwas zu sagen, und schloss ihn schließlich wieder, um mich weitersprechen zu lassen.

"Ich muss jetzt das tun, was du mir beigebracht hast."

Seine Augen verwandelten sich in fragende Schlitze.

"Auf mich aufzupassen."

Dies war der Moment, an dem die Zeit still stand. Der Moment, in dem auch Shawn verstand, warum ich ihn nicht umarmen wollte. Weshalb ich schon die ganze Zeit weinte, weswegen ich nicht über Elias reden wollte.

"Nein."

Es war kein Flüstern, es war lediglich ein bettelndes Wimmern, das aus Shawns Kehle drang. Auf einmal war sein Gesicht voller Tränen. Es tat so weh, dabei zuzusehen, wie er verstand, was ich gerade dabei war, zu tun. Dass er meine Meinung nicht mehr ändern konnte, dass er keine zweite Chance mehr bekam.

"Manchmal ..."

Ich verschluckte mich an den Worten, die Alia mir hinterlassen hatte. So wahre Worte, dass jeder Buchstabe schmerzte.

Manchmal ist es wichtiger, sich selbst zu retten.

"Shawn, manchmal ... Ich muss auf mich achten. Das hast du mir beigebracht. Ich muss ... egoistisch sein. Ich kann diese Beziehung nicht retten, wenn ich dabei falle. Manchmal ... ist es wichtiger, sich selbst zu retten."

Er schluchzte. Wenn mein Herz noch nicht gebrochen war, brach es in diesem Moment des Zeitstillstehens.

"Ich tue uns einen Gefallen, glaub mir", flüsterte ich, doch Shawn schüttelte energisch den Kopf.

"Ich verstehe nicht, Kassy, wir ... es tut mir leid, ich wollte nicht so sein, ich ..."

"Das ist es nicht", unterbrach ich ihn. "Ich stelle dich nicht vor die Wahl. Das wäre grausam, das würde ich nie tun. Aber ich stelle mich selbst vor die Wahl und treffe damit eine Entscheidung für uns beide. Ich hoffe, dass du mir eines Tages verzeihen kannst."

"Du kannst doch nicht einfach ... nach allem, was wir durchgemacht haben, woran wir gearbeitet haben ... es war doch gerade alles so gut. Du stellst es so dar, als ... "

"Deine Intentionen waren schon immer richtig", murmelte ich. "Du machst das, von dem du glaubst, es sei das Richtige für alle. Dabei vergisst du aber, dass es unmöglich ist, sie alle zu retten. Du kannst sie nicht alle retten, Shawn. Aber du musst wenigstens einige retten. Und es gibt Leute, die brauchen dich jetzt mehr als ich. Ich kann auf mich selbst aufpassen.

"Darf ich dich was fragen?", wimmerte er leise, wartete jedoch auf keine Antwort. "Bereust du es? Bereust du uns? Wünscht du dir, wir wären nie gewesen?"

"Nein", sagte ich entschieden. "Aber vielleicht stelle ich mir manchmal vor, wie es gewesen sein könnte, wenn du dein blödes Schulsprecheramt einfach behalten hättest."

Es war gelogen. Ich stellte es mir vor, aber so wie ich es aussprach, war es gelogen. Ich wollte uns nicht ungeschehen machen, denn da war keine Reue. Aber ich musste ihn genug verletzen, damit er mich gehen ließ. Damit wir beide eine Zukunft hätten.

"Du hast mir beigebracht, mein Wohl manchmal an die erste Stelle zu stellen. Und ich kann mich nicht mehr für andere opfern. Ich habe es mein ganzes Leben getan, andere Bedürfnisse über mein eigenes gestellt. Verstehst du das? Wenn ich das noch ein einziges Mal tue, dann stehe ich nie wieder auf."

Ich wischte mit dem Ärmel meines Pullovers über mein eingefallenes Gesicht. Er war bereits nass und strich die Tränen über meine Wangen.

"Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr."

"Nein. Nein, Kassy, nein."

Er kam auf mich zu, doch ich streckte die Arme aus und drängte ihn zurück. Als hätte ich ihn mit einem Fluch getroffen, taumelte er ein paar Schritte nach hinten, bis er neben dem Küchentisch stand und die Nachmittagssonne ihn erhellte.

Ich wünschte, ich könnte das Fenster wieder öffnen.

"Kassy."

Langsam hob ich meinen Rucksack auf. Ich hatte ihn schon gepackt, bevor Shawn Patronus mich erreicht hatte. Nichts meiner Sachen lag noch irgendwo, die einzige Spur war die benutzte Teetasse neben dem Wasserkocher.

Schwer atmend schulterte ich den Rucksack. Obwohl mich das Gewicht nach unten zog, konnte ich frei Luft holen. Ich brach auf, den richtigen Weg nehmend.

"Ich liebe dich, aber ich kann das nicht mehr. Verstehst du, Shawn? Ich kann nicht mehr."

Wiederholt flossen mir die Tränen über die Wangen. Wangen, die plötzlich Wangenknochen besaßen. Ich kam einen Schritt auf ihn zu.

Plötzlich donnerte es. Draußen, wie aus dem nichts, tauchten dunkle Wolken auf. Die Sonne verlor an Kraft, nichts schien mehr blau.

"Ich will die anderen nicht retten, ich will dich bei mir behalten. Ich will nicht, dass du diese Wahl für uns triffst. Wir können es versuchen, wir - "

"Nein", unterbrach ich ihn weinend. "Wir können es einfach nicht, Shawn. Das ist die Wahrheit."

Shawn schluckte, Tränen lösten den frischen Schorf auf und vermischten sich mit Blut.

Draußen donnerte es erneut und wie aus dem Nichts fing es an zu regnen.

"Bedeutet es das, was ich denke, dass es bedeutet?"

Ich schloss kurz die Augen. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in Shawns, überrascht zu sehen, dass das Braun in ihren strahlte. Auch wenn es Schmerz war, den sie versprühten, war da immerhin noch etwas, was sie tun konnten.

In dieser Sekunde wusste ich, dass alles okay sein würde.

Selbst, wenn Shawn es jetzt endlich erstanden hatte, war es zu spät. Aber es würde okay sein.

"Ich weiß nicht mehr, was du denkst", gestand ich. Mehr Tränen. "Ich habe vor langer Zeit aufgehört, dich zu verstehen."

"Das hier ist kein einfaches Weglaufen ans andere Ende der Welt, oder?", flüsterte er verzweifelt.

"Nein, das hier ist endgültig."

Fast gleichzeitig machte sich eine Träne aus unseren Augenwinkeln auf den Weg, tropfte fast zeitgleich zu Boden. Ich verringerte die letzten Schritte zwischen uns und sah ihm ein letztes Mal tief in die Augen.

"Du weißt, ich liebe dich ..."

Ich stockte. Nun, da ich ihm so nah war, fiel mir auf, dass seine Augen doch den Glanz verloren hatten. Ich hatte mich getäuscht, auch er war am Ende. Das, was ich in seinen Augen gesehen hatte, war nur eine Spieglung des letzten Restes Hoffnung zwischen uns gewesen.

Vielleicht würde es nicht gleich okay sein, aber ...

"Aber ich muss jetzt die einzig richtige Entscheidung treffen."

Zum Ende hin war meine Stimme kaum hörbar, doch Shawn verstand jedes Wort. Jedes ausgesprochene und jedes gedachte Wort. Jedes bis jetzt unverstandene Wort, jedes verschwiegene Wort.

Ich schloss den Abstand zwischen uns, küsste ihn ein letztes Mal auf seine feuchten und salzigen Lippen und ... und schaffte den Abstand zwischen uns.

"Es tut mir ... so leid ..."

Dann disapparierte ich und ließ Shawn und alles, was wir jemals gehabt hatten, unter Schmerzen zurück.

ϟ                 ϟ                  ϟ

Ich will gar nicht viel sagen, aber ich hab hier, um euch noch weiter zu traumatisieren, ein kleines Video für euch. Love ya, I hope you forgive me one day ^^

Bis demnächst, Amelie :)

Next Update ⥋ 26.08.2020 (Wednesday)

[20.08.2020]

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top