Kapitel 53 ϟ Truth
Perfectly Wrong - Shawn Mendes ♪♫
Wann sich der Gedanke geformt hatte, wusste ich nicht.
Vielleicht war er einfach so aufgetaucht. Vielleicht hatte er sich langsam gebildet und war jetzt an die Oberfläche gelangt. Vielleicht war er schon immer da gewesen, aber ich schenkte ihm nun zum ersten Mal Beachtung.
Mit jeder Minute wurde aus dem Gedanken eine Art Entscheidung. Eine Entscheidung, die ich immer noch anzweifelte, die sich jedoch zu festigen begann.
Der Grund war einfach: Ich konnte nicht mehr.
So sehr ich versuchte, es mir auszureden, mich zu überzeugen, dass ich mich reinsteigerte und es völlig übertrieb, ich konnte der Tatsache nicht ausweichen.
Ich hatte es schon viel zu weit kommen lassen. Es machte mich wütend, dass ich diese Entscheidung treffen musste, um mich zu retten. Es würde wohl mit das Schlimmste sein, was ich jemals tun würde. Tun müsste. Dazu hatte ich keine Ahnung, ob ich es irgendwann bereuen würde. Wahrscheinlich schon. Aber was blieb mir sonst?
Die Frage war: Was war mir wichtiger? Die Teile meines momentanen Lebens, die mich - auch, wenn ich es nicht wollte - zerstörten? Oder mein Leben als Ganzes, in dem nach der Entscheidung vielleicht ein Teil fehlte, in dem ich aber endlich wieder atmen konnte?
Ich konnte die Augen nicht vor den Beweisen verschließen: Ich saß weinend und völlig fertig auf dem Boden der Mädchentoilette im Ministerium. Und ich überlegte nun endlich, ob es besser wäre, wenn ich -
"Hey, was machst du denn hier? Oh - alles okay?"
Wieso fragten mich das alle! Nein, verdammt, war das nicht offensichtlich? Wieso musste ausgerechnet jetzt jemand hier reinplatzen! Es gäbe keinen unpassenderen Moment, gestört zu werden ... nein. Das war es nicht.
Etwas war komisch. Etwas anderes, was mich störte. Als sollte sich so eine Stimme eigentlich nicht in dieser Umgebung aufhalten.
Mit verquollenen Augen schielte ich zu der Unbekannten hoch und stellte voller Schock fest, dass es sich nicht um eine Unbekannte handelte, sondern um einen Unbekannten. Und so unbekannt war er auch nicht.
Der blonde Junge mit dem leichten Akzent, in den ich vor einer halben Stunde beinahe umgerannt hätte, stand in der geöffneten Tür und blickte geschockt auf mich herab.
"Das hier ist die Mädchentoilette", erklärte ich ihm sachlich, doch er bewegte sich keinen Zentimeter.
Dann schüttelte er langsam den Kopf. "Nein, das hier ist das Männerklo und deswegen frage ich dich, was du hier tust."
Drachenmist. Das konnte nicht wahr sein, ich hatte wohl nicht richtig auf die Schilder geachtet, oder Shawn hat mich aus Gewohnheit in diese Richtung geschickt. Wieso musste ich mich immer wieder in die peinlichsten Situationen fliegen?
Schnell stand ich auf, wischte die Tränen mit den Ärmeln meines Umhangs weg und spritzte ein wenig Wasser in mein Gesicht.
Der Junge schloss leise die Tür zum Flur und trat dann in meinen Schatten. "Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte er vorsichtig.
Ich schüttelte schnell den Kopf. "Nein", sagte ich leise. "Ist nur so ein Lebensdrama, Beziehungskrise, nenn es, wie du willst."
"Midlife-Crisis?"
"Was?", fragte ich nach.
"Das ist was, was viele Muggel haben, wie mein Dad. Der macht das auch gerade durch. Existenzangst und so. Aber du erscheinst mir noch ein wenig jung dafür."
Ich musterte den Jungen skeptisch. Er kam mir nach wie vor bekannt vor und es regte mich auf, dass ich nicht wusste, woher.
"Nein, ich denke, es ist keine Midlife-Crisis", entgegnete ich mit trockenem Hals. "Es ist wahrscheinlich einfach ein persönliches Drama, welches zu fünfundneunzig Prozent in meinem Kopf stattfindet."
Der Junge legte den Kopf schief. "Hast du mit jemandem darüber geredet?"
Fast reflexartig schüttelte ich den Kopf und schützte meinen Körper, indem ich meine Arme vor dem Bauch verschränkte. Ich wollte alleine sein.
"Solltest du. Wenn du niemanden hast, solltest du vielleicht überlegen, jemanden zu sehen. Dir Hilfe zu suchen."
Ich kniff die Augenbrauen zusammen. Einfach hier rein platzen und dann auch noch komische Ratschläge verteilen? Für wen hielt der Typ sich?
"Ich weiß nicht, wovon du redest."
"Ich meine jemanden, der dir helfen kann. Ich will nicht gleich von einem Psychologen reden oder so, aber ein Arzt wäre ein Anfang."
Mein Mund öffnete sich. "Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung ..."
"Entschuldige", unterbrach er mich verlegen und griff nach seinem Ellenbogen. "Ich bin es nicht gewohnt, Menschen um mich herum zu haben, die nicht mit Muggeln aufgewachsen sind. Du solltest zu einem Muggelheiler, damit der sich einfach mal unterhalten kann. Manchmal hilft das. Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber so wie du aussiehst, scheint es mir nicht einfach nur ein kurzer Dunkelmoment zu sein."
Und das konnte er einfach so sehen? Auf der anderen Seite ... Ich erinnerte mich an mein Spiegelbild, welches ich eben noch begutachtet hatte. Wie musste ich auf andere Menschen wirken? War es wirklich so schlimm?
Der blonde Junge lehnte sich gegen die Wand und biss sich auf die Innenseite der Unterlippe.
"Sind wir uns schon mal begegnet?", hörte ich mich plötzlich fragen. "Ich meine ... wir sind vorhin beinahe ineinander gelaufen ..."
"Auf dem Empfang?", fragte er und seine Augen wurden groß. "Das warst du, stimmt, jetzt erinnere ich mich."
"Ich meine ... davor." Die Art, wie er sprach und sich bewegte kam mir so seltsam vertraut vor. Ich war mir sicher, dass ich ihn kannte.
"Nicht, dass ich mich erinnern kann, tut mir leid. Wieso?"
Ich konnte ihm ansehen, wie die Situation zwischen uns unangenehm für ihn wurde.
"Ach, ich dachte, vielleicht kenne ich dich aus der Schule oder so."
"Oh, das sicher nicht", erklärte er. "Meine Mum hat mich zu Hause unterrichtet. Wir sind auch erst kürzlich hergezogen, du musst mich verwechseln. Ich bin Elias."
Er streckte mir die Hand aus und ich schüttelte sie zögerlich. Während meine verschwitzt war, fühlte seine sich kühl und weich an.
Elias Finger waren genauso dünn wie er selbst - er war bestimmt so groß wie Shawn, jedoch viel schmächtiger gebaut. Die blonden Haare fielen ihm in Strähnen vor die blauen Augen und ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren.
Ich war überzeugt, dass ich ihn kannte.
"Ich bin Kassy", entgegnete ich und rang mir ein Lächeln ab.
Nun lag es an Elias, zu starren. "Jetzt, wo ich so genauer drüber nachdenke, kenn ich dich doch irgendwo her. Kassy ... dein Nachname?"
"Oh, ich ... Kassiopeia Bole. Ich spiele - "
"Quidditch!", unterbrach er mich mit einem breiten Grinsen. "Aber klar! Durch die Tränen habe ich dich gar nicht erkannt. Du warst bei der Weltmeisterschaft dabei, oder?"
"Ja, ich spiele für England und die Appleby Arrows."
"Just det! Ich wollte schon immer mal ein Quidditchspiel sehen, aber mein Dad ist der Ansicht, wir hätten nicht genug Geld für die Karten. Nicht, dass er mitkommen würde, aber mein Bruder und ich würden total gerne mal eins live sehen."
Irgendetwas gefiel mir überhaupt nicht. Elias' vertraute Art hatte etwas an sich, das mir Unbehagen verschaffte. Mich beschlich neben der Überzeugung, ihn zu kennen, noch die böse Ahnung, ihn nicht zu mögen.
"Ist was?", fragte er schüchtern, als ich nicht antwortete.
"Ja", stellte ich urplötzlich fest. "Dein Akzent. Er kommt und geht, am Anfang stärker, dann weniger und eben schon wieder."
Elias lief hochrot an und ich bereute es sofort, ihn so direkt drauf angesprochen zu haben.
"Tut mir leid - ", begann er, doch ich unterbrach ihn sofort.
"Mir tut es leid. Das war blöd von mir. Ich hätte nicht so blöd fragen sollen."
"Schon okay", behauptete Elias, aber ich konnte ihm ansehen, dass er log. "Der kommt immer durch, wenn ich nervös bin. Ich bin zwar zweisprachig aufgewachsen, aber meine Mum ist schon vor drei Jahren wieder hergezogen und in der Zeit habe ich kaum Englisch geredet."
Der Inhalt seiner Aussage bewegte etwas in mir. "Woher kommst du denn?"
Ich konnte seinen Akzent nicht genau zuordnen, vor allem, weil er wirklich schwach war, doch irgendetwas in der Art, wie er die Wörter manchmal weicher aussprach oder sie seltsam nuschelte, wies deutlich auf eine nicht britische Herkunft hin.
Elias verlagerte sein Gewicht, wirkte aber nicht mehr so angespannt wie zu Anfang. "Mein Vater ist Schwede", antwortete er freundlich. "Dort habe ich auch bis vorletzten Monat gelebt."
Mein Lächeln rutschte ab.
Um nichts in der Welt hatte er das eben gesagt.
Mir wurde so speiübel, dass ich wirklich zur Toilette rannte. Und mich übergeben musste. Elias fragte leise nach meinem Befinden, doch ich ignorierte ihn.
Beim Barte des Merlin, das war nicht wahr. Nicht er. Nicht hier. Beim sicheren Tod von Albus Dumbledore nicht.
Ich wischte mir den Mund ab und taumelte aus der Kabine. Alles drehte sich, wurde ab und zu schwarz, aber nicht Elias' blonde Haare. Oder die blauen Augen. Oder dieses verdammte spitze Kinn oder diese dämliche Stupsnase oder das schiefe Lächeln, welches trotz der gegensätzlich hohen Wangenknochen und schlanken Wangen nicht weniger aussah wie mein eigenes.
"Schweden also, hm? Dein Dad heißt nicht durch Zufall Per, oder?", fragte ich, kümmerte mich aber nicht darum, ob ich mich auffällig verhielt. Es war mir egal.
Elias hingegen schien sich wieder äußerst unwohl zu fühlen, was ihm nicht zu verübeln war. Schüchtern zog er die Augenbrauen zusammen und es war fast, als schaue ich in den Spiegel. "Nein ... Papa heißt Theo."
Ich hätte mich direkt nochmal übergeben, wenn sich noch etwas in meinem Magen befunden hätte. Stattdessen würgte ich nur Magensäure in das Waschbecken. Elias wich einen Schritt zurück und verzog das Gesicht.
Außer Atem reinigte ich mein Gesicht und das Waschbecken mit einem Zauberstabwink und schloss die Augen. Tief atmete ich durch und drehte mich schließlich zu Elias.
Es tat weh, ihn anzusehen.
"Dann habe ich dich wirklich verwechselt, tut mir leid", entschuldigte ich mich. "Und es tut mir leid, dass du das hier alles miterleben musstest. Das muss super seltsam für dich sein."
"Ist schon okay", entgegnete Elias und zuckte mit den Schultern. "Geht es dir soweit besser?"
Ich nickte, was gelogen war. Wenn er nur wüsste. "Wahrscheinlich habe ich nur was Falsches gegessen. Würdest du ... könnte alles, was gerade passiert ist, unter uns bleiben?"
Zurückhaltend nickte er. "Klar, versteht sich."
"Wenn du und dein Bruder ..." Ich schluckte. War das eine gute Idee? Vermutlich nicht. "Wenn ihr euch mal ein Quidditchspiel anschauen wollt, kommt einfach beim Trainingsstadion der Arrows vorbei und fragt nach mir. Ich bin mir sicher, dass wir was arrangieren können."
Jetzt hellte sich Elias Miene etwas auf. "Das wäre cool. Ich frag Zuhause mal."
Mein leerer Magen wurde durch eine unangenehme Schwere gefüllt. Zuhause.
"Bist du noch nicht siebzehn?", fragte ich. Auf Elias musste es so wirken, als wollte ich wissen, weswegen er sonst nach Erlaubnis fragen müsste. Aber so war es nicht.
"Ich bin schon achtzehn, werde im Sommer neunzehn", gestand er. "Ich weiß, ich sehe jünger aus, das sagen mir ständig alle. Liegt an der Frisur."
Ein Jahr älter als Sapih. Drei Jahre jünger als ich.
Drei Jahre.
Wie konnte er nur. Wie hatte er Mum für das, was sie war, verlassen können und nur drei Jahre später ...
"Ich finde, du siehst total aus wie achtzehn, fast neunzehn", versicherte ich ihm und schaffte es so, zum ersten Mal ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht zu zaubern.
Ich unterdrückte ein Würgen.
"Danke", nickte er mir zu.
"Na dann, Elias", begann ich meinen Versuch einer unauffälligen, völlig gewöhnlichen Verabschiedung. Mit aller Kraft ließ ich mir nichts anmerken. Seinen Namen auszusprechen verursachte ein seltsames Gefühl. Alles war seltsam. Er hatte keine Ahnung. "Ich wünsche dir viel Glück in England, einen guten Start und so. Wir laufen uns bestimmt bald wieder über den Weg. Du und dein Bruder ..."
Ich sollte aufhören, so zu reden, sonst kotzte ich Elias womöglich noch auf die Füße.
"... könnt wirklich vorbeikommen, ich würde mich freuen, wenn ich mich hierfür revanchieren kann."
"Danke, Kassy. Gute Besserung. Und denk dran, such dir jemanden zum Reden. Ich verspreche dir, das macht es besser."
Wir lächelten uns an und ich ging, so schnell ich es mir erlaubte, aus dem Badezimmer.
Zu meinem Vorteil war der Flur leer, sodass ich mich kurz sammeln konnte. Dann disapparierte ich einfach, inklusive völliger Sorglosigkeit, ob ich zersplinterte oder nicht. Es spielte keine Rolle mehr.
In Teddys Wohnung packte ich sofort meine Sachen zusammen. Ich hatte ohnehin ausziehen wollen. Ich verdiente schon viel zu lange ausreichend Geld, um mir eine kleine Wohnung zu besorgen. Dazu kam Tori endlich in zwei Wochen zurück und ich wollte Teddy die Möglichkeit geben, sich an meine Abwesenheit zu gewöhnen, alles wie vorher herzurichten und Zeit alleine zu genießen. Außerdem fühlte ich mich trotz aller Versicherungen, dass es okay sei, schlecht, da aus dem kurzen Übergangswohnen mittlerweile über ein Monat geworden ist.
Auch wenn ich es sehr genossen hatte (ich hoffte, es ging Teddy ebenso), war es jetzt an der Zeit, weiterzumachen. Ich musste mir was Eigenes suchen, für eine langfristige Zeit.
Kurz bevor ich meinen Rucksack schultern und mir die Schuhe anziehen wollte, flatterte ein Steinkauz durch das offene Fenster, ließ einen Brief auf den Tisch fallen und flog direkt wieder nach draußen.
Skeptisch bewegte ich mich langsam auf den Tisch zu, als könnte er mich jeden Moment beißen, und schaute auf den vermeintlichen Brief, der sich nun als eine Art Notiz herausstellte.
Ich schielte auf die dunkelgrüne Tinte und erkannte über Kopf meinen Namen. Seufzend griff ich nach dem Pergament und las es mir durch.
Hey Kassy, tut mir leid wegen vorhin. Hoffe, es geht dir besser. Komme heute Abend vorbei, bin um sieben zu Hause, versprochen. Wir sehen uns. Shawn xxx
Das traf sich gut. Ich hatte noch zwei Stunden Zeit, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen.
Entschlossen blickte ich mich ein letztes Mal in Teddys und Toris Wohnung um, doch ein wenig traurig, in Zukunft nur noch als Gast herzukommen. Neben der Spüle hatte ich Teddy einen Brief und Geld hinterlassen. Egal, wie sehr er sich wehrte, er würde es annehmen müssen. Ich hoffte, dass das Geschriebene dabei helfen würde und er nicht das Diskutieren anfing.
Da meine Augen sich gerade wieder beruhigt hatten, beschloss ich, nicht noch länger hier rumzustehen, sonst würde ich wieder mit dem Weinen beginnen. Ohne an irgendetwas zu denken, schlüpfte ich in meine Stiefeletten, schulterte den Rucksack, band mir meinen Schal um und zog schließlich die Tür von der Außenseite zu. Die Schlüssel lagen bei dem Brief und dem Geld.
Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, wo ich hin wollte. Ich hatte zwar nach Wohnungen geschaut, aber noch nichts Passendes gefunden.
Ich könnte zurück zu meinen Eltern ziehen, aber bevor das passierte, teile ich mir lieber ein Bett mit Teddy und Tori. Shawns Wohnung stand außer Frage. Ich könnte Alia fragen, ob ich nur für ein paar Tage bei ihr übernachten könnte.
Nein. Nein, das konnte ich nicht schon wieder tun. Ich würde einfach für ein paar Tage, vielleicht Wochen, in den Tropfenden Kessel ziehen. Ja, von dort aus würde ich alles Weitere klären.
Doch ich fühlte mich noch nicht danach, sofort dort hin zu apparieren und mich um ein Zimmer zu kümmern. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war in aller Öffentlichkeit zu Heulen. Schon wieder.
Also spazierte ich planlos durch London. Ich nahm Seitengassen, einen riesen Umweg durch den Hyde Park, lief einfach immer weiter. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es viertel vor sieben und ich befand mich irgendwo nördlich der Innenstadt.
Ich suchte mir eine kleine ungestörte Straße, kauerte mich zwischen zwei parkende Autos und achtete darauf, dass mich keiner sah. Dann disapparierte ich zu der altbekannten Ecke. Von dort aus schlenderte ich zu Shawns Wohnung, ließ mich selbst hinein und setzte mich aufs Sofa, während der Wasserkocher brodelte.
Die Entscheidung hatte ich immer noch nicht getroffen. Doch der Gedanke war da und ich würde auf jeden Fall mit Shawn reden müssen. Ich hatte zwar noch nicht die leistete Ahnung, wie ich dieses Gespräch eröffnen sollte. Aber ich klammerte mich an alte Gewohnheiten: Ich hoffte, dass mir im passenden Moment spontan etwas einfiel.
Ich füllte das Wasser in eine Tasse, ließ den Tee ziehen, ihn abkühlen und trank ihn. Um viertel nach sieben gab es von Shawn immer noch keine Spur.
Meine Ablenkungsressourcen waren aufgebraucht. Langsam, aber sicher drifteten meine Gedanken zurück zu Elias. Emotionen, die ich bisher erfolgreich unterdrücken konnte. So viele offene Fragen. Doch die größte von allen, die mir seit unserem Gespräch nicht mehr aus dem Kopf ging, war: Warum er?
Warum hatte er sich für ihn entschieden? Er war wie ich. Und mich hatte er nicht gewollt.
Ich konnte Elias nicht mal böse sein. Ich wollte es, wirklich, doch es war nicht seine Schuld. Er wusste nicht mal etwas. Und ich ging davon aus, dass seine Mutter auch nichts wusste.
Doch schon wieder fand ich mich in einer Situation wieder, bei der ich nichts getan hatte und dennoch ungewollt war.
Um mich weiter abzulenken, lief ich in der Wohnung auf und ab. Komischer Weise musste ich an Bahiyah denken. Sie hätte Rat gewusst. Ich vermisste meine Freundin.
Die Zeiger auf der Uhr liefen unaufhaltsam weiter. So langsam begann ich mir ein wenig Sorgen zu machen. Shawn schickte extra eine Eule, die ein Treffen beschloss, und erschien dann mehr als eine halbe Stunde zu spät dazu. Noch vor einem halben Jahr wäre das nichts Ungewöhnliches gewesen, doch mittlerweile war ihm bewusst, was das in mir auslöste.
Plötzlich kam mir eine Idee. Ich sprang von der Küchenzeile, auf der ich es mir die letzten fünf Minuten an meinem üblichen Platz neben dem Wasserkocher bequem gemacht hatte, und fing an, in meinem Rucksack nach dem alten Handy zu graben. Nach ein wenig Chaos stiften hatte ich es gefunden und wählte die einzige eingespeicherte Nummer: Shawns.
Die Leitung klingelte nicht einmal. Ich konnte nur dem langgezogenen Ton lauschen, dann sagte eine Stimme: "Kein Anschluss unter dieser Nummer."
Ich wurde unruhig. Dieses Handy war nie ausgeschaltet, dafür sorgte Shawn, das wusste ich. Er hatte mich immer wieder daran erinnert, dass es manchmal nicht funktionieren könnte, wenn zu viel Magie im Umfeld wäre.
Aber Shawn sollte längst hier sein. Entweder war sein Handy kaputt, er noch bei der Arbeit, oder etwas war passiert.
Alle drei Aussichten gefielen mir überhaupt nicht.
Dann geh doch, flüsterte die kleine Stimme in meinem Ohr. Ich schüttelte den Kopf und erneut wurde ich von Zweifeln gepackt. Es ging nicht.
Es mochte vielleicht selbstsüchtig sein, doch Elias war momentan der einzige Grund, unsere Leben nicht zu zerstören. Ich brauchte Shawn. Er war der Einzige, mit dem ich über Elias reden konnte, weil er der Einzige war, der über meinen Vater Bescheid wusste. Und ich musste diese Last loswerden, sonst würde ich nie wieder atmen können.
Ich machte mir einen zweiten Tee, trank auch diesen aus und ließ dann fast die leere Tasse fallen, als es an der Tür klopfte. Endlich. Ich sprang auf, machte mir kaum Gedanken, wieso Shawn keinen Schlüssel zu seiner eigenen Wohnung hatte, und riss die Tür auf.
Es war nicht Shawn. Es war Alia. Und sie weinte.
"Hier bist du!", rief sie aufgelöst und stürzte auf mich zu. "Ich habe ... habe schon überall nach dir gesucht."
Ich blickte sie verwirrt an. Was war jetzt schon wieder passiert? Ich fühlte mich zurückversetzt an den Tag, an dem Lewis seinen Unfall gehabt hat.
Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte, sah sie sich vorsichtig um und fragte dann ganz leise: "Shawn ist nicht hier, oder?"
"Nein", entgegnete ich langsam. "Was ist los?"
Alias Miene veränderte sich schlagartig. Sie wurde blass und neue Tränen stiegen ihr in die Augen. "Oh nein", murmelte sie leise. "Du weißt es noch nicht ..."
"Was denn!", fragte ich nun energisch. Langsam bekam ich Panik. Wenn sie nach Shawn fragte, ging es nicht um Lewis. Warum sollte Alia nach Shawn fragen?
Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, schloss Alia mich in die Arme und drückte mich. Fest. Zu fest. Nun füllten sich auch meine Augen mit Tränen und ich löste mich aus Alias Griff.
"Was ist passiert?", flüsterte ich und spürte, wie eine Träne auf den Boden tropfte.
"Es tut mir so leid, ich ..." Alia schluchzte laut. "Ich kann es dir nicht sagen, ich kann nicht, es - oh, Kassy!"
Sie schlug ihre zitternden Hände übers Gesicht und schniefte. Dann löste sie sich, nach wie vor zitternd, aus der Schutzposition und blickte sich suchend um. "Habt ihr ein Radio?"
"Na...natürlich", stammelte ich und ging in den Küchenbereich, um das Radio anzumachen.
Ich drehte den Lautstärkeregler nach oben und fand mich in Mitten eines Beitrags wieder. Alia sah so aus, als würde sie sich nicht einmal trauen, zu atmen.
" ... sind noch unbekannt. Wir geben noch einmal an unseren Reporter, der sich nun vor Ort befindet. Hallo, Stan, wie ist die Lage?"
"Schrecklich, Lee. Die Bilder, die sich mir hier bieten, werden sowohl mir als auch allen Beteiligten für immer im Gedächtnis bleiben. Überall liegen Verwundete und Tote. Zerstörung, soweit das Auge reicht. Ich stehe hier in einer völlig zerstörten Straße, in der der letzte Angriff stattgefunden hat. Ministeriumsangestellte kümmern sich um Muggel, die beginnen, den Verstand zu verlieren; Heiler und Auroren versuchen Verletzte zu bergen, die ersten werden bereits vor Ort versorgt. Von den Spezialeinheiten ist weit und breit keine Spur zu entdecken. Es scheint, als seien die Auroren entkommen, doch die Frage, die sich jetzt natürlich stellt, ist: Wo sind sie? Womöglich auf der Flucht, aber nicht außer Gefahr. Tatsache ist, es herrscht Chaos. Das ganze Land ist in Aufruhe, nicht nur die Muggel, auch die Zauberergemeinschaft. Es werden dringend Freiwillige gesucht, die bei der Bergung und Versorgung der Opfer und Angehörigen helfen."
"Die Zaubereiministerin bittet um dringende Unterstützung. Freiwillige melden sich bitte in den eingerichteten Hilfsstationen in der Eingangshalle des Zaubereiministeriums. Angehörige, die Familie vermissen, folgen bitte den Ausschilderungen zu den Informationsständen. Sie können dort ihre Kontaktdaten hinterlassen und erhalten, wenn nötig, seelische Zuwendung. Stan, wann können wir mit ersten genaueren Informationen rechnen?"
"Das ist schwer zu sagen. Momentan herrscht noch eine Art Ausnahmezustand. Es wird sich primär darauf konzentriert, erste Hilfe zu leisten, doch natürlich sollen Angehörige auch über den Verbleib ihrer Liebsten informiert werden. Uns wurde eine vorläufige Liste mit identifizierten Todesopfern versprochen, die uns in kürze erreichen sollte."
"Vielen Dank, Stan. Wie Sie sehen, können auch wir ..."
Meine Beine gaben nach. Auf dem Boden gekauert dachte ich, ich würde mich zu Tode zittern. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. Nicht mein schlimmster Albtraum.
Alia stand nach wie vor im Flur, die Hände vor dem Mund und das Gesicht tränenüberströmt. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Jeder Nerv führte Anweisungen aus, die ich nicht aufgetragen hatte. Mein Kopf dröhnte, alles drehte sich, die verbrannte Stelle an meiner Hüfte pochte leise.
Doch die anfänglichen Tränen hörten auf. Trotz all der Schmerzen war ich nicht in der Lage, zu weinen. Denn da war noch Hoffnung. Shawn war nicht tot. Das spürte ich.
Das Radio lief ununterbrochen, als würde es nicht interessieren, dass meine Welt gerade zusammenstürzte. Was es nicht tat. Ich sprang ungewollt zurück auf den Express und hörte abwesend zu.
" ... viertel vor acht, Ryan Cresswell mit den Nachrichten."
"Guten Abend, liebe Hexen und Zauberer. Auch, wenn dieser Abend kein guter zu sein scheint. Wir haben den wohl tragischsten und dramatischsten Vorfall seit dem Tod von Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, zu verzeichnen. Noch ohne genauere Informationen zu dem Vorfall oder den Opfern, die er gefordert hat, können wir nur das uns bekannte Geschehnis wiedergeben. Heute, früher an diesem Abend gegen achtzehn Uhr fünfundvierzig, explodierten mehrere Pflastersteine vor dem Gebäude der Gringotts Zaubererbank in der Winkelgasse in London. Mehrere Personen sind verletzt worden, das Gebäude jedoch nahm kaum Schaden. Die Angreifer bewegten sich von dort aus nordwestlich durch diverse Gassen, in denen sie Sprengzauber auf Wohnhäuser und Transportgeräte der Muggel feuerten, bis sie schließlich das St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen erreichten. Dort versuchten sie, in die Krankenstation vorzudringen, wurden jedoch von einem Spezialteam der Auroren aufgehalten. Durch heftige Duelle wurden auch an dieser Stelle diverse Gebäude zerstört und Menschen verletzt - sowohl Hexen und Zauberer als auch Muggel. Schließlich zog sich die Verfolgungsjagd über die südliche Richtung durch London, bis die Angreifer über Umwege aus Richtung Norden das Zaubereiministerium attackierten. Mehrere Auroren waren bereits anwesend, darunter eine zweite Spezialeinheit. Nach einem erbitterten Kampf stürzte ein Teil der Oberfläche in die Tiefen. Betroffen sind vor allem der erste und zweite Stock des Ministeriums auf der westlichen Seite. Die Angreifer flohen, die Spezialeinheiten gelten nach wie vor als unauffindbar. Insgesamt dauerten die Attacken rund zwanzig Minuten. An insgesamt dreizehn Stellen Londons gibt es schwerwiegende Verwüstungen. Die Zaubereiministerin gab bereits ein erstes Statement ab. Die Ruhe bewahren und alle Kräfte mobilisieren, heißt es darin. Außerdem sei es von höchster Bedeutung ..."
"Er ist da draußen", hörte ich mich flüstern.
Bei meinen Worten sah Alia auf. Sie saß nun dort, wo sie vorher gestanden hatte, mit verschränkten Beinen, die Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in den Händen. Im Gegensatz zu mir weinte sie ununterbrochen.
Nun trafen sich unsere Blicke. Eine Weile schauten wir uns stumm an, bis ich Alia leise antworten hörte: "Seine Eltern waren da."
Zuerst war ich etwas verwirrt, doch dann ahnte ich, von was sie sprach.
"Lewis?"
"Seine Eltern wollten Jace nach seiner Lebensmittelvergiftung im St.-Mungo besuchen. Gemeinsam, es hat Lewis den ganzen Vormittag gebraucht, sie dazu zu überreden. Aber jetzt melden sie sich nicht, keine Spur von ihnen. Sie haben es jedenfalls nie ins Gebäude geschafft."
Langsam erhob ich mich, darauf achtend, nicht sofort wieder zusammenzubrechen. Ich schaffte es gerade so zu Alia, dann ließ ich mich neben sie fallen. Sofort schlang sie die Arme um mich und weinte in meine Schulter. Unfähig, viel zu tun, streichelte ich ihr behutsam über den Rücken.
"Du solltest zurück", murmelte ich und hörte Alia wild atmen. "Du solltest bei ihm sein."
"Nein, ich sollte bei dir sein", weinte sie. "Ich sollte dich trösten, aber ich ... ich krieg das einfach nicht in meinen Kopf rein. So lange hatten wir Ruhe. Voldemort ist tot, und trotzdem, jetzt plötzlich, fangen alle diese Angriffe an. Wieso gerade jetzt? Was wollen die denn? Und Shawn - "
Sie unterbrach sich selbst und hustete.
"Ist schon gut", nickte ich. "Ja, ich weiß. Er ist da draußen. Wahrscheinlich alleine, höchstwahrscheinlich verletzt. Aber Alia, er ist dafür ausgebildet. Es ist nicht das erste Mal. Lewis allerdings ... du solltest wirklich zurück zu ihm. Er braucht dich jetzt viel dringender."
Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Kraft für diese Lüge nahm. Doch ich musste Alia verkaufen, dass ich mir keine Sorgen um Shawn machte, damit sie sich um Lewis kümmerte. Denn dass er sie jetzt viel dringender brauchte, war alles andere als eine Lüge.
Alia blinzelte ein paar Mal und richtete sich dann auf. "Kann ich euren Kamin benutzen?"
"Klar. Komm."
Ich führte sie rüber, entzündete ein Feuer und reichte ihr das Flohpulver.
"Was machst du jetzt?", fragte sie vorsichtig.
"Ich ... ich werde ins Ministerium gehen und nachfragen, ob jemand was von Shawn gehört hat. Und meinen Namen da lassen. Und dann zu Olivia ins St.-Mungo gehen und nachfragen. Irgendjemand wird schon etwas wissen."
Ich fand es selbst überraschend, dass ich diesen Plan einfach so aus dem Zauberstab schütteln konnte, weil ich keine Ahnung hatte, was ich als nächstes tun sollte. Doch dieser logische Plan, den Alia gerade zu hören bekommen hatte, gefiel mir. Ich würde ihn verfolgen, schätzte ich. Was wollte ich nochmal zuerst tun?
"Du kommst sicher klar?"
"Ja."
Noch bevor Alia ganz in den grünen Flammen verschwunden war, lag ich erneut am Boden. Nein, ich kam nicht klar. Es war genau so, als sei ich in meinen schlimmsten Albtraum gefallen. Noch schlimmer, als wenn Shawn einfach tot wäre - ich wurde in dem Ungewissen gelassen. Freunde waren verletzt, verschwunden, und Shawn ...
Es dauerte wohl nur zwei Minuten, fühlte sich jedoch wie zwei Stunden an, in denen ich in die Leere starrte - dieselbe Leere, die ich in mir spürte -, bis ich mich aufraffen konnte.
Konzentriert, an die letzte Hoffnung klammernd, dass Shawn noch da draußen war, sammelte ich alle meine Kräfte zusammen und schickte meinen Patronus mit einer Nachricht an Olivia, die ankündigte, dass ich auf dem Weg zu ihr war.
Im Ministerium angelangt, völlig entkräftet, stellte ich mich zu einer der Mengen vor den Meldeständen. Von Warteschlangen konnte nicht mehr die Rede sein. Von Organisation ohnehin nicht. Auch in der Eingangshalle lagen Trümmer, Verletzte, Blut klebte auf dem Boden und an Wänden. Überall waren Menschen und jeder versuchte sich vor den anderen zu drängeln.
Ich ließ mich inmitten der Masse hin- und herschubsen. Mich hatte die Stumpfheit eingeholt. Völlig erschöpft und in dem Wissen, nichts tun zu können, ließ ich meine Gedanken einfach rasen und mich treiben.
Nach einiger Zeit war ich an der Reihe. Keiner hatte bisher von Shawn gehört, also hinterließ ich meinen Namen und Shawns Adresse. Zusätzlich fragte ich, ob irgendjemand wegen Anne oder Lucian Bole hier gewesen war, doch bisher hatte niemand meine Eltern als vermisst gemeldet.
Im Umdrehen dachte ich an Elias und hätte ich seinen Nachnamen gekannt, hätte ich auch ihn auf die Liste gesetzt. Aber ich kannte seinen Nachnamen nicht, und war froh, denn bereits in der nächsten Sekunde besann ich mich und stellte fest, was für ein unheimlich blöder Gedanke das war. Elias ist nicht meine Familie. Theo auch nicht. Nicht wirklich.
Zurück durch die Mengen drängend musste ich erneut einige Zeit warten, bis ich einen Kamin verwenden konnte, doch schließlich reiste ich ins St.-Mungo.
Dort war nicht weniger los als im Ministerium. Schon in der Empfangshalle wurden Verletzte versorgt und provisorische Krankenlager errichtet. Ich fragte nach Olivia und die Assistenten schickten mich in den ersten Stock. Dieser war zwar eigentlich nur für Verletzungen durch Tierwesen vorgesehen, doch es gab bereits eine Stunde nach dem Vorfall keinen Platz mehr. Jeder freie Winkel des Gebäudes wurde genutzt.
Während in der Eingangshalle nur leichte Verletzungen behandelt wurden, erschlugen mich die Bilder im ersten Stock. Allein der Geruch reichte, um Reflextränen und Würgreize auszulösen.
Ich bahnte meinen Weg durch unzählige Menschen, alle stark blutend, extremitätenlos, verflucht, ohnmächtig. Es schienen Heiler aus aller Welt angereist zu sein, denn in einem der Zimmer hörte ich eine blasse Heilerin in schlechtem Englisch auf einen Patienten einreden. In einem Gang zur anderen Seite unterhielten sich zwei dunkelhäutige Männer in den dunkelblauen Roben der uagadouischen Heiler auf Afrikanisch, doch der Dialekt war zu fremd, sodass ich nur Bruchstücke verstand. Mir stellte sich nun jedoch die Frage, wie sie so schnell hergekommen waren.
Das Grübeln über die Antwort lenkte mich vom Gestank ab. Teilnahmslos erkundete ich mich bei zwei weiteren Heilern nach Olivia, welche ich schließlich in einem Zimmer fast am Ende eines sehr langen Ganges antraf.
Aus dem Raum drangen Kinder-und Schmerzensschreie. Sie könnten durchaus zusammengehören, doch ich hielt es für besser, nicht hineinzugehen, sondern draußen zu warten. Mit dem Umhangärmel vor Mund und Nase gedrückt beobachtete ich Verwundete, die sich in beide Richtungen an mir vorbeischleppten.
Irgendwann wurden die Schreie leiser, bis sie verstummten und Olivia aus dem Raum trat. Als sie mich entdeckte, stürzte sie sich auf mich und umarmte mich noch fester als Alia.
"Oh, Kassy! Es tut mir so leid! Du hast nichts von Shawn gehört, oder? Hier ist er auch nicht. Es ist alles so schrecklich, wir bekommen Unterstützung von überall, aber es reicht nicht. Es sind so viele Menschen verletzt, wir müssen so unglaublich viele Muggel behandeln ... und ich war kurz ganz verwirrt! Was ist denn los mit deinem Patronus?"
"Mit meinem - Moment, was?"
"Dein Patronus! Ich dachte, es sei ein Wiesel?"
Ich blinzelte. "Natürlich ist es ein Wiesel."
"Eben nicht mehr", behauptete Olivia. "Da ist plötzlich ein Otter aufgetaucht, aber er hat mit deiner Stimme geredet, ich wusste gar nicht, was los war. Aber ist ja auch egal. Es tut mir so leid, aber ich habe wirklich keine Zeit."
"Das sehe ich", sagte ich, den Otter ignorierend. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. "Du musst auch sofort zurück an die Arbeit. Nur ... "
"Hey, klar." Olivia strich mir über den Arm und sah mich mitleidig an. "Ich halte die Ohren offen, und sobald ich was von Shawn oder sonst wem höre, melde ich mich sofort. Versprochen."
"Das wäre super. Aber ... deswegen bin ich nicht hier. Schon, aber ... Lewis' Eltern werden vermisst. Beide."
"Beide?", fragte Olivia verwundert. "Ist das Zufall?"
"Sie waren gemeinsam unterwegs, nachdem Lewis sie überredet hat. Er muss sich schrecklich Vorwürfe machen. Alia ist bei ihm, also falls du etwas mitbekommst ..."
Liv schluckte. Ihr war die Vorstellung ebenso zuwider wie mir. Schon wieder Lewis. Ihm blieb nichts erspart.
"Ich lass dich jetzt arbeiten."
Liv nickte. "Kassy, es wird alles gut werden."
Obwohl ich ihr nicht glaubte, nickte ich. Da war kein versprochen am Ende ihres Satzes, da auch sie wusste, dass sie es nicht wissen konnte.
Ich umarmte Liv erneut und blickte dabei ungewollt auf ein junges Mädchen, welches ihren Arm hielt, der ganz verdreht war, und nach seiner Mutter weinte.
Liv blieb die Kleine auch nicht verborgen und sie kümmerte sich sofort um das Mädchen. Ich hätte auch gerne helfen wollen, doch ich war mir bewusst, dass ich keine sonderliche Hilfe darstellte. Nicht in diesem Zustand. Und nicht bei diesem Geruch. Ich war kurz davor, mich zu übergeben, ein weiteres Mal an diesem Tag.
Weiterhin mit dem Ärmel vor meinen Atemwegen schlug ich mich meinen Weg zurück ein. Dabei sah ich auf den Boden, der mit den Blutspuren schon genug Unbehagen auslöste.
Zurück in der Eingangshalle, die nun etwas geordneter aussah, wollte ich die letzten Meter zum Ausgang laufen, als ich jemanden sagen hörte: "Ach nein, das gibt's ja nicht."
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Selbst überrascht, dass ich die Stimme sofort erkannte, nachdem ich mit der von Mum Schwierigkeiten gehabt hatte, drehte ich mich zu Dave um.
"Was gibt es nicht", erwiderte ich emotionslos.
"Du, hier."
"Überrascht dich das?"
Er saß schief und kraftlos auf einem Stuhl nahe der Wand. Rechts und links warteten zwei Familien, die mit sich selbst beschäftigt waren. Unser Gespräch erregte in dem Lärm keine weitere Aufregung.
"Nicht im Geringsten, wenn ich ehrlich bin. Aber er ist nicht hier, he?"
Ich schüttelte den Kopf. Dass Dave und ich uns ohne viele Worte so gut verstanden, gefiel mir gar nicht.
"Weißt du denn, wo er ist?"
"Nein", sagte ich diesmal. "Irgendwo da draußen. Hoffentlich lebend."
Dave presste seine Lippen zu einem Strich. Dann zog er seine Hand hervor, die er unter seinem Umhang versteckt gehalten hatte. Sie war blutüberströmt, die Haut zerfetzt, und an einer Stelle konnte man sogar den Knochen sehen.
Ich würgte und Dave versteckte sie wieder.
"Nicht schön, hm? Nichts, was man nicht wieder hinkriegen könnte, es tut nur verdammt weh. Ich hab ihn gesehen."
Ich brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, wovon er sprach. Eine weitere Sekunde wägte ich ab, ob er log, doch etwas in seinem Blick verriet mir das Gegenteil. Nicht mal Dave Owen war ein derartiger Wichtel, als dass er über so etwas lügen würde.
"Wo?", krächzte ich fast nicht hörbar.
"Beim Ministerium. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, da erwischt mich ein Fluch am Arm, im nächsten Moment noch einer, der mich von den Füßen reißt. Ich fliege gegen einen Baum und spüre im nächsten Moment, wie ich hochgerissen werde. Shawn hat ganz schön Muskeln gekriegt. Und dafür, dass wir seit Wochen nicht gesprochen haben, waren seine ersten Worte ganz schön frech, muss ich sagen. Hat mich angeschrien, ich soll weglaufen. Mich verstecken. Du weißt ja, wie das ist, wenn Shawn autoritär wird. Du machst, was er sagt. Also habe ich meine Beine in die Hand genommen und bin gerannt. Bis auf das hier auch heile rausgekommen. Als ich zurück bin, waren nur noch Leute aus dem Ministerium da. Und die haben mich dann hergeschickt."
Die Gedanken in meinem Kopf türmten sich. Einer über dem anderen, alle purzelten runter und fingen sofort wieder von vorne an. Nichts passte. Es stürzte immer wieder alles zusammen.
"Hattest du Kontakt zu ihm, die letzten Jahre?", fragte ich ihn. Nach Camilas Auskunft war Dave der Einzige, dem Shawn sich in der Schulzeit anvertraut hatte. Aber auch sie hatte mir nicht beantworten können, wie es mittlerweile zwischen den beiden aussah. Ich hatte keine Ahnung, ob Shawn überhaupt noch Kontakt zu irgendeinem seiner alten Freunde hatte.
"Nicht wirklich, nur ab und zu mal. Der Junge ist viel beschäftigt, kann man ihm nicht verübeln. Aber ja, wir haben uns gelegentlich getroffen und gequatscht. Wie früher, als wäre nichts gewesen. Hat er dir wohl nicht erzählt, was?"
"Das sind nicht unbedingt die Themen, über die wir uns unterhalten haben."
"Kann ich verstehen."
"Ach, kannst du das."
Wir starrten uns an. Die Familie links von Dave rückte auf und Dave zog seinen Stuhl hinterher, sodass dieser laut über den Boden kratzte. Ich folgte, doch unser Blickkontakt brach nicht.
"Ja, Kassiopeia, kann ich."
Ich verschränkte die Arme. Meine Muskeln schmerzten und meine Augen brannten, doch ich dachte nicht daran, jetzt zu gehen. Da war etwas, das Dave mir sagen wollte. Der Grund, wieso er mich so hasste. Wieso er es von Anfang an getan und nie damit aufgehört hatte.
"Weißt du", fuhr er fort, "ich hasse dich nicht."
Als hätte er meine Gedanken gelesen.
"Tu ich nicht, echt nicht. Hab ich nie. Ich hatte nur immer eine sehr sehr starke Abneigung gegen dich."
"Ist das so", entgegnete ich kalt. "Ist mir nie aufgefallen."
Dave stieß die Luft aus und seine aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
"Aber das lag nie an dir", fuhr er fort. "Zumindest nicht direkt."
"An was denn sonst? Dem Sonnenstand?", erwiderte ich dunkel.
"Habt ihr euch wieder vertragen?"
"Was?"
Dave schaute mich neugierig an. Ich starrte verwirrt zurück.
"Du und Shawn. Habt ihr euch wieder vertragen?"
Keine blöden Sprüche. Lag es an seiner Verletzung oder war Dave Owen erwachsen geworden? Oder ... war er wie Camila? Hatte ich ihn unterschätzt?
"Du hast ihn wohl kurz vor Weihnachten das letzte Mal gesehen", schloss ich.
Er nickte. "Richtig erkannt. Also, habt ihr?"
"Wäre ich sonst hier?"
Dave lachte leise auf. "Oh, ja, wärst du. Ganz sicher wärst du das."
Vielleicht war Dave doch nicht so ein hirnloses Anhängsel, wie ich immer vermutet hatte.
"Du wärst sogar hier, wenn ihr beide euch geschworen hättet, nie wieder ein Wort miteinander zu wechseln." Dave legte den Kopf in den Nacken, nur um mich kurz darauf erneut anzusehen. "Weißt du, Kassiopeia, du und ich haben vielleicht nicht viel gemeinsam. Oder, wenn ich so darüber nachdenke, haben wir wahrscheinlich doch eine Menge Gemeinsamkeiten, verstehen uns nur einfach nur nicht. Aber so wie ich nie wahrhaben wollte, dass du seine Freundin bist, hast du nie wahrhaben wollen, dass ich sein bester Freund bin. Definitiv eine Sache, die auf Gegenseitigkeit beruht, soll kein Vorwurf sein. Ich habe mich ebenso kindisch verhalten wie du."
Dave atmete geräuschvoll aus und richtete den Umhang über seinem Arm.
"Aber ob du es hören willst oder nicht, ich kenne ihn. Sehr lange und sehr gut."
Ich räusperte mich. Dave hatte recht und ich hasste es. Ich hatte nie verstanden, was sein Problem mit mir war, daher hielt ich ihn einfach so fern von mir wie irgend möglich. Dass Shawn sein bester Freund war ignorierte ich all die Jahre gekonnt. Dass ich Shawns Freundin war, ignorierte er jahrelang gekonnt und wir hatten nie mehr als höfliche Floskeln ausgetauscht. Was wäre gewesen, wenn wir einfach miteinander gesprochen hätten?
Dave befeuchtete seine aufgesprungene Lippe. "Er ist immer noch so temperamentvoll wie damals, aber böse sein konnte ich ihm auch nie."
"Ich war nicht böse. Das war eine ganz andere Geschichte."
Zumindest redete mich mir das ein. Um meine Position zu stützen, verschränkte ich die Arme und reckte das Kinn. Im selben Moment wünschte ich mir, es nicht getan zu haben. Es wirkte mit Sicherheit eher trotzig.
"Und trotzdem wärst du auch hier, wenn ihr euch nicht wieder vertragen hättet."
"Natürlich", gab ich zurück. "Ich liebe ihn."
"Und da sind wir bei des Rätsels Lösung."
Erneut wechselten wir stumme Blicke. Das konnte nicht sein.
"Komm schon", grinste Dave plötzlich. "Du bist eine Ravenclaw, und dazu noch eine verflucht schlaue. Sag mir nicht, du hast es jetzt erst durchschaut."
In diesem Moment war ich mir unsicher, ob ich je etwas gewusst hatte. Ob ich je die aufmerksame Beobachterin gewesen bin, für die ich mich gehalten hatte.
"All die Zeit?", flüsterte ich.
"Die gesamte. Seitdem du das erste Mal in unser dämliches Abteil geplatzt bist. Ich hab doch gesehen, wie er dich angeschaut hat, in seinen blöden hormongesteuerten anfänglichen Pubertätsjahren. Nur zu doof, dich danach je wieder zu bemerkten, war er. Und dann rennt ihr ausgerechnet in unserem letzten Jahr ineinander. Nicht, dass ich je eine Chance gehabt hätte. Aber mir war von vorne rein klar, was das werden würde."
"Das ist kein Grund, mich so zu behandeln, wie du es getan hast", hauchte ich fassungslos.
Der Stuhl knackte, als Dave sich darauf bewegte. "Das ist es nicht, nein. Und es tut mir leid."
Er blickte mir in die Augen und ich war mir sicher, dass er nicht log.
"Das wollte ich dir schon lange sagen, aber ich hatte nie den Mut dazu gehabt. Es tut mir auch leid, was Lewis dir angetan hat. Falls du noch nicht drauf gekommen bist: Alle Versuche, die er unternommen hat, dich von Shawn fernzuhalten, waren meinetwegen."
Es ergab so viel Sinn. Dennoch hatte ich nie das Gesamtbild in Betracht gezogen. Merlin, es beantwortete so viele offene Fragen.
"Ich hab ihm mehrmals gesagt, er soll es lassen, doch er wollte nicht hören." Dave wischte sich über das Gesicht. "Er hat es gewusst. Als Einziger ist er schnell dahinter gekommen. Er fand es nie gut, aber er stellte unsere Freundschaft über seine Werte. Gleichzeitig wollte er unter allen Umständen vermeiden, dass ich irgendwas Dummes tue, das im Schlimmsten Fall seinen Ruf gefährden könnte, also hat er es selbst in die Hand genommen. Ich habe mir eingeredet, er tue es, damit ich nicht verletzt werden, aber wir reden hier über die Flints. Die haben, wenn es Zauberstab auf Zauberstab kommt, immer nur sich selbst auf der Liste."
"Klingt ja nach einer wunderbaren Freundschaft", kommentierte ich.
"Das war es. Das war es bis auf einige Ausnahmen wirklich. Es klingt nicht so, sieht nicht so aus, aber Lewis war die meiste Zeit wirklich für uns da. Nur in diesem Fall nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Aber was ich immer noch hoffe, ist, dass du mir meine Fehler irgendwann verzeihen kannst."
"Weißt du, Dave", sagte ich ruhig und tat einen Schritt auf ihn zu. "Ich verzeihe. Das tue ich. Aber ich vergesse nicht."
"Und das kann ich dir nicht verübeln. Das ist gut. Vergessen sollte man nicht. Aus was sollte man sonst lernen?"
"Aus was sollte man sonst lernen", wiederholte ich leise. "Dann hoffe ich, dass du nie vergisst."
Dave sah lächelnd zu Boden und stand auf einmal auf. Ich wollte reflexartig zurückweichen, zwang mich jedoch, stehen zu bleiben.
"Ich habe gelernt", behauptete er. "Sehr viel. Shawn ist ein toller Junge. Manchmal ganz schön bescheuert - ", ohne es zu wollen, musste ich zeitgleich mit ihm grinsen und unsere Blicke trafen sich, " - aber allgemein ein guter Kerl. Ich sage es nicht gerne, aber ihr passt gut zusammen."
Er kam zwei Schritte auf mich zu und stand jetzt direkt vor mir. So nahm ich den allgegenwärtigen Blutgeruch stärker wahr. Ich blickte ihn an. Dave war in etwa genauso groß wie ich und nachdem er blinzelte, entdeckte ich tatsächlich Tränen in seinen Augen.
Plötzlich hatte ich nicht mehr das Verlangen, zurückzuweichen.
"Ihr habt schon immer gut zusammengepasst", wispert er rau. "Also. Wenn ich ihn schon nicht behalten kann ... dann versuch wenigstens du es. Halt ihn fest. Er braucht jemanden. Ich kann nicht derjenige sein, der ihn festhält, das habe ich jetzt endlich akzeptiert. Aber will ich nur das Beste für ihn. Ich wollte nie etwas anderes. Und wenn du das Beste für ihn bist, dann halt. Ihn. Fest."
Eine einzige Träne rollte über Daves zerkratze Wange. Dann riss er seinen Körper schlagartig zurück und sackte wieder auf den Stuhl.
Keiner von uns sagte ein Wort. Wir schauten einander nur für eine Weile stumm an, dann machte ich vorsichtig zwei Schritte rückwärts.
Wir brauchten keine Worte. Dave war tatsächlich kein hirnloses Anhängsel. Es war alles gesagt. Also legte ich meine übrig gebliebene Energie in ein letztes Blinzeln und wandte mich zum Gehen ab.
Denn bei meinem nächsten Gedanken konnte ich Dave nicht in die Augen sehen.
So sehr ich es wollte, ich konnte nicht sagen, ob Dave und ich nicht auf einer gemeinsamen Seite standen. So sehr ich es wollte, ich konnte nicht versprechen, dass ich wirklich diejenige war, die Shawn festhalten konnte.
ϟ ϟ ϟ
Fun Fact: I adore Dave.
An diesem Punkt ein Shoutout an mespoir und babbobaum, den Dave Fans Nummer eins und zwei, von Anfang an. Ich hoffe, ihr und alle anderen Dave Supporter hassen mich jetzt nicht xD
Und jetzt, ich freue mich so unglaublich, habt ihr endlich endlich endlich Elias kennengelernt! Leider bleibt er uns nicht mehr lang erhalten, was daran liegt, dass wir uns beinahe am Ende befinden. Aber hey, he has been there in my head all the time und ich freue mich, dass ihr ihn nun kennt <3
Übrigens hat mich die Überarbeitung dieses Kapitels viel mehr Zeit gekostet, als es hätte sollen ... aber ich bin ganz zufrieden. Genießt das schöne Wetter x
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 20.08.2020 (Thursday)
[14.08.2020]
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