Kapitel 50 ϟ NARROWNESS
Let's Hurt Tonight - OneRepublic ♪♫
Niemals.
Niemals hätte ich erwartet, dass Shawn so etwas tun würde. Mich zu - ich wollte das Wort nicht mal denken.
Ich entschuldigte mich bei Camila und bat sie, Teddy auszurichten, dass es mir leid täte und ich ihn heute Nacht oder Morgen früh bei ihm sehen würde. Ich schob mich an ihr vorbei und drängte mich durch die Masse, taub für die Worte, die sie mir hinterher rief, die Augen fixiert, wann immer er zum Vorschein kam.
Shawn half der Unbekannten gerade aus der Jacke. Sie sagte etwas, worauf Shawn lachte. Ich befand mich nun nah genug, um es zu hören - sein Lachen. Das erste Mal wünschte ich mir, dass es aufhörte.
Kassy, sei nicht so voreilig. Shawn würde das nicht tun. Er tut es nicht. Er -
Jetzt richtete sich die kleine Blonde das Oberteil, dann die Haare. Shawn schälte sich aus seiner Jeansjacke. Ich schob zwei tanzende Freunde fest etwas groß zur Seite und baute mich auf. Natürlich erschien ich nicht größer als Shawn, aber solange der blonde Zwerg merkte, dass ich sie um einen vollen Kopf überragte, fühlte sich die Rangfolge zumindest geklärt an.
Shawn entdeckte mich zuerst und war so überrascht, dass ihm das Lachen aus dem Gesicht fiel.
Es hat nichts zu bedeuten. Er ist einfach nur überrascht. Die beiden sind nicht -
"Abend", grüßte ich niemand bestimmten und erhielt nun auch die Aufmerksamkeit der Fremden.
"Kassy", stieß Shawn leise aus, sodass ich es nur durch seine Lippenbewegungen ausmachen konnte. Ich erkannte, wie er realisierte, nach was die Situation aussehen musste. Die Blonde bemerkte allerdings nichts, sondern fing an zu strahlen.
"Du bist Kassy? Hi!" Sie versuchte nicht, mich zu umarmen und streckte auch nicht die Hand aus, erwartete aber offensichtlich eine Antwort.
Shawn räusperte sich. "Julia, das ist Kassy. Kassy, Julia Michaels."
Ich ließ meinen Blick von Julia Michaels Kopf zu ihren Vans und wieder zu ihrem Gesicht wandern und ohne es kontrollieren zu können, sank meine Affinität immer tiefer. Schon vorhin beim Reinkommen hatte ich mich ab den Schultern abwärts schlecht gefühlt, aber Julia gegenüber gestellt hatte ich so viel Sinn für Kleidung wie Cole Flawley für Freundlichkeit.
Dennoch sammelte ich mich. Ich musste stark bleiben. Meine Unsicherheit durfte mich nicht einholen, ich musste Julia zeigen, wer der Boss war, und Shawn, wie sauer ich war.
Du hast kein Recht dazu. Er tut nichts Verbotenes, sei nicht so unfreundlich!
Seinem Blick nach zu urteilen hatte er dies dennoch ziemlich gut verstanden. Er erwartete wohl keine Antwort meinerseits mehr, weswegen er Luft holte.
Aber du willst nicht unhöflich sein!
Es handelte sich wohl um die seltenen Male, in denen es mir egal war, was andere dachten, doch ich wollte mir wirklich nicht vorwerfen lassen, unhöflich zu sein. "Hi ... Julia."
"Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen", fiel Shawn mir fast ins Wort.
"Ach."
Ich auch nicht. Aber hier bin ich. Stell dir vor.
Ich sagte nichts mehr. Julia konnte ruhig wissen, dass ich nicht mit mir spielen ließ, musste aber nichts von unseren Probleme oder über mich erfahren. Vorausgesetzt, Shawn hatte ihr nicht alles erzählt. Davon hing nämlich ab, ob er seinen Kopf behalten würde.
Da niemand etwas sagte, schoss mein Blick zu Julia. "Darf ich fragen, wie alt du bist?"
Shawn öffnete empört den Mund, doch Julia schien sich nicht an dieser Frage zu stören.
"Siebenundzwanzig", entgegnete sie freundlich.
Siebenundzwanzig. Sechs Jahre älter.
"Abschluss '12, hm?", fragte ich, um der Frage einen Grund zu geben.
"Oh, nein", erwiderte Julia und warf Shawn einen aussagekräftigen Blick zu. Welche Aussage er traf, konnte ich jedoch beim besten Willen nicht erkennen. "Ich bin keine Hexe."
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe und ich musste mich wirklich anstrengen, die Fassung nicht zu verlieren. Meine nächsten Worte waren an Shawn gerichtet. "Ein Muggel? Hier her?"
"Keine Angst, er hat kein Gesetzt gebrochen. "Julia lächelte noch breiter und ich brodelte. "Meine große Schwester Jaden ist eine Hexe, deswegen weiß ich alles über Magie und eure Welt. Ich arbeite schon länger für das Ministerium, sozusagen als Korrespondentin zwischen den zwei Welten."
Unsicher, wie viel ich ihr glauben sollte, zwang ich mir einfach nur ein Lächeln auf.
"Shawn hat mir mal wieder bei einer Angelegenheit ... ausgeholfen und ich wollte ihm zum Dank einen Drink ausgeben. Das ist so ein Ding zwischen uns geworden."
"Das ist lieb von dir."
Ich wusste, dass keiner von uns diesen eiskalten Worten Glauben schenkte, aber es interessierte mich kein Stück. Shawn hatte also abends Zeit, was trinken zu gehen, aber nicht nach Hause zu kommen. Er hatte Zeit, mich anzulügen, aber keine, mir von Julia zu erzählen. Es sei denn natürlich, es hatte einen triftigen Grund.
Die Wut verwandelte sich in Enttäuschung.
Shawn merkte es. Es brauchte nicht mehr als ein reflexartiges Zucken meiner Nase.
In mir schrie alles: Die Zeit zum Reden war gekommen. Ob ich bereit dazu war oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Der Zufall hatte diesen Abend dazu auserkoren, die Entscheidung aus unseren Händen genommen.
Ich blickte Shawn in die Augen, gab ihm aber keine Chance, in meine zu sehen. "Jetzt."
"Jetzt?"
Shawns Pupillen schrumpften vor Ärger. Er wusste genau, was ich wollte, hörte sich aber so an, als verlange ich vom ihm, einen auf die Sekunde ausgearbeiteten Plan um vier Stunden, achtzehn Minuten und vierunddreißig Sekunden zu verschieben.
"Ja. Jetzt."
In diesem Moment war es mit gleichgültig, ob er und Julia einen netten Abend miteinander hatten verbringen wollen und wie unverschämt es von mir war, meine eigenen Wünsche über die anderer zu stellen. Ich brauchte Antworten.
Denn wenn ich in dieser Lage nicht die Melody war, Julia nicht ich oder Shawn nicht Teddy ...
"Kas, Julia hat viel zu tun und dass wir beide heute frei haben, grenzt an ein Wunder."
Die Luft in meinen Lungen zerfiel zu Staub, so fühlte es sich zumindest an. Als Beobachter konnte man meinen, Shawns Aussage sei unverschämt gegenüber mir und nach all den Abenden, die er nie zu Hause gewesen ist, hatte er kein Recht dazu. Oder man erkannte seinen tief verankerten Charakterzug der Höflichkeit.
Aber ich kannte Shawn. Wenn man Camilas Worten Gehör schenkt sogar als einer der besten, wenn nicht sogar als beste Person auf diesem Planeten.
Die Art, die er die Wörter aussprach. Seine Körperhaltung. Die Stimmlage und die nervösen Augen.
Shawn hatte Angst.
Es war eine Ausrede. Er wollte nicht mit mir reden. Jetzt nicht und schon als ich meine Sachen geholt hatte nicht. Als er mir sagte, er verstünde, dass ich Zeit bräuchte, hat er einfach nur eine Gelegenheit gesehen, die Entscheidung abzugeben.
Denn er hatte recht, wären wir uns heute in dieser Lage nicht über den Weg gelaufen, hätte ich auch in drei Wochen nicht wieder vor seiner Tür gestanden.
Die Frage war nur, warum er Angst hatte. Aus denselben Gründen wie ich? Oder doch, weil ...
"Ich kann sie nicht einfach hier stehen lassen. Lass es uns verschieben."
Wie ich schien Julia ebenfalls zu merken, dass Shawn über sie sprach, als könnte sie ihn nicht hören. Die Blondine zitterte kurz, bevor ihr aufgesetztes Lächeln ein Stückchen breiter und echter wurde.
"Ist schon okay, Shawn, ich sehe, ihr habt was Wichtiges zu klären. Wichtiger als das hier. Wir holen das ein anderes Mal nach."
"Nein", protestierte Shawn lautstark. "Das ..."
"Es ist kein Problem Shawn, ehrlich." Julia blinzelte zu ihm hoch und ich musste alle meine Willenskraft aufbringen, nicht zu stark an einen Fluch zu denken, der einen der beiden treffen und verletzen könnte.
Shawn schielte zu mir rüber. In seinem Blick lag so viel Abneigung und Hass, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Die Haut in meinem Nacken wurde zu Eis. Ich stutzte. Die Tür hinter Shawn wurde geöffnet und eine kleine Gruppe Hexen und Zauberer in Julias Alter trat ein. Im nächsten Moment hatte mich einer entdeckt und ich wurde belagert.
"Wow, Kassy! Hi! Das ist ... so cool, dich zu treffen! Können ... Können wir ein Autogramm haben?"
Ausgerechnet jetzt. Es kam maximal zweimal in der Woche vor, dass ich außerhalb des Stadions erkannt wurde - wieso ausgerechnet jetzt?
Ich holte Luft, um ein säuerliches "NEIN!", zurückzufeuern, bemerkte aber in derselben Sekunde, dass auch Shawn zu einer Antwort angesetzt hatte. Ihm fiel ebenfalls auf und erschrocken, uns in alter Mentalität und auf derselben Seite wiederzufinden, verloren wir beide und in einem leichten Hüsteln.
Seine äußere Abneigung verschwand und ich landete mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Shawn war nicht sauer, dass ich seinen und Julias Abend ruinierte, sondern er mochte die Art nicht, wie ich mich aufführte. Weil er verstand, wie es aussah, aber nicht war. Weil ich im Unrecht war und mich von meinen Gefühlen hatte überrennen lassen.
Weil es doch der Teddy-Kassy-Melody-Fall ist.
Den Bruchteil einer Sekunde sah ich zu Julia, die nervös an einem ihrer vielen Ohrringe spielte und Shawn besorgt anschaute. Diese kurze Unterbrechung und der Blickkontakt zu Shawn hatten gereicht, um mir in Erinnerung zu rufen, dass diese Gruppe nichts für meine Probleme konnte und ich ihnen nicht auch den Abend verderben wollte. Außerdem konnte ich schlechte Presse nicht zusätzlich zu dem hier gebrauchen.
"Klar ... ich habe aber nur kurz Zeit."
"Kein Ding! Verstehen wir. Danke, das ist super." Er reichte mir Pergament und Feder und ich schielte zu Shawn. Sein Augen waren geschlossen, sein Kopf zur Seite gedreht. Er schluckte. Hielt er Tränen zurück?
"Wir waren beim letzten Spiel im Stadion, wie du den Quaffel trotz des Fouls rein bekommen hast, einsame Spitze!"
Während der junge Mann, der mindestens sechs Jahre älter war, mich zulaberte und lobte, als sei ich sein Schwarm, und ich nebenbei die sechs Pergamentfetzen unterschrieb, ließ Julia fallen, dass sie Nate entdeckt hätte und verabschiedete sich von Shawn.
Ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, woher Julia Nate kannte, denn ich war zu sehr damit beschäftigt, neben dem korrekten Schreiben der Namen aus den Augenwinkeln zu beobachten, wo genau Shawns Hände lagen, als Julia ihn zum Abschied umarmte.
Shawn schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte eine unverständliche Entschuldigung, doch Julia schien ihn zu beruhigen und strich über seine Arme. Nur um es festzuhalten, es sah bescheuert aus - sie reichte ihm nicht mal bis zum Hals und lächelte selig wie ein niedlicher Fwuuper.
Seit gut drei Sekunden hasste ich niedliche Fwuuper.
Erneut düster dreinblickend zog Shawn sich die Jeansjacke wieder an und ich wünschte der Gruppe einen schönen Abend. Nacheinander verließen Shawn und ich die Bar. Es hatte angefangen zu nieseln und Neben begann aufzuziehen. Kurz sah Shawn so aus, als würde er mir aus Gewohnheit seine Jacke anbieten wollen, nur damit ich sie ablehnte und wir in einen unernsten Streit über höfliches Verhalten ausbrachen, erinnerte sich dann wohl an unsere Lage und die Spannung.
"Ich hätte sie so oder so nicht genommen, das weißt du", sagte ich ruhig.
Ich hatte das Gefühl zu flüstern, jetzt, wo es so leise war. Meine Ohren dröhnten seltsam. Shawns Mundwinkel zuckten, doch er fing sich. Gut. Hätte er angefangen zu lachen, wäre es so wie immer gewesen, als wir uns wie früher wegen unnötiger Kleinigkeiten in die Haare gekriegt hatten. Wir hatten es immer nur so lange ausgehalten, bis einer von uns lachen musste. Aber ich wollte nicht zurück in diese Zeit. Nicht, wenn ich mit dem Hier und Jetzt, mit dieser Gegenwart, umgehen musste.
"Zu m...", Shawn räusperte sich. "Zur Wohnung?"
Ob seine oder die bildete für mich keinen Unterschied mehr. Ich nickte nur. Shawn hielt mir seinen Arm hin, wahrscheinlich auch aus Gewohnheit. Ich konnte kein abschätziges Grunzen verkneifen und durch Shawns Gesicht zuckte Schmerz.
Drachenmist, was ging in seinem Kopf vor?
Sollte das ein Friedensangebot werden? Verstand er nicht, was gerade passiert war?
"Wir sehen uns unten vor der Tür", sagte ich nur und disapparierte allein.
Ganz natürlich apparierten Shawn und ich nur den Bruchteil einer Sekunde auseinander an derselben Ecke. In einer angenehmen und dennoch angespannten Stille liefen wir nebeneinander bis zum Gebäude. Shawn fummelte den Schlüssel aus seien Hosentasche und ich lachte fast darüber, wie makaber dieses Muggelgetue war.
Als hätte Shawn meine Gedanken gelesen, sagte er mit trockenem Hals: "Der Nachbar aus 402." Die Tür klickte und Shawn lief hindurch. "Er verdächtigt mich ... also uns ... na ja, seit einer Weile. Du weißt schon was also nur noch hinter geschlossenen Türen."
An den Weg nach oben konnte ich mich nicht erinnern. Mein Gehirn schien durch den Knall der Wohnungstür wieder einzusetzen, den Shawn ohne Rücksicht verursachte. Nun schien er erneut sehr wütend zu sein, mindestens ebenso wie ich.
Obwohl ich still zugeben musste, dass meine Wut etwas versackt war. Die vertraue Umgebung und die Flucht aus der überfüllten Bar inklusive dem niedlichen Fwuuper nahmen mir Gewicht von den Schultern. Shawn schien es nach dem Ausziehen seiner Schuhe ähnlich gehen.
"Tee?", fragte er auf einmal ganz leise, fast richtig müde.
"Ja, bitte", antwortete ich ebenso ruhig.
Es war pathetisch, wir verhielten uns wie zwei Grundschulkinder, die merkte, wie dumm ihr Streit gewesen war und einfach wieder befreundet sein wollten. Nur dass unsere Situation nicht ganz so simpel aussah. Leider.
Shawn fragte gar nicht nach der Sorte, sondern ging einfach zum Schrank, in dem mein Pfefferminztee sonst immer gestanden hatte. Ich war zugegeben überrascht zu sehen, dass er aufgefüllt worden war. Auf einen zweiten Blick konnte ich auch die Kaffeemaschine nirgends entdecken.
Die Stille erdrückte uns, so lange, bis Shawn mir eine heiße Tasse Pfefferminztee in die Hände drückte und ich ein ersticktes: "Danke", krächzte. Shawn setzt sie auf meinen alten bevorzugten Platz, da ich neben seinem normalen Platz saß, welcher nun zwischen uns Staub fing. Er wollte nicht zu nah sein, mich an dem runden Tisch besser sehen können.
Ich zog meine Beine auf den Stuhl und drückte meinen Rücken gegen die Lehne. Eine Weile wurde es wieder still und ich bemerkte, dass Shawn die tickende Uhr mit einem Schweigezauber belegt hatte. Er hatte das Ticken immer gehasst, während ich es geliebt habe.
Meine Finger verbrannten fast an der heißen Tasse, doch ich stellte sie nicht ab. Kurz ließ ich es zu, dass meine Gedanken Fahrt aufnahmen und ich daran erinnert wurde, wieso ich hier war und was mir nun bevorstand.
Was uns nun bevorstand.
Dieser kurze Moment reichte, um mir Tränen in die Augen zu treiben. Als ich von dem tiefen Orange des Tees zu Shawn aufsah, erschrak ich mich, auch Tränen in seinen Augen zu sehen. Wir schauten uns eine Weile an, ohne uns anzusehen, und doch hatte ich das Gefühl, die Hälfte der Gesprächs war nun schon geklärt. Trotz dieser unerträglichen Stille.
"Eine Affäre? Echt jetzt?", fand ich schließlich den Mut, zu sprechen.
"Nein", brach es aus Shawn heraus. Seine Stimme überschlug sich und er fing an zu schluchzen. "Kassy, nein. Niemals. Nie."
Die pure Verzweiflung schlug auf Shawn ein, wie ich es vorhin am liebsten noch getan hätte.
Bisher hatte ich geglaubt, Shawn schon weinen gesehen zu haben, doch ich hatte mich getäuscht. Das hier war Shawn weinend. Völlig am Ende, ohne Ende in Sicht. Ihn so zu sehen tat mir weh, doch noch mehr weh tat mir zu wissen, dass ich der Grund war.
"Aber ... wieso? Erklär es mir", bettelte ich. "Ich verstehe so viel nicht und ... und ..."
Ich konnte mich nicht zurückhalten. Die ersten Tränen fielen auf meine Wangen. Wir saßen schweigend am Küchentisch, keiner von uns Anstalten machend, den anderen zu trösten. Dazu hatten wir noch zu wenig Nähe, nicht das Recht. Lächerlich, wenn man daran dachte, dass wir fast fünf Jahre eine Beziehung geführt hatten.
"Das, was ich gesagt habe, tut mir leid. Mein Job ist nicht das einzig Wichtige", brach es schließlich aus ihm heraus. "Es gibt andere Dinge, die wichtiger sind. Meine Freunde, meine Familie und ... du. Nichts ist mir wichtiger als du. Wir wissen beide, dass ich es nicht in diesem Sinne gemeint habe, als ich es gesagt hab, aber trotzdem war es falsch. Und es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. So oft. Es ist nur ... ich habe das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein, wenn ich arbeite. Ich bin ich, nur viel ... cooler. Ich erlebe unglaubliche Dinge, ich werde ganz anders behandelt, ich vollbringe fantastische und abgefahrene Sachen. Und das ist noch immer nicht zur Normalität für mich geworden. Unser Leben und mein Leben bei der Arbeit sind zwei völlig verschiedene. Man kann es nicht beschreiben, man muss er erleben. Und wenn ich dieser unglaubliche und coole und talentierte Shawn bin, dann vergesse ich manchmal, dass der normale Shawn eine ganz wunderbare Freundin hat, die ihm alles gibt, was er braucht. Genauso wie ich die coole Version meiner selbst vergesse, wenn ich mit dir zusammen bin. Doch der Unterschied ist, dass ich zur Arbeit gehen muss, ich werde gezwungen, die andere Rolle einzunehmen. Aber keiner zwingt mich aktiv nach Hause. Ich müsste es selbst tun, doch ich bin zu schwach."
"Nein", unterbrach ich ihn. "Nein, du Idiot, du bist zu dämlich um zu sehen, dass es keine zwei Arten von dir gibt. Du bist immer cool. Du bist der coolste Mensch, den ich kenne. Der talentierteste, der klügste. Du bist unglaublich. Du bist nur zu dämlich es zu sehen. Du erzählst mir jahrelang, dass ich mich lieben lernen soll und mich so akzeptieren soll, wie ich bin. Dabei bist du es, der das mal hören sollte. Und ja, vielleicht ist es mein Fehler, dass ich in diesem Bereich nur genommen und nie gegeben habe. Aber nur weil du diese Dinge, die du auf Missionen tust, zu Hause nicht tun kannst, heißt das nicht, dass du nicht fähig bist sie zu tun. Du bist genau derselbe."
Shawn schluckte, doch bevor er lächeln konnte, musste ich den nächsten niederschmetternden Satz von mir geben: "Und wenn du diese anderen Dinge nicht wertschätzt, dann bin ich vielleicht nicht die Richtige."
"Sag das nicht."
Der Griff um meine Tasse verstärkte sich. Shawn Stimme grollte tief. Wütend, bedrohlich.
"Du bist die Richtige. Die Einzige."
"Woher willst du das wissen?", fragte ich ganz leise, ohne ihn anzusehen. "Shawn, ich habe gesagt, ich will reden. Und reden bedeutet schonungslos ehrlich sein. Ich frage mich das schon eine ganze Weile. Woher wissen wir, dass wir zusammen sein sollten? Ich war sechszehn, als wir zusammengekommen sind. Ich hatte nie jemanden anderen. Und du auch nicht. Ja, wir haben Spaß miteinander. Ja, ich liebe dich. Aber keiner hat je behauptet, dass es mit jemand anderem nicht genauso sein kann."
Neue Tränen rannen Shawns Gesicht hinab. Seine Augen waren bereits leicht geschwollen. Er antwortete nicht und ich nippte vorsichtig an meinem Tee, um ihm zu zeigen, dass ich für die Sekunde alles gesagt hatte und erst fortfahren würde, wenn er antwortete.
Der Tee war noch zu heiß, ich verbrannte mir die Zunge.
"Du hast recht." Er schniefte. "Wir wissen es nicht. Aber warum denn herausfinden, wenn es so stimmt? Warum weitersuchen, wenn man den Schnatz schon gefangen hat?"
"Weil es nicht funktioniert!", erwiderte ich. Es tat so weh.
"Es funktioniert nicht?", rief Shawn und schob die Tasse von sich weg, sodass der Inhalt auf den Tisch schwappte. "Ich will nicht behaupten, dass wir uns nicht streiten, denn das tun wir offensichtlich seit einer ganzen Weile, aber du kannst nicht behaupten, dass es nicht funktioniert! Ja, ich war ein verdammtes Arschloch und vielleicht bin ich es immer noch. Aber Kassy, wir sind zu zweit. Du hast gesagt, du willst mir noch eine zweite Chance geben."
Er sprang auf, seine Stimme heiser, unendlich viele Tränen überall.
"Und an diesen Worten habe ich festgehalten, seit du aus dieser Tür raus bist. Weißt du, wie schwierig diese Zeit für mich war? Jeden Tag zu hoffen, dass du klingelst oder anrufst oder meinetwegen auch einfach auftauchst. Ich habe mich so verzweifelt an deine Worte geklammert, dass ich kaum noch geradeaus laufen konnte. Am Anfang war ich sauer. So wie du, ich war wütend. Aber nach einiger Zeit hab ich verstanden, was du meinst. Du bist aus dieser Tür raus und im Gegensatz zu mir bist du nicht zurückgekommen. Jeden verdammten Tag habe ich gehofft und die Minuten gezählt. Ich hing in der Luft, unfähig mich zu bewegen. Ich wollte so sehr, dass du zurückkommst und wir etwas ändern können. Und dann wollte ich gleichzeitig, dass du nie wieder auftauchst, damit ich mir nicht anhören muss, dass es vorbei ist. Ich hatte so viel Angst. Wir haben mal funktioniert und es gab so viele Menschen, die mir gesagt haben, wie sehr sie sich für uns freuen. Wir hatten das, was unzählige Menschen wollten. So viele meiner Freunde und Kollegen. Dieses kleine Etwas, was man sich nicht erarbeiten kann. Entweder es ist da oder nicht. Und wir gehören zu den wenigen glücklichen Menschen, bei denen es da ist. Wir sind nur zu unfähig, an dem gesamten Rest zu arbeiten."
Ich konnte nicht atmen. Ich konnte wirklich nicht atmen. Die Panikattacke erwischte mich eiskalt von hinten. Ich rang nach Luft, versuchte, die Angst aus meinem Nacken zu schütteln, mich loszureißen. Es wäre so einfach, alles zu vergessen und langsam von vorne anzufangen, aber ich wollte nicht vergessen. Ich konnte nicht einfach so weitermachen.
"Und es war nicht gerade so, als hätte ich keine Ahnung, was du gerade machst. Egal wohin man sich dreht, du bist überall. Jedes Mal, wenn ich dich in der Zeitung gesehen oder deinen Namen gehört hab, wollte ich einfach nur verschwinden. Ständig hab ich mich gefragt, ob du mich je wieder so anlächeln wirst, wie du die Kameras angelächelt hast. Du standest mit der ganzen Welt in Kontakt, nur ich war der, der von der Seitenlinie zuschauen musste. Ich verstehe, dass du Zeit gebraucht hast, ich habe sie auch gebraucht. Aber irgendwann hat es gewirkt, als seist du schon längst über mich hinweg und hast nur vergessen, es mir mitzuteilen. Kannst du jetzt auch mal was dazu ..."
Als Shawn realisierte, dass ich mehr als nur sprachlos war, nährte er sich. Das war zu viel. Das war die Bewegung, bei der ich dachte, ich müsste sterben. Ich wollte nicht sterben. Mein Überlebensinstinkt setzte ein und Luft schoss schmerzvoll in meine Lungen.
"Nicht ... näher kommen", keuchte ich.
Ich wollte nicht, dass er mich anfasste. So lange hatte er es nicht mehr getan und das sollte nicht der Grund sein. Außerdem war mir klar, dass sobald er mich anfasste, ich wieder in der Falle saß. Verhalten hin oder her, Shawn war einfach eine Person, die Person, die mehr als nur Einfluss auf mich besaß. Doch ich war noch nicht fertig. Ich musste den Abstand unter allen Umständen bewahren, vor allem, wenn wir getrennt hieraus gingen.
"Geht's?", fragte Shawn vorsichtig und setzte sich langsam wieder.
"Irgendwie immer", gab ich leise zurück. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus und beruhigte mein nach Sauerstoff ringendes Herz. Mit zittrigen Beinen stand ich auf. Synchron erhob sich Shawn, doch ich bedeutete ihm, sich zu setzen. Ich konnte vielleicht wieder atmen, doch die Panik saß noch immer lauernd vor mir. Ein Sprung ihrerseits und ich würde untergehen.
Also humpelte ich rüber zum Waschbecken, machte den Lappen nass und begann, den übergeschwappten Tee wegzuwischen. Shawn holte derweil eine Taschentücherbox und stellte sie auf die Fläche, die ich soeben gesäubert hatte.
Zögernd kopierte ich Shawn, der nach einem weißen Tuch griff, und setzte mich wieder.
Ich schloss die Augen, atmete einmal kurz durch, und nahm mir fest vor, die Sache jetzt zu beenden.
"Es tut mir leid, dass ich dir dieses Gefühl gegeben habe. Das wollte ich nicht."
In Shawns Augen schoss die Panik, die ich soeben besiegt hatte.
"Aber ich meine es wirklich ernst. Ich bin noch nicht fertig mit dir. Noch lange nicht. Ich kann machen, was ich will, aber ich krieg dich nicht aus meinem Kopf. Zuerst dachte ich, es würde mit der Zeit besser werden, das wurde es auch irgendwie, manchmal. Aber immer wieder, ohne Grund oder Trigger, warst du einfach da. Ich kann dich nicht vergessen."
Ich wischte mir die Tränen weg. Meine Augen brannten.
"In der Zeit ohne dich habe ich festgestellt, dass ich dich nicht brauche. Das war eine gute Feststellung. So lange war ich von dir abhängig, egal ob du das anders siehst. Jetzt weiß ich, dass ich es nicht bin, zumindest, was Geld und Arbeit und Freiheit und Glück angeht. Aber als du vorhin mit Julia, oder wie auch immer sie heißt, durch die Tür getreten bist, habe ich gemerkt, dass ich dich will."
"Ich schwöre dir, Kassy, da ist nichts. Da war nichts und da wird nie was sein."
"Das weiß ich, Shawn. Ich glaube dir. Du hast mein Vertrauen vielleicht gebrochen, aber es wäre so leicht für dich, jemanden neues zu finden und mich wegzuschicken. Die Sache ist, dass ich diese brennende Eifersucht gespürt habe. Wir beide waren nie eifersüchtig aufeinander. Du konntest mit Camila abhängen und es hat mich nicht gestört, weil ich wusste, dass du es nicht nötig hast, mich anzulügen. Ich habe nur immer die gesunde Eifersucht gespürt, wenn jemand anderes mehr Aufmerksamkeit oder Zeit bekommen hat. Das war nicht oft der Fall und häufig auch irrational, aber das waren die Momente, in denen ich gemerkt habe, wie sehr ich dich liebe.
Aber als du rein gekommen bist, da war ich eifersüchtig, weil ich gesehen habe, dass du ohne mich klar kommst. Und weil ich wusste, dass ich, egal wie oft ich es versuch mir einzureden, nicht ohne dich klar komme. Zumindest nicht so, wie ich klar kommen könnte. Ich wollte nicht, dass jemand anderes meinen Platz einnimmt. Dass du deine Erinnerungen mit jemand anderem teilst und ich keine Option mehr für dich bin. Und das macht mich verrückt! Ich würde dich so gerne loslassen wollen, aber ich kann es nicht. Das wäre Selbstmord, für uns beide. Also muss es funktionieren. Und du hast recht, es gab eine Zeit, da haben wir funktioniert. Es tut mir leid, dass ich anderes behauptet habe."
"Das mit Julia konnte ich dir nicht erzählen, weil es in diesem Fall nicht nur meinen Job in Gefahr bringen könnte, sondern auch ihren. Sie allgemein. Wann immer wir gemeinsam rausgegangen sind, hatten wir jedes einzelne Mal einen geschäftlichen Hintergrund. Ich hätte dich mehr als einmal so gern mitgenommen, aber es ging einfach nicht, das musst du mir glauben. Denkst du, ich würde ihr sonst alles über dich erzählen?"
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte.
"Es tut mir leid", sagte ich leise. "Dass ich mich so aufgeführt habe. Aber ... ich war so ... wütend, und es sah so aus, als ..."
"Da ist nichts. Du bist doch auch mit Teddy dort gewesen."
Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. Etwas an Shawns Tonfall ließ mich stutzig werden.
"Ja, aber nicht alleine, um etwas trinken zu gehen, sondern mit Jusrus, Stella und Ginger, weil Teddy sie vorher eingeladen hat", erklärte ich. "Du ... du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf Teddy?"
Ertappt sah Shawn weg und ich war einen Moment so aus der Bahn gebracht, dass mir die Worte fehlten.
"Shawn, Teddy hat Tori, und ich hab dich, und Teddy und ich kennen uns seit Ewigkeiten. Wir sind beste Freunde, aber wir würden doch nie ..."
"Nein, ich weiß", unterbrach Shawn mich. "Es ist dumm. Ich weiß. Aber es ist nur ... Ich weiß, wie toll Teddy ist und wie toll du bist. Er ist immer für dich da, vor unserem Streit bist du bei ihm gewesen, hattest seinen Pullover an ..."
"Weil es geregnet hat."
"Es gibt Magie, weißt du? Es dauert nicht lang, Klamotten zu trocknen."
"Shawn ..."
"Ist ja in Ordnung. Ich weiß, es ist dumm und unfair. Aber dich im Club zu sehen, ohne mich ..."
"Du bist nie nach Hause gekommen", bemerkte ich stumm. "Wir sind nie gemeinsam irgendwo hingegangen, du ..."
"Weil ich weiß, dass du es hasst", unterbrach er mich erneut und sah mich eindringlich an. "Deswegen bin ich ja so überrascht gewesen. Ich war unsicher, ob ich dich überhaupt noch kenne, wenn du plötzlich an einem Ort auftauchst, von dem ich dachte, du würdest ihn nie freiwillig aufsuchen."
"Du hast recht, ich habe diesen Abend gehasst", gebe ich zu. "Keiner der anderen hat es vorher gewusst und im Nachhinein hoffentlich nicht bemerkt. Aber ich kann das ja nicht ewig so machen. Ich will mir das Leben nicht unnötig schwer machen und Möglichkeiten verpassen. Es war grausam, das stimmt, und wenn ich daran zurückdenke, was komisch ist, weil es keine Stunde her ist, dann könnte ich jeden Moment wieder anfangen zu weinen. Aber irgendwann muss ich irgendwo anfangen. Du warst derjenige, der mich immer wieder an meine Grenzen gebracht hat und auch wenn ich es häufig gehasst habe, hat es geholfen. Ja, ich würde es hassen, wenn wir gemeinsam solche Dinge tun würden, aber immerhin täten wir sie gemeinsam. Mit dir an meiner Seite schaffe ich es durch alles. Das habe ich immer getan."
Eine Weile sagt Shawn nichts, sondern kratzte sich nur nachdenklich am Kinn. Ein kurzer Schwall der Müdigkeit überkam mich, hatte jedoch keine Zeit sich auszubreiten, bevor Shawn antwortete.
"Okay. Dann ... sag mir das doch. Sag mir, dass du weiter an deine Grenzen gehen willst. Ich weiß einfach nicht ... Kassy, ich versuche alles, dich zu beschützen. Ich will dich nicht verlieren. Ich kann dich nicht verlieren. Ich versuche einfach, alles richtig zu machen, damit das nicht passiert. Aber anscheinend passiert es trotzdem und ich weiß nicht, was ich noch tun kann."
"Ich sehe, dass du es versuchst, Shawn, wirklich", entgegne ich. "Deine Intentionen sind stets die richtigen und dafür liebe ich dich. Das schätze ich so sehr an dir, egal wie schwierig es wird, du willst immer das Richtige tun. Aber du überschreitest dabei Grenzen, was du oft nicht merkst. Ich kann nicht weiter dabei zusehen, wie du meine Grenzen überschreitest. Es ist wie beim Obliviate damals, die Sache mit ... du weißt, wen ich meine. Wir haben es nie wahrhaft ausdiskutiert und ich muss ehrlich sagen, dass es mich deswegen immer noch belastet."
"Wir haben darüber geredet", sagte Shawn etwas ängstlich, vielleicht sogar verzweifelt.
"Nein. Wir haben über den Fehler gesprochen, den du begangen hast. Aber darum geht es nicht. Darum ging es noch nie - es geht nicht um die Dinge die du tust, Shawn, sondern um die Dinge, die du gesagt hast. Oder eben nicht. Ich verstehe wirklich, warum du es tun musstest und ich trage dir dort nichts mehr nach. Ich hätte genauso gehandelt. Aber danach hättest du was sagen müssen. Du wolltest mich beschützen, ich weiß, aber in diesem Fall war es einfach falsch und ich verlange gar nicht mehr, als dass du es einsiehst. Ich will dich nicht beschuldigen und damit fertig machen, ich will einfach nur, dass du es verstehst und nicht nochmal machst. Dasselbe gilt für einen Beruf."
Shawn warf den Kopf in den Nacken, um die Tränen wegzublinzeln, doch es half nichts. Sie entkamen ihm dennoch.
"Ich ziehe meinen Beruf nicht dir vor", wiederholte er sanft.
"Ich weiß. Und das ist auch nicht das, vorauf ich hinaus will. Und übrigens auch nicht, weshalb ich gegangen bin. Es ist dir rausgerutscht und du meintest es nicht so, das ist mir in derselben Sekunde klar gewesen. Aber es geht eben nicht um das Was, sondern darum, wie du es tust. Mir ist bewusst, auf was ich mich eingelassen habe. Dass dein Leben in ständiger Gefahr schwebt. Es ist nicht einfach, aber ich akzeptiere diese Entscheidung. Denn ich finde es gut, dass du dich für das Gute einsetzt, dass du das Richtige tun willst, aber die Art, wie du dabei mit deinem Umfeld umgehst, passt mir nicht. Egal was kommt, Shawn, ich habe Angst um dich. Weil ich dich liebe. Viele Leute haben das, weil sie dich lieben, aber du tust so, als sei das unberechtigt."
"Ich weiß, ich weiß ...", murmelte er verzweifelt. "Aber ich ... Ich weiß."
Keine Rechtfertigung. Akzeptanz. Das ist genau das, was ich wollte.
Shawn stützte die Arme auf seine Knie und drückte sich die Handballen gegen die roten Augen. "Weißt du, was mir mal jemand gesagt hat?" Shawn sprach so leise, dass ich ihn kaum hören konnte, obwohl die Uhr nicht tickte.
"Liebe bedeutet Schmerz."
Ich stöhnte auf. "Komm schon, Shawn, das ist jetzt nicht dein ..."
"Liebe heißt Schmerz", übertönte er mich. "Und wir haben schon so viel davon durchlebt, und trotzdem sitzen wir jetzt hier. Die Tür ist offen, trotzdem gehst du nicht."
Er sah mich auffordernd an.
"Und ich gehe auch nicht."
Ich blieb immer noch stumm.
"Und das ist genau das, was wir beide die ganze Zeit sagen. Wir wollen nicht aufgeben. Wir wollen kämpfen. Und wir haben uns in den letzten Minuten so sehr verletzt. Gegenseitig. Einseitig. Und trotzdem sitzen wir hier. Du willst mich. Und ich will dich. Du willst nicht ersetzt werden – was nebenbei bemerkt niemand könnte – und ich will wieder das Gefühl spüren, was nur du mir geben kannst. Das Glücklich sein. Und trotzdem rennen wir im Kreis. Ich sage dir jetzt, was ich will: Ich, Kassiopeia, will, dass wir wieder auf denselben Weg finden. Dass wir miteinander reden, dass wir an unserer Beziehung arbeiten und dass wir wieder zu dem Punkt zurückfinden, an dem es funktioniert hat. Weil wir zu gut sind, um vergessen zu werden."
Shawn lehnte sich zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Ich legte mein zerknülltes Taschentuch auf den Tisch und zog die Beine auf den Stuhl, sodass ich im Schneidersitz saß.
"Ich ...", fing ich leise an und musste mich räuspern. Mein Hals brannte, doch mit wurde schlecht bei dem Gedanken, jetzt Pfefferminztee zu schmecken. "Ich, Shawn, will, dass ..."
Was wollte ich? So vieles. Viel zu viel. So viel, wie ich niemals aussprechen könnte. Doch dann fiel mir wieder ein, wer hier vor mir saß. Shawn kannte mich in- und auswendig. Er verstand mich ohne Worte, er las mich wie ein offenes Buch. Ich brauchte nicht viel zu sagen.
"... dasselbe wie du. Ich will mir mehr Mühe geben, ich will das zurückholen, was wir hatten, was alle wollen. Ich will es langsam angehen und ich will ehrlich sein. Ich will den alten Shawn zurück, ganz ehrlich, und ich weiß, dass er noch da ist. Ich weiß aber auch, dass ich den alten ohne den neuen nicht kriege und ich will mich mehr anstrengen, es zu akzeptieren. Ich will den neuen Shawn so annehmen, wie du die neue Kassy annimmst. Bedingungslos."
Ein Blick reichte und das erste Mal seit über einem Jahr krachte es, als sich unsere Blicke begegneten. All die Dinge, die ich wollte, aber für die ich keine Worte fand, reichte dieser einzige Blick und Shawn verstand. Und ich war überrascht, wie viel er mir sagte, was er nicht ausgesprochen hatte, und wie viel ich verstand. So viel mehr, als ich erwartet hatte. Es war nicht nur er, es war auch ich. Und ich besaß mittlerweile die Größe, dies zu akzeptieren und an mir zu arbeiten. Wir steckten da zusammen drin.
"Und ich will, dass du mich umarmst", hauchte ich leise und stand auf.
Shawn stieß fast den Stuhl um, zögerte dann jedoch.
"Wirklich?"
Wir wussten beide, wenn wir das nun taten, gaben wir uns eine zweite Chance und würden nur noch alles schwieriger und komplizierter machen. Es gäbe kein Zurück mehr und wir müssten uns durchkämpfen, was auch immer folgte.
"Ja."
Ich lief um den Tisch und Shawn hatte gerade noch Zeit, seine Arme zu öffnen, als ich schon in ihnen lag und ihn so fest drückte, als könnte ich all die verpassten Momente und die getrennte Zeit aufholen.
Es tat so gut, ihn zu riechen, seine Wärme zu spüren, die vertraute Haltung einzunehmen. Eine mir nicht bewusste Leere füllte sich plötzlich und ohne es zu wollen, begann ich zu verzeihen. Zu verzeihen und zu verarbeiten. Um Nichts ins der Welt wollte ich dies je wieder aufgeben.
Mit einem weinenden und einem lachenden Auge klopfte ich mir selbst auf die Schulter, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben und mich nicht direkt von Shawn zu trennen. Er hatte recht, Liebe bedeutete Schmerz und wir waren noch lange nicht damit fertig, uns heute Nacht wehzutun. Aber mit der richtigen Person konnte man die Wunden gleich verarzten, sodass keine Narben zurückblieben.
Ich erachtete es als erstaunlich, wie lange man in einer Umarmung verweilen konnte, wenn man so lange voneinander getrennt gewesen war und wie sehr man nicht loslassen wollte, obwohl man den anderen immer noch hasste. Und wie man sich so blind verstehen konnte, dass beide gleichzeitig losließen, sich ansahen, und sich nicht küssten, weil sie wussten, dass jetzt nicht der Zeitpunkt dafür war.
Wir setzten uns aufs Sofa und redeten die halbe Nacht darüber, was wir fühlten. So gut es ging versuchten wir, unsere Gefühle in Worte zu fassen und wann immer einer ans Ende kam, half der andere aus. Ich begann zu verstehen, weshalb Shawn so gehandelte, wie er es getan hatte, was ihm dabei durch den Kopf gegangen war, und erhielt endlich seine Akzeptanz und die Entschuldigung für die richtigen Dinge.
Shawn sah ein, dass er aufhören musste, mich so zu unterschätzen, egal wie gut seine Intentionen waren. Ich sah ein, dass ich anfangen musste, ihm meine Gedanken klarer mitzuteilen und ihm sofort Einhalt zu gebieten, wenn mir etwas nicht passte.
Als ich all meinen Mut zusammennahm und begann, über meine Panikattacken zu reden, eröffnete Shawn mir, dass er auch schon lange darunter litt. Ich lernte Seiten von ihm kennen, die ich nicht für möglich gehalten hatte.
Schließlich sagte ich ihm klipp und klar, wo ich mit unserem Wiederaufbau beginnen, was ich runter brechen und was zukünftig verändern wollte. Wir steuerten unseren Weg durch die Vorstellungen und klärten Missverständnisse und falsche Annahmen, von denen mir gar nicht bewusst war, dass sie existierten.
Ich hatte immer gedacht, Shawn und ich hätten kommuniziert, aber nach und nach wurde mir immer bewusster, dass wir nur das ausgesprochen hatten, von dem wir glaubten, der andere hätte es so gelesen. Eine Schicht tiefer zu gehen tat zwar unglaublich weh, doch die Erleichterung danach war es allemal wert.
"Ich möchte, dass du wieder einziehst", sagte Shawn, irgendwann nach fünf Uhr morgens.
Ohne es verhindern zu können, begann ich zu lächeln.
"Na klar willst du das. Hast du dich mal umgesehen? Man merkt, dass ich nicht mehr hier lebe."
Das erste Mal in dieser Nacht fingen wir beide an zu lachen. Mein Herz horchte auf, als ich dieses Geräusch hörte. Shawns Lachen tat mir mehr an, als es alles Glück der Welt konnte. Mein Glück war sozusagen in Shawn verpackt.
Trotzdem schüttelte ich den Kopf. "Nein, auf keinen Fall. Tut mir leid."
"Was? Wieso nicht?"
"Das geht zu weit", lächelte ich mitleidig. "Langsam, verstehst du? Zusammen wohnen bringt Probleme mit sich, denen wir uns noch nicht wieder stellen können. Das ist, als würde man versuchen, zu zaubern, wenn man die Bewegung und Intonation gar nicht richtig kann."
Shawn seufzte laut. Ein einsehendes Seufzen. "Es könnte gehörig schiefgehen."
"Richtig. Außerdem habe ich in der Vergangenheit zu viel verziehen – nicht unbedingt was dich angeht, ich meine früher ... du weißt schon. Ich will mich nicht unter Druck setzen lassen, indem ich das Gefühl haben, dass ich etwas muss."
Jetzt streckte Shawn den Rücken durch. "Ich bin nicht Mel."
"Ich weiß! Deswegen ja! Du bist mir wichtig, ich will keinen Fehler machen."
Seine Schultern sackten und er sank in die Sofakissen. "Sorry, ich bin nicht gewohnt, nicht mehr da zu sein, wo wir aufgehört haben."
"Ich auch nicht", stimme ich ihm zu. "Das ist jetzt wieder eine Situation, an die wir uns gewöhnen müssen. Das braucht Zeit, aber das kriegen wir hin. Und dann arbeiten wir uns hoch."
"Sind wir dann jetzt zusammen oder nicht?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass diese Frage früher oder später auftauchen würde, doch ich kannte ehrlich gesagt keine Antwort darauf.
"Ich weiß es nicht. Ohne es zu überstürzen", erinnerte ich ihn, "was würdest du sagen?"
Es beruhigte mich zu sehen, dass auch Shawn Schwierigkeiten mit der Frage hatte.
"Was hältst du davon, wenn wir uns nicht entscheiden?", schlug er vor und schielte zu mir rüber. "Muss ja keiner wissen, was jetzt ist. Wir haben miteinander geredet. Wir reden wieder miteinander. Wenn jemand fragt, ob wir wieder zusammen sind, sagen wir, wir arbeiten dran. Denn es ist ganz klar, dass wir nicht vor der Stufe Beziehung stehen, zumindest nicht so, wie es vorher war. Ich glaube, das, indem wir uns befinden, wurde noch nicht von der Filmindustrie betitelt."
Ich lachte auf und auf Shawn grinste breit.
"Wir wohnen nicht zusammen, versuchen uns aber so oft wie möglich zu sehen und gucken, was sich entwickelt?", fasste ich zusammen.
Shawn nickte und das Kissen raschelte. "Find ich gut. Sozusagen eine Date-Phase mit dem Ziel, unsere funktionierende Beziehung wieder zu erreichen."
"Gut, dann habe ich schon ein Date fest", sagte ich. "Alia und Lewis heiraten und wir können zusammen hingehen. Du als meine Begleitung."
"Ach, ich werde nicht offiziell eingeladen?"
"Stell diese Frage bloß Alia nicht, die will immer noch einen Gnom mit dir schleudern. Oder nach dir werfen ..."
"Wann ist denn die Hochzeit?"
"Gute Frage. Lewis muss erst aus Australien zurückkommen und Alia will nicht heiraten, wenn die Chance auf Regen besteht. Irgendwann im Juni denke ich."
"Im Juni?", rief Shawn und fuhr hoch. "Wenn wir bis dahin noch nicht wieder zusammen sind, dann bist du langsamer als ein ausgetrockneter Steeler!"
"Hey!", lachte ich, zog ihm das Kissen hinterm Rücken weg und begann, auf ihn einzuschlagen. Shawn riss den Mund auf und drückte dagegen.
"Jetzt den Frust also auch noch auf diese Weise rauslassen, ja? Hättest du wohl gerne, Bole!"
Er schnappte sich das andere Kissen und warf es nach mir. Ich wich aus und stürzte mich mit meinem Kissen zuerst auf seine Schulter. Er drehte sich, sodass ich abrutschte, mich mit einem Arm auf seinem Bein abfing und mit dem anderen an seinem Nacken festhielt.
Sofort erstarrten wir beide. Mein Gesicht war nur Zentimeter von seinem getrennt und ich konnte ihn schwer Atmen hören.
Alle in mir wehrte sich, doch ich konnte nicht anders, als nachzugeben. Ich drehte den Kopf und sah Shawn an. Im nächsten Moment spürte ich seine Lippen auf meinen. Ich drückte ihn gegen die Sofalehne, die Finger schon in seinen Haaren vergraben. Shawn zog mich näher zu sich, wenn es noch möglich war, und öffnete seinen Mund mit einem leisen Stöhnen. Unsere Zungen hegten nur kurzen Kontakt, dann stoppten wir beide wie vom Blitz getroffen. Als ich die Augen öffnete, meine Stirn an Shawns gepresst, empfing mich ein helles, freundliches Braun.
Shawns Brustkorb hob und senkte sich rapide und ich zog mich langsam zurück.
"Tschuldigung", sagte er leise. „Ich hätte das nicht ..."
"Ja, mir tut's auch leid", unterbrach ich ihn, da es nicht nur seine Schuld gewesen war. "Ist nicht gerade das, was ich unter langsam verstehe. Mein Fehler."
"Kommt nicht wieder vor."
Die eigentlich gefüllte Leere in meinem Inneren fing an verlockend zu winken.
"Nie wieder?", fragte ich deshalb neckend.
"Hättest du wohl gerne. Noch vor der Hochzeit, ich sag's dir. Länger hältst auch du als afrikanische Giftschnecke es nicht ohne mich aus."
Erleichtert, dass der unangenehme Moment vorüber war, stand ich vom Sofa auf. Nebenbei hob ich noch die beiden Kissen vom Boden auf.
Für heute Nacht würden wir den Schein noch wahren müssen, doch mir war bewusst, dass wir beide nicht lange standhalten konnten. Ich war mir sicher, noch vor Ende nächster Woche würden Situationen wie diese wieder Alltag sein, was in Ordnung war. Solange wir dabei nicht vergaßen, was wir uns vorgenommen hatten.
"Ich ... sollte jetzt nach Hause, denke ich", zwang ich mich zu sagen. Es war fast sechs Uhr morgens und ich körperlich, aber in erster Linie seelisch am Ende.
"Gute Idee, es ist spät. Wir sollten beide eine ordentliche Runde schlafen. Du kannst direkt von hier aus ..."
"Nein, ist schon gut, ich gehe so, wie es sich gehört", lehnte ich freundlich ab. Etwas frische Luft würde mir gut tun. "Nicht, dass Mr Bossom noch handfeste Beweise bekommt, wenn er mich nie wieder gehen sieht."
Shawn lachte rau. "Gut, dann bringe ich dich noch runter."
Wir schlenderten mit gesundem Abstand zur Tür. Shawn schwang sich die Jacke um und ich schlüpfte in meine Schuhe. Er hielt mir die Tür auf, ich glitt still an ihm vorbei und so leise es ging, schloss Shawn die Tür wieder.
Auf Zehenspitzen tappten wir die Treppen hinunter und ich öffnete mit aller Vorsicht die Außentür. Jetzt hielt ich sie für Shawn auf und legte sie hinter ihm zurück ins Schloss.
Gemeinsam überquerten wir die Straße bis zur gewöhnlichen Ecke, die von Sträuchern etwas Sicht bedeckter war. Die Sterne waren nach wie vor zu sehen, doch der Himmel in östlicher Richtung färbte sich langsam lichtblau.
"Tut mir leid, dass ich deine Verabredung mit Julia gechrasht habe", entschuldigte mich erneut und versuchte ein Frösteln zu unterdrücken, was mir nur mittelmäßig gelang. "Kannst du dich in meinem Namen bei ihr entschuldigen? Ich hab mich benommen wie ein Vollidiot."
"Immerhin siehst du's selbst ein."
Gegen meinen Willen musste ich grinsen. "Sag ihr, wenn sie nochmal unbedingt jemandem ein Getränk ausgeben möchte, soll sie sich bei mir melden. Ich würde sie gerne kennenlernen und meinen ersten Eindruck wettmachen."
"Glaub mir, der erste Eindruck ist schon ein wenig her und nicht schlecht verlaufen."
"Du unberechenbarer Wichtel", lachte ich und stellte mich näher an den Busch. Zitternd zog ich meinen Zauberstab und bereitete mich aufs Apparieren vor.
"Bis demnächst", lächelte Shawn mich an. Sein Atem bildete eine Nebelwolke. "Und danke. Das sage ich irgendwie viel zu selten, oder? Danke, dass du so bist wie du bist. Und danke für alles, was du tust."
"Jetzt werd' nicht sentimental", feixte ich. "Und ich mach das nicht für dich."
Shawns überraschender Blick brachte mich zum Grinsen.
"Ich mach das für uns. Ein ich gibt es jetzt nur noch, wenn es um Schokolade geht."
"Geh einfach", gluckste Shawn, "und schlaf."
"Bin ja schon weg."
Ich erhob meinen Zauberstab und sammelte meine verbleibenden Kräfte zusammen. Doch plötzlich schoss mir ein letzter Gedanke durch den Kopf, den ich völlig vergessen hatte.
"Shawn, ich arbeite ab Montag beim Propheten."
Sein Blick purzelte. "Was?! Wieso? Und was ist mit Quidditch?"
"Spiele ich noch, keine Angst. Ich erkläre es dir irgendwann in Ruhe. Aber ich habe mit Camila gesprochen ..."
"Sag mal, hast du nebenbei auch noch ein Heilmittel für Drachenpocken gefunden?"
"Ach, sei still. Jedenfalls würde sie sich freuen, wenn du dich mal wieder bei ihr meldest. Und Alia und Katie und Liv übrigens auch. Ich bin nicht die Einzige gewesen, die dich vermisst hat. Auch wenn du ein Arsch warst."
"Angekommen."
Shawn lächelte mir ein letztes Mal zu und ich hätte schwören können, wieder Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur das sich spiegelnde Licht des untergehenden Mondes – oder der bald aufgehenden Sonne. In jedem Fall, es brachte das Gefühl zurück, welches nur Shawn mir geben konnte. Ich hatte es vermisst.
ϟ ϟ ϟ
Ihr habt keine Ahnung, aber dieses Kapitel hat mir den letzten Nerv geraubt.
So viel verändert, überarbeitet, richtig ausgedrückt, gestrichen, hinzugefügt, und ungelogen so oft gelesen. Diese Stelle ist eine, die ich von den ersten Seiten an im Kopf hatte und, fun fact: der erste Entwurf, gute 5000 Wörter lang, ist schon wieder über ein Jahr alt.
But hey, shy's here again ^^
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 02.08.2020 (Sunday)
[27.07.2020]
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