Kapitel 48 ϟ Trip

Worst In Me - Julia Michaels ♪♫

Dass ich Shawn nicht brauchte, war eine sehr befreiende Erkenntnis. Es tat mir und meinem Selbstbewusstsein gut zu sehen, dass ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Ohne Freund und ohne Familie, aber dennoch glücklich.

Frei von Problemen allerdings trotzdem nicht. Die Ahnung schwebte eine ganze Zeit lang vor meinen Augen, aber bestätigte sich erst weitaus nach meiner Rückkehr aus Australien. Sie war simpel und doch so kompliziert: Ich brauchte Shawn nicht; aber ich wollte ihn.

Nach Alias und Lewis' Verlobung wurde mir klar, dass ich mich nach Shawns und meinen alten Zeiten sehnte. Die Zeiten, in denen wir noch ständig in Schwierigkeiten geraten waren. Es handelte sich nur um einen Bruchteil unserer gemeinsamen Zeit, dennoch würde ich alles dafür geben, um zurückkehren zu können. Oder uns in das Heute zu holen.

Ich vermisste Shawn. Auf eine andere Weise als in Hogwarts oder Uagadou oder wenn ich allein in der Wohnung am Tisch saß. Ich vermisste Shawn. Seine Persönlichkeit, den Jungen, in den ich mich verliebt hatte. Und dafür hasste ich mich.

Es war nicht fair, an dem Jungen Shawn festzuhalten. Er war jetzt ein junger Mann und ich eine junge Frau, auch wenn ich mich immer noch so fühlte wie mit sechszehn. Wir beide hatten uns weiterentwickelt - nur nicht gemeinsam.

Und ob ich den jungen Mann genauso mochte wie den Teenager, konnte ich nicht sagen. Nur, dass ich ihn noch genauso liebte. Obwohl er irgendwie mein Vertrauen gebrochen hatte - schon wieder.

Ich verstand, dass er die ganzen Neuerungen eine Zeit lang für sich behalten wollte, um sich dran zu gewöhnen, und auch, dass er es mir verschwiegen hatte, denn ja. Ich hätte versucht, ihn davon abzuhalten. Mit allen Mitteln. Nur vor die Wahl gestellt hätte ich ihn nie, denn sowas hieß ich nicht gut.

Und dennoch war eine Art Entscheidung dabei herausgekommen, die wir nun beiden treffen mussten. Shawn hatte mir vielleicht Einiges verschweigen, aber hatte er mich jemals angelogen? Ich kam mir so vor, aber handelte es sich um die Wahrheit? Stand dich im Recht? Immer häufiger ertappte ich mich dabei, wie ich in ruhigen Momenten Argumente für beide Seiten fand. 

An Tagen, an denen ich mich trotz der anderen einsam fühlte, redete ich mir ein, überzureagieren und dass ich mir meine Gefühle nicht einbildete. Dass ich auch für den jungen Mann noch so viel empfand.

An anderen Tagen jedoch, wenn wir vom Tauchen zurückkehrten oder faul im Gras lagen und Sternschnuppen zählten, spürte ich das Verlangen, mich von Shawn zu trennen. Lieber Schmerz für einen kurzen Zeitraum zu spüren als für immer.

Angelogen oder nicht, er hatte Worte gesagt, Dinge getan, die nicht entschuldigt werden konnten. Rage hin oder her. Ja, ich wollte eine Person wie Shawn an meiner Seite. Aber wer behauptete, dass nicht auch andere Männer mir dasselbe geben konnten?

Shawn und ich waren seit der Schulzeit zusammen und ich hatte vor allen möglichen Verehrern die Augen verschlossen. Ich wollte niemand anderen als Shawn. Aber jetzt ... Wenn Shawn mich nicht brauchte, wieso hielt ich an ihm fest?

Weil du immer noch Hoffnung hast, flüsterte mir eine kleine Stimme aus meiner Brust zu. Hoffnung, dass er immer noch irgendwo da drin ist und alles so werden kann, wie es mal war.

Ich ging mir selbst tierisch auf die Nerven. Wenigstens dachte ich nur in den ruhigen Momenten an Shawn, nicht wenn ich gerade Quidditch spielte oder anderweitig beschäftigt war. Das bestätigte mir, die richtige Entscheidung getroffen und hergekommen zu sein.

Mein Urlaub wurde außerdem von vielen meiner Mitspieler beneidet, vor allem aus dem Nationalteam. Die Arrows hatten mir die letzten Wochen frei gegeben, da nun ohnehin erst mal die Winterpause herrschte, und die Nationalmannschaft sah es als die perfekte Möglichkeit, schon mal Commonwealth-Meisterschaft-Luft zu schnuppern. 

Ich musste zwar einen vier Seiten langen Bericht schreiben, aber für die genehmigten drei Wochen Urlaub, die das Management als Arbeitszeit sah, wurde ich sogar bezahlt. Den ganzen Tag tauchen, surfen und Quidditch spielen für ein gesamtes Monatsgehalt - was wollte man mehr?

Thomas Macdonald, unser Sucher, der sich regelmäßig über mich lustig gemacht hatte, nahm seine Worte wieder auf, fügte ihnen aber eine kleine Abwandlung hinzu. Ich hieß jetzt "verschwundene Hoffnung". Man merkte eindeutig, dass er gerne für den Job bezahlt worden wäre, aber vier Wochen mit mir zusammen hier zu verbringen und an dem Bericht zu arbeiten wollte er auch nicht.

Aspen Hitchens dagegen, eine unserer zwei Treiber und eine mittlerweile gute Freundin, drohte Thomas damit, ihm den Klatscher an den Kopf zu spielen. Sie wäre gern mitgekommen, konnte aber aufgrund ihrer pflegebedürftigen Mutter nicht so unmittelbar verreisen. Auch sonst hatte keiner aus dem Team Zeit (oder Lust) auf die spontane Reise, was mich zugegeben freute.

So musste ich wenigstens niemandem erklären, wieso ich wirklich "abgehauen" war, wie Thomas es bezeichnete. Sollte der Tag kommen, an dem er herausfand, wie recht er eigentlich hatte, würde er mein letzter in der Nationalmannschaft werden. Womöglich würde ich vor Scham wieder hier her nach Australien kommen, mich vergraben und nie mehr zurückkehren.

Jace reiste bereits am Neujahrestag ab und Olivia und mir blieb noch knapp eine Woche. Wir versuchten, Alia und Lewis so viel Zeit wie möglich zu lassen, weswegen wir für die letzten Nächte ein Hostel bezogen. Freitagmorgen herrschte die altbekannte Affenhitze, weswegen wir zuerst überlegten, nur schwimmen zu gehen und zu faulenzen.

Im letzten Moment entschieden wir uns dann doch, surfen zu gehen. Allerdings wollten wir eine neue Bucht ausprobieren und liehen uns kurzerhand einen Truck aus. Olivia hatte es neben der Heiler-Ausbildung irgendwie geschafft, auch noch ihren Führerschein zu machen. Wie sie das alles auf die Reihe bekam, war mir ein Rätsel.

Nach einem späten Frühstück (Lewis hatte schon vor Stunden das Haus verlassen) luden wir unsere Surfbretter auf die Ladefläche des Pick-up Trucks und zogen unsere Bikinis unter die sommerlichen Klamotten. Dann verstauten wir Handtücher, Essen und Ersatzkleidung hinter den Sitzen, quetschten uns zu dritt auf die Bank, drehten das Radio voll auf und fuhren mit der Sonne Richtung Westen.

Gute zwei Stunden und mehrfache Streitereien über das korrekte Lesen der Karte später waren wir an der Bucht angelangt. Sie war leer, die Sonne brannte auf den Sand und die Wellen türmten sich, denn der kühlende Wind kannte trotz des schönen Wetters keine Gnade. Es war perfekt.

Wir surften ein paar Runden, schwammen und sonnten uns ein wenig und aßen so ziemlich das gesamte Picknick auf. Olivia schoss gerade ein paar Bilder, Alia lächelte mal wieder ihren Verlobungsring an (was keiner ihr verübeln konnte) und ich vergrub meine Füße im hellen feinen Sand, als hinter ein paar Dünen ein kleiner schwarzer Punkt auftauchte. Er wuchs mit rasanter Geschwindigkeit und schnell wurde mir klar, dass es sich um eine Eule handeln musste. Als sie über uns kreiste und schließlich tiefer sank, schlug mein Herz bis zum Hals. Eine Nachricht von Shawn?

Olivia lief zurück zu uns und Alia hörte auf, das Licht in dem kleinen Diamanten an ihrem Ring zu brechen.

"Für wen ist die Post?", fragte Liv neugierig.

"Keine Ahnung", sagte ich ruhig, doch mein Puls ließ mich fast durchdrehen. "Vielleicht eine Nachricht von Lewis?" 

Alia griff nach dem Umschlag und schüttelte fast etwas enttäuscht den Kopf. "Ist für Kassy", sagte sie und warf mir den Brief zu. Aufgeregt drehte ich ihn um und starrte auf die Adresse:

Kassy, irgendwo in Australien, vermutlich am Meer

Selbst ohne die kraklige Schrift hätte ich sofort sagen können, wer der Adressat war. Ich versuchte mich zu freuen, doch es half nichts - Enttäuschung durchflutete mich wie die Wellen Liv, als sie vorhin ins Wasser gefallen ist.

Wieso wollte ich unbedingt von Shawn hören? Ich sollte froh sein, dass er anscheinend wirklich nachdachte und nicht einfach eine Entschuldigung schickte. Ich war froh. Auch wenn über mittlerweile drei Wochen - nein, ich war froh.

"Ist nur von Saiph", ließ ich die anderen beiden wissen und öffnete den Brief, während Liv ein paar der hohen Wellen ablichtete und Lil nun zu ihrem Buch griff.

Zugegeben schaffte Saiph es ziemlich gut, von Shawn abzulenken. Ich fragte mich, was sie Wichtiges von mir wollte, dass sie mir einen Brief um die halbe Welt schickte. Allein Aaliyahs Antwort zurück nach Kanada zu schicken hatte mich ein halbes Vermögen gekostet (Flash war beleidigt und müde gewesen, weshalb ich eine andere Eule schickten musste) und Saiph gab bestimmt kein Geld für Briefe aus.

Die von Aufregung hervorgerufene Übelkeit unterdrückend begann ich den Brief zu lesen. Er war nicht besonders lang, doch für Saiphs übliche Antworten doch relativ beachtlich.

Meine Augen flogen über die Zeilen und mit jedem Satz verkrampfte sich mein Magen mehr. Am Ende angelangt hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Musste nach all meinen Problemen mir Shawn nun auch noch dieses wieder auftauchen?

Ich las mir das Geschriebene noch zwei Mal durch, doch der Inhalt veränderte sich nicht. Mittlerweile konnte ich schwören, dass da ein Knoten in meinem Magen sein musste. Ganz langsam kroch Unbehagen durch meinen Körper.

Ich würde antworten müssen. Es führte kein Weg daran vorbei, sich mit der Sache auseinanderzusetzen. Meine Schultern zogen sich hoch und ich umschlang meine Knie. Ewig nicht hatte etwas dieses Gefühl in mir ausgelöst; das Gefühl, das ich so sehr hasste. Angst, Unwohlsein, das, was ich früher als "das komische Gefühl" bezeichnet hatte: meine persönliche Art der Panik.

Alia und Olivia bekamen glücklicherweise nichts davon mit, sie hatten Zauber Schnipp Schnapp ausgepackt und es sich zur Herausforderung gemacht, ein Kartenhaus zu bauen - trotz des Windes und dem sandigen Grund. Ich hörte es seit circa fünf Minuten ununterbrochen knallen.

Ich wollte den Brief am liebsten direkt verbrennen, doch die Panik hielt mich an meinem Platz. Meine Füße gruben sich immer tiefer in den Sand, meine Zehen waren schon ganz wund und kalt. Ohne es zu wollen, warf ich einen erneuten Blick auf Saiphs ungleichmäßige Schrift.

Hallo Kassy! 

Ich hoffe du hast eine schöne Zeit in Australien. Sorry das ich störe aber ich dachte du willst es vielleicht wissen. Ich hab mit Mum und Dad gesprochen oder eher Mum hat mit Dad gesprochen aber ich hab vorher mit Mum gesprochen. Und Mum sagt das Dad sagt das es ihm leid tut. Alles. Irgend wie. Aber Mum hat sich noch bedankt für den Brief den du ihr geschrieben hast. Und jetzt wollen Mum und Dad sich mit dir treffen. Also Mum will erstmal und Dad dann auch bald glaub ich zumindestens. Mum hat gesagt ich soll dir schreiben das sie wieder Kontakt aufnehmen wollen und das Dad hofft das du antwortest und ihr euch bald meeten könnt. Ja, das war auch alles was Mum mir gesagt hat was ich dir schreiben sollte.

Aber ich will die noch was sagen also nur ich. Ich würde mich echt freuen wenn du ja sagst. Zu dem Treffen meine ich jetzt. Ich glaube Dad tut es wirklich leid auch wenn er nie über dich redet. Außerdem ist es ohne dich auf allen Familienfeiern total lame (noch mehr als so schon). Ich musste mich Weihnachten mit Flitwick unterhalten und er wollte wissen wie es dir geht. Konnte ihm kaum was sagen weil du ja gar nicht mehr hier bis aber das hab ich ihm natürlich nicht gesagt. Falls er fragt: ich hab einfach nur 'gut' gesagt und so. Ein bisschen, was du in Uagadou gemacht hast weil geschrieben hast du ja. Er hat auch gesagt er geht bald in Ruhestand (nicht zu mir aber hab ich gehört als er es Elay erzählt hat). Dachte dass interresiert dich vielleicht.

Also, meine Hand tut langsam weh. Ich weiß nicht was das zwischen Mum, dir und Dad ist aber ich bin ja nicht blöd. Hab schon gecheckt dass ihr mir was verheimlicht. Aber was auch immer das ist du musst das klären. Bitte. Ich vermisse dich wirklich. Bitte antworte Mum. Ich bin jetzt ja wieder in Hogwarts aber du weißt ja wo unser Haus ist. Im gegensatz zu gewissen Anderen (du) wandern wir nicht in der Welt Geschichte rum. Hoffe du hast trotz dem Spaß. Freu mich dich bald wieder zu sehen. Bring mir was schönes mit.

Saiph xxx
(was du bestimmt schon längst weißt aber ich dachte mir ist besser das einfach noch mal zu schreiben, ist höflicher)

Wieso jetzt? Was war passiert, dass Dad ausgerechnet jetzt beschlossen hatte, mich wieder in sein Leben aufzunehmen? Hatte er Wind von der Sache mit Shawn bekommen?

Ich bezweifelte ehrlich gesagt, dass es außer Olivia, Alia, Lewis und logischerweise Shawn irgendjemand wusste. Und meinen Freunden vertraute ich. Sie hatten nicht mal die Chance gehabt, es zu verbreiten. Shawn hatte sicher nichts erzählt - wem auch. Also, woher wusste Dad es?

Wenn er es überhaupt wusste - vielleicht wollte er auch was anderes? Shawns Stimme hallte in meinen Ohren: Mach dir nicht so viele Gedanken. Vermutlich stimmte das und ich suchte wieder nach einem Haken, wo keiner war.

Aber was sollte ich Mum antworten? Sie hat mir auf keinen einzigen Brief geantwortet, den ich ihr in den letzten zwei Jahren geschrieben hatte. Wollte ich den Kontakt wieder herstellen?

Allein, dass du es in Betracht ziehst, sollte dir die Antwort geben, erwischte ich mich denken.

Ja, verdammt. Schon bei dem ersten Mal lesen hatte ich gewusst, was ich Mum antworten würde. Ich hatte nur von mir erwartet, ablehnend zu reagieren. Dad hatte einige schlimme Dinge getan, die ich ihm auch nicht so schnell verzeihen würde, aber wie auch Foxie und Ivana hatte er mich zu dem gemacht, was ich heute war: stärker, als ich es mir selbst zutraute.

Und nach allem, vielleicht gerade wegen allem, was passiert war, sehnte ich mich nach meiner Familie. Ich mochte Dad nicht und das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern, aber ich liebte ihn. Und seinetwegen würde ich nicht den Kontakt zu den Menschen abbrechen, die ich trotz ihrer verkorksten Art gerne um mich hatte.

Ich hatte seit mehr als vier Jahren nicht mehr mit Elay gesprochen und auch Evan, der mir früher so nah stand wie ein Bruder, war an den Rand meines Kreises gerutscht. Das Einzige, was ich über ihn wusste, war, dass er bei Gringotts arbeitete. Mir war klar, auch hier könnte nichts mehr so ein, wie es mal war - aber wer behauptete, dass es nicht besser werden konnte?

Shawns Brief erreichte mich drei Tage später, kurz vor unserem Abreisetag. Nun ja, Brief konnte man den kleinen Pergamentschnipsel nicht nennen. 

Bin groß geworden. Würde gern reden.

Ich bezweifelte, dass die knappe Wortwahl mit den Eulenkosten zusammenhing. Doch ich konnte nicht bestreiten, dass ich mich über den Papierfetzen freute. Shawn war sichtlich angepisst, nahm mich allerdings anscheinend endlich für voll.

Ich spürte, dass er mich mit seinen Worten nicht verspotten wollte, dafür war die Situation zu ernst. Er hatte sich wirklich Gedanken gemacht und schien nach all der Zeit endlich bereit, mir zuzuhören.

An unserem letzten Abend rösteten wir Marshmallows über einem Lagerfeuer, welches wir am Strand entfacht hatten. Die Gegend hier war überwiegend von Zauberern bewohnt, die alle am nächsten Tag zur Arbeit mussten, sodass wir irgendwann als Letzte am Strand zurückblieben.

Da auch Lewis am nächsten Morgen früh raus musste, verabschiedete er sich um kurz vor Mitternacht. Bei Alia nur kurz (sie hatte kurzfristig entschieden, noch zehn Tage länger zu bleiben) und bei Olivia und mir ausgiebig.

Wir drei redeten über Merlin und die Welt, unter anderem auch über Alias Kinderplanung, Olivias bevorstehenden Umzug und meine Entscheidung, den Kontakt zu meinen Eltern wieder aufzunehmen.

Gegen zwei Uhr morgens war das Feuer niedergebrannt und wir starrten wie so oft auf dem Rücken liegend in den Sternenhimmel. Heute entdeckten wir keine einzige Sternschnuppe.

"Wisst ihr, was ich komisch finde?", sagte Alia nach einer Weile in die Stille hinein. Sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort auf ihre rhetorische Frage. "Seit ich kein Astronomie mehr hab, schau ich total gerne in die Sterne."

"Das findest du komisch?", grinste Liv.

Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass mich keiner richtig sehen konnte. "Ich aber auch. Vor allem nach dem Unterricht in Uagadou."

"Mhm", stimmte Alia mir zu und gähnte.

"Ich hab schon immer gern in die Sterne geguckt", gestand Olivia.

"Du bist ja auch ein Streber", antworteten Alia und ich gleichzeitig, was uns alle zum Lachen brachte.

Eine Weile herrschte Stille, dann lag es an mir, sie zu durchbrechen: "Es ist schade, dass wir heute keine Sternschnuppe gesehen haben." Ich streckte einen Finger in die Luft und zeichnete die unsichtbaren Linien zwischen Kassiopeias fünf Sternen nach. "Ich hätte eine gebrauchen können."

In diesem Moment hob Olivia ihren Zauberstab in die Luft wie ich meinen Finger. Aus der Spitze schoss ein helles Leuchten, welches als feiner Schleier in den Nachthimmel geschickt wurde.

Es gab nicht viele Momenten im Leben, an denen man innehielt und sagte: Das ist es.
Dies jedoch war einer. Und ich würde mich bis ans Ende meines Lebens daran erinnern.

"Was war das?", fragte Alia ehrfürchtig.

"Es ist zwar keine echte, aber immerhin besser als nichts."

Kurz darauf flog ein heller Strahl an den vielen Sternen vorbei und verglühte mit einem Wimpernschlag.

"Wie hast du das gemacht?", hauchte ich leise.

"Sag ich nicht, Strebergeheimnis."

Diesmal lachte keiner. Ich griff nach Olivias rechter und Alias linker Hand und drückte beide sanft. Dann schloss ich meine Augen und formulierte stumm meinen Wunsch: Lass diesen Moment unendlich ein.

Ich wusste, dass die Unendlichkeit schon mit dem Öffnen meiner Augen aufhören würde. Dennoch lächelte ich. Dieser Moment würde vielleicht nicht unendlich sein, aber dafür die Erinnerung.

***

Als ich an die Tür klopfte, hatte ich nicht erwartet, dass sie tatsächlich geöffnet werden würde. Vor allem nicht so schnell. Hatte Shawn vor ihr geschlafen?

"Wieso klingelst du nicht?"

Weil ich dachte, dass du eh nicht da bist. Weil ich gehofft habe, dass du es vielleicht nicht gehört hast, damit ich mit guter Ausrede wieder gehen kann und dir nicht begegnen muss. Weil ich das Geräusch der Klingel schon immer gehasst habe.

Ich entschied mich, nichts davon zu sagen und direkt zur Sache zu kommen.

"Ich wollte meine Sachen holen", erklärte ich trocken und wollte schon an Shawn vorbeigehen, hielt mich aber im letzten Moment zurück. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich auszog und gleichzeitig die Wohnung betreten, als gehöre sie mir.

"Komm rein."

Shawn trat zur Seite und ich lief langsam, aber mit erhobenem Kinn an ihm vorbei.

"Wie läuft es bei der Arbeit?", fragte ich, während ich aufs Schlafzimmer zusteuerte und die angelehnte Tür aufstieß. 

"Ach, alles etwas durcheinander. Sämtliche Missionen wurden fürs Erste verschoben. Wir versuchen jetzt erst mal die Schuldigen des Anschlags zu finden. Wie war Australien?"

Ich hasste Smalltalk.

"Gut", antwortete ich. "Es war warm, wir waren viel am Strand, hat Spaß gemacht."

Dies schien mir eine angebrachte Antwort zu sein; so untertrieben wir beide maßlos.

Ich schwang meinen Zauberstab und der Reiserucksack von Uagadou schoss aus dem Schrank. Ein weiterer Wink und meine gesamten Klamotten verstauten sich selbst. Ich war zugegeben etwas überrascht. Shawn hatte meine Sachen nicht angerührt - er wollte mich wohl entgegen meiner Erwartungen nicht rausschmeißen.

"Wo gehst du jetzt hin?"

Vorbei mit dem Smalltalk.

"Ich komme erst mal bei Teddy unter. Tori geht für nicht absehbare Zeit nach New York, von der Arbeit aus."

Die letzten Pullover legten sich zusammen und ich verlegte meinen Standort ins Bad.

"Wie war dein Weihnachten?"

Ich hasste es auch, so kalt mit Shawn zu sprechen. Als wäre er Melody oder mein Dad. Dabei war er nie wie sie gewesen.

"Hab viel gearbeitet", gestand er.

Ich versuchte, nicht in Panik auszubrechen und zwang mich, entspannt zu wirken. Shawn stand auf der Linie zwischen Küche und Wohnzimmer (ich hatte die Entfernung mal ausgemessen) und sah mir dabei zu, wie ich alle meine Gegenstände aus unserem Zuhause entfernte.

Er wusste genau, wie unangenehm mir das war. Dieser kleine Wichtel konnte sich nicht mal setzen, er stand da mit Absicht.

Gut, was er konnte, konnte ich schon lange.

In den letzten Jahren war ich gewachsen, nicht nur körperlich. Ich ließ mich nicht mehr einschüchtern. Schon gar nicht von Shawns Aktionen, die mich nervös machen sollten.

Gelassen stolzierte ich an ihm vorbei und lehnte mich gegen die Arbeitsfläche neben der Spüle. Teilnahmslos ließ ich meine Tassen aus dem Schrank fliegen und sie mit einem Polsterungszauber in meinen kleinen Rucksack springen.

"Wie geht es Alia und Lewis?"

Shawn rührte sich nicht von der Stelle. Seine Stimme - noch so kalt - und allgemein alles an ihm löste Verlangen in mir aus. Das Schlimmste war der Geruch. Alles hier roch nach Shawn. Nach Zuhause. Aber ich würde jetzt nicht schwach werden.

"Sie haben sich verlobt."

Falls Shawn sich freute oder überrascht war, zeigte er es nicht. Eigentlich wollte ich nicht pingelig sein, aber er stand immer noch da, weswegen ich kurzer Hand meinen Pfefferminztee aus dem Schrank holte und ebenfalls einpackte. Von Hand.

Gemächlich schlenderte ich zurück in die Mitte der Wohnung und ließ nun alle übrigen Gegenstände in den großen Rucksack schweben, der sich zu meinen Füßen niederließ. Bilder, Pflanzen, Deko, eine einzelne Socke (hinter dem Fernseher, ich hätte es wissen müssen), Bücher, Flashs Käfig und ein paar Schuhe - alles sammelte sich lautlos an.

Shawn, nun die Arme verschränkt, rührte sich nicht. Obwohl ich nicht wollte, musste ich noch eine Sache ansprechen. Ich versuchte einen möglichst neutralen Ton anzuschlagen: "Wenn du die Wohnung alleine nicht halten kannst, kann ich dir die Miete überweisen."

Damit hatte Shawn wohl nicht gerechnet, denn endlich zeigte er Regung. Sein rechtes Auge zuckte leicht und sein Oberkörper spannte sich an. Unglaublich sexy.

Nicht. Jetzt. Kassy.

"Wenn ich dir noch irgendwie Geld schulde, sag Bescheid."

"Geld interessiert mich nicht, Kassy. Davon hab ich genug."

Seine Stimme war leise und weich, aber dennoch bedrohlich. Und ein kleines bisschen flehend. Wie das möglich sein konnte, wusste ich auch nicht. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein.

"Du trägst die Kette nicht mehr."

Jetzt klang er verbittert. Den Tränen nahe. Enttäuscht. Automatisch schnellte meine linke Hand zu meinem Hals. Eine Bewegung, die in der letzten Zeit häufig in Leere endete. Seit Shawn mit die Kette damals umgelegt hatte, war der Verschluss nicht mehr angefasst worden. Fast fünf Jahre. Ein anderes Leben.

Shawns Gesicht sagte Schmerz aus. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, es nicht zu tun, doch mir wurde klar, dass es nicht half, Shawn leiden zu sehen. Ich hatte gedacht, es verschaffte mir ein wenig Genugtuung, doch dem war nicht so. Genaugenommen fühlte ich mich beschissen.

Immerhin trug ich mit Schuld an seinem Leid, irgendwie. Außerdem tat es weh, ihn so zu sehen. Weil ich ihn immer noch liebte. Verdammt. 

Ich hatte mir wirklich vorgenommen, es nicht zu tun. Mir war klar gewesen, dass es ihm sofort auffallen würde. Ihn genau dies erst mal nicht wissen zu lassen. Ihm nicht zu sagen, dass ich nicht wollte, dass es vorbei war.

Dennoch zog ich das rechte Hosenbein meiner Jeans etwas nach oben und präsentierte die Kette, die zweimal umgewickelt sicher an meinem Fußgelenk lag.

"Ich musste sie abnehmen", erklärte ich mit trockenem Hals. "Das Surfen und Tauchen mit wäre mit ihr um den Hals zu gefährlich gewesen."

Der letzte Gegenstand, eine kleine Holzeule (Alias Geschenk zu meinem zwanzigsten Geburtstag) verschwand im Rucksack, welcher sich nun von selbst schloss. Die Wohnung wirkte leer.

"Australien hört sich nach einer Menge Spaß an." Das erste Mal deutete Shawn so etwas wie ein Lächeln an. Ich sah zu Boden.

"Das war es auch." Aber nicht so spaßig wie es hätte sein können, wenn du dabei gewesen wärst. Wenn du nicht der Grund gewesen wärst.

Ich brauchte es nicht auszusprechen, der Satz hing zwischen den dreieinhalb Metern zwischen uns. Shawn suchte meinen Blick und als ich wieder aufsah, tapte ich direkt in seine Falle. Das konnte er schon immer gut.

Er schaute mich an und sein Blick antwortete: Ich weiß. Und es tut mir leid, dass wir nicht gemeinsam dort waren. Es tut mir leid.

Doch er sagte nichts.

Ich schulterte den großen Reiserucksack und schluckte. Shawn räusperte sich. Mein Kopf schnellte hoch und ich hätte schwören können, dass er mir nun näher war. Mindestens einen halben Meter.

"Kassy, ich würde gern reden."

"Nein", antwortete ich sofort und trat einen Schritt zurück. "Nicht ... noch nicht." Ich sah weg. "Ich weiß, ich hab gesagt du sollst dich melden, aber ..."

Du bist so kalt und hast dich nicht entschuldigt und das hier ist viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte.

"Okay."

Was?

Nur meine Augen bewegten sich langsam Richtung Shawn, meinen Kopf hielt ich zur Seite gerichtet.

"Okay?", wiederholte ich leise.

Shawn nickte. "Ich bin nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Ich kann dir nur sagen, dass es mir wirklich leid tut."

"Das ist es nicht ..."

"Und du brauchst Zeit."

Meine Zähne machten sich an meiner Unterlippe zu schaffen. Diese Geste verriet mich sofort.

"Ich versteh das. Ich hab Mist gebaut, schon klar. Aber du bist noch nicht fertig mit mir. Wofür ich dir ... übrigens sehr dankbar bin. Trotzdem brauchst du Zeit, weil das alles viel schwieriger ist, als du gedacht hättest. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich bin jederzeit bereit zu reden. Du hast ja meine Nummer. Melde dich einfach, wenn du soweit bist."

Ich musste zugeben, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber es gab mir Hoffnung. Denn da sprach der Junge wieder, nicht der beschäftigte junge Mann.

Shawn war noch da. Verdammt.

***

Ich bemühte mich wirklich, Shawn aus meinen Gedanken zu verbannen, doch es gelang mir nicht. Anders als in Australien allerdings lenkte es mich spürbar ab.

Mit all meinen Sachen war ich zu Teddy und Tori gereist und saß nun am Esstisch. Tori hatte Fleyara, Teddy hatte Izzy und Kieran eingeladen und wir hielten das Abendessen ab, von welchem Teddy eine gefühlte Ewigkeit geredet hatte.

Mir gefiel es ausgesprochen gut, dass er nicht nur redete, sondern tatsächlich auch handelte und alles so schnell organisiert hatte.

Für die drei anderen Gäste war ich eine von ihnen; dass Shawn nicht kommen konnte, schob ich auf die Arbeit. Keiner ahnte, was sich im umfunktionierten Büro befand. Dass der Schreibtisch nun im Schlafzimmer stand und sich an dessen Stelle eine Matratze befand.

Teddy bestand darauf, dass ich bei ihm unterkam. Da Tori nach New York versetzt wurde, zumindest für die nächsten zehn Wochen, hatte Teddy die beiden ausschlaggebenden Argumente auf seiner Seite: Er hatte Platz und brauchte jemanden, der ihn bekochte.

Über die Miete hatten wir uns fast duelliert, konnten uns aber darauf einigen, dass ich die Hälfte der Strom- und Wasserkosten übernahm. Von Kaltmiete und Essensgeld wollte Teddy nichts hören.

Zu Beginn ließ meine Konzentration mich noch ein wenig an dem Tischgespräch teilhaben. Ich erzählte von Sydney und Henry - das ständige On und Off hatte noch immer kein Ende gefunden. Der einzige Unterschied waren die nun deutlich längeren Phasen. Sydney spielte nach wie vor Quidditch in den USA und verbrachte die meiste Zeit dort. Wenn sie und Henry also wieder was miteinander anfingen, dann in einer Fernbeziehung.

Denn Henry kam nicht von der Stelle. Gefangen in London meldete er sich nicht mal. Alles, was ich (wohlgemerkt von Katie) wusste, war dass er sich nach dem wiederholten Abschluss für eine Stelle im Besenregulations-Kontrollamt und in der Flohnetzwerkaufsicht beworben hatte, jedoch abgelehnt worden war und deswegen einen Job in der Winkelgasse angenommen hatte, um es im folgenden Jahr erneut zu versuchen.

Soweit ich mich auf dem neusten Stand befand, arbeitete er immer noch dort.

Izzy und ich unterhielten uns irgendwann über Saiph und Izzys Schwester Isla, die sich wohl neulich zum hundertsten Mal verkracht und wieder vertragen hatten. Durch das Thema Hogwarts driftenden meine Gedanken bereits zu Shawn.

Mit dem Dessert vor meiner Nase und Fleyara, die von einer Weihnachtsfeier erzählte, auf der Katie wohl heftig mit Nate Kennedy geflirtet haben soll (und das nicht ganz nüchtern) - was Katie mit keinem Wort erzählt hatte -, schaltete ich endgültig ab.

Mit fielen so viele Pro- und Kontraargumente ein, dass ich sie nicht an zwei Händen abzählen konnte, doch sie interessierten mich nicht. Ich war Shawn immer noch wichtig. Natürlich war ich ihm nie unwichtig gewesen, oder? Er hatte nur Dinge anders gesagt, als er sie meinte, das wussten wir beide ... oder?

Es fühlte sich an, als würde ich versuchen, mit dem weißesten Sand am Strand eine Burg zu bauen. Ich schob die Körner immer wieder zurecht, doch jedes Mal rieselten sie sofort auseinander. Ich wollte etwas bauen aus einem Material, welches nicht geeignet war. Wenn ich doch nur etwas Wasser hätte ... oder gleich anderen Sand.

Ich wollte die Sache mit Shawn reparieren, weil ich all unsere guten Zeiten vermisste und mich nach seinen verliebten Blicken, Berührungen, Küssen sehnte. Nach der Person, die mich so gut kannte und fähig war, mich wirklich zu beschützen und glücklich zu machen. Und nach dem Gefühl, ihm genau dies zurückzugeben.

Aber wollte ich wirklich Shawn? Oder einfach nur die Erinnerungen, die Emotionen, die Nähe? Hatte ich so viel Angst vor dem Alleinsein, dass ich ihm erneut verzeihen wollte? Oder reagierte ich völlig über und schuf Drama dort, wo jede andere Beziehung drüber hinwegsehen würde?

Es war lächerlich - er hatte mich nicht geschlagen oder betrogen oder bedrängt. Er hatte mich nur verletzt, wegen einer Sache, die ihm wichtig war.

Vielleicht war ich doch selbst schuld. Reagierte wirklich über. Machte alles kaputt, weil das Dunkelste in mir es nicht anders kannte. Wie das Dunkelste auch Shawns schlimmste Seite hervorholte und wir unter all dem Schlechtem den Fokus auf das Beste verloren.

Weil wir so perfekt füreinander waren, dass wir uns gegenseitig triggerten und auf Probleme auf dieselbe Weise reagierten: falsch.

ϟ           ϟ            ϟ

So much has changed! (Again hehe)

Wie hat euch Australien gefallen (da kriegt man echt Urlaubsneid, oder?)

Kassy wohnt jetzt bei Teddy und ich muss zugeben, ich liebe diese Vorstellung.

Was geht in eurem Leben so? Ich sollte lernen, bin aber die ganze Zeit nur am Lesen und Schreiben und suchte seit Neustem Queer Eye. Welcome to my life.

Bis demnächst, Amelie :)

Next Update ⥋ 21.07.2020 (Tuesday)

[15.07.2020]

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