Kapitel 46 ϟ Pain
Choke - OneRepublic ♪♫
Es waren nicht die vertrockneten Blätter auf dem Boden, die mir klar werden ließen, dass der Sommer entschieden hatte, mich erneut zu betrügen, sondern der eiskalte Wind, der mir mit voller Kraft um die Ohren pfiff.
Während ich am Piccadilly Circus den hupenden Autos auswich, versuchte ich mich auf Saiphs Brief zu konzentrieren, den ich heute Morgen nur zusammen mit dem Tagespropheten geschnappt und in meiner Trainingstasche verstaut hatte.
Vor drei Tagen hatte das neue Schuljahr in Hogwarts begonnen und Saiph schien jetzt schon mit ihren Kursen überfordert zu sein - zumindest schloss ich aus ihrem "Alle haben immer gesagt das 7. Jahr ist das einfachste aber das stimmt so voll nicht!".
Schmunzelnd blätterte ich auf die zweite Seite und versuchte, ihre Rechtschreibfehler und nicht vorhandene Zeichensetzung zu ignorieren. Nach den Geburtstagsglückwünschen und den Beschwerden folgte eine für mich neue Information, die mich sowohl positiv als auch negativ überraschte:
Obwohl England im Viertelfinale der Quidditch-WM gegen Norwegen ausgeschieden war, wollten wohl plötzlich alle von Saiph wissen, wie es mir ging und ein Autogramm meinerseits aus ihr heraus kitzeln. Ein wenig tat sie mir leid, doch ich wusste, dass sie sich nicht auf sowas einlassen würde (was ich auch auf gar keinen Fall wollte) und ihre echten Freunde zu ihr hielten, zu denen Skye Khan glücklicher Weise nicht mehr zählte. Aber Izzys kleine Schwester Isla zum Beispiel hatte beim Achtelfinale, zu dem ich die beiden eingeladen hatte, einen netten und vernünftigen Eindruck auf mich gemacht.
Ich überquerte die Straße und folgte der Picadilly. Der Brief neigte sich dem Ende zu - was man deutlich merkte, da Saiphs Handschrift mit jedem Buchstaben noch unleserlicher wurde - und ich erreichte den Teil, in dem meine Schwester sich mit grausamer Grammatik für das beigelegte Geschenk rechtfertigte.
Eigentlich hatte ich ihr verboten, mir was zu schenken, aber so wie immer brach Saiph jede Regel, die man ihr aufzwang.
Angelangt bei der Buchhandlung, in der Alia nach wie vor arbeitete, machte ich mich an den Aufstieg der Treppen. Der Fahrstuhl enthielt zu viel Muggelmagie, ich vertraute ihm nicht. Noch Fit vom Training und deswegen kein bisschen außer Atem hielt ich in der zweiten Etage nach meiner besten Freundin Ausschau.
Ich steckte Saiphs Brief weg und entdeckte Alia kurz darauf an der Kasse, an der sie allerhand zu tun hatte. Irgendein neues Buch war am Ersten dieses Monates erschienen und halb London wollte es nun lesen, was man deutlich an der Länge der Schlange erkannte.
"Kassy!", rief Alia, als auch sie mich sah, und winkte mich zu sich.
Ich passierte die Menschenmasse und musste mir zwei Beleidigungen anhören, weil ich für eine Vordränglerin gehalten wurde.
"Ich helfe noch kurz beim Ansturm hier", erklärte sie und wickelte das ihr von ihrer Kollegin weitergereichte Buch etwas unbeholfen in Geschenkpapier ein. "Adley sollte eigentlich schon längst hier sein."
"Alia, nicht so viel quatschen, mehr einpacken!", meckerte ihre Kollegin.
Alia verdrehte die Augen und holte Luft, um etwas zu erwidern, entschied sich im letzten Moment jedoch dagegen.
"Ist schon gut, mach ganz in Ruhe, wir haben ja Zeit", lächelte ich und hängte meine Tasche auf die andere Schulterseite. "Ich warte dort hinten."
"Ist gut! Bitteschön, einen schönen Tag noch! Bin gleich soweit, Kas. Adley! Endlich!"
Ich lächelte, wich Adley aus, die schnell hinten verschwand, um ihre Sachen abzulegen, und suchte mir einen freien Sessel in einer Ecke.
Da ich mich in der Abteilung für ungarische Historie befand, war der einzige Kunde umfassend vor den Regalen vertieft und ich konnte ohne Bedenken den Tagespropheten rausholen.
Ich entfaltete ihn und las die Schlagzeile:
Voldemort-Fanatiker gefasst: Mugglefamilie tot aufgefunden
Ich seufzte. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis Shawn zurückkehrte. Eine neue Information war es nicht mehr, aber dennoch schön zu wissen, dass bald dieses Mal wirklich bald bedeutete.
Wirklich Lust mir den Artikel durchzulesen verspürte ich jedoch nicht. Shawn würde mir ohnehin alles noch einmal erzählen und ich wollte jetzt nicht schon wieder an ihn denken und mich sorgen. Nicht heute.
Ich blätterte zum Sportteil und seufzte erneut. Die Tabelle sah nicht groß anders aus, verglichen zum letzten Jahr. Wieder fehlten uns die durchschnittlichen dreißig Punkte, um die Tornados auf Platz zwei zu überholen. Allerdings, sagte ich mir, hatte die Saison auch gerade erst angefangen und wir erst ein Spiel gespielt. Es konnte sich noch sehr viel ändern - das würde es. Durch die Weltmeisterschaft war in nun richtig gepusht auch bei den Arrows nochmal einen draufzulegen.
Denn Nachzulassen stand nicht gerade auf meinem Saisonplan. Ich hatte zwar gedacht, mit der Aufnahme in die Nationalmannschaft hätte ich den Höhepunkt meiner Karriere erreicht, doch das war weit gefehlt. Durch meinen entscheidenden Treffer hatte England seit Jahren die Qualifikation überlebt und unser Sucher, Thomas Macdonald, hatte sogar aufgehört, mich "verlorene Hoffnung" zu nennen. (Mein Spitzname zuvor, da er genauso wenig verstand, wieso ich trainieren durfte, obwohl ich gerade mal aus der Schule raus war.)
Doch er war nicht der Einzige, der überrascht über meinen Einsatz gewesen war. Nicht nur das Angebot an sich, sondern dass ich im Endeffekt sogar spielen durfte. England hatte seit Jahren keine so junge Spielerin mehr gehabt und ich musste mich wirklich durchbeißen, um mich zu beweisen.
Aber zugegeben war dies nicht halb so schwer, wie damals die Hausmannschaft überzeugen zu müssen. Immerhin spielte ich bereits bei den Arrows, was ich nie für möglich gehalten hatte. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde ich während des Trainings in beiden Teams die Welt erobern.
Das erste Mal ignorierten mich die Leute nicht mehr, wenn ich den Raum betrat. Ich wurde gegrüßt und die Frage nach meinem Wohlbefinden war nun keine reine Geste der Höflichkeit mehr. Ich schloss die ersten Freundschaften außerhalb der Schule.
Bei meinem ersten Interview war ich nicht stärker aufgeregt als bei dem fünften, aber ich bekam allmählich mein rasendes Herz in den Griff. Nur das Autogramme geben und mein Gesicht überall zu sehen war nach wie vor komisch. Im Monatsmagazin der Arrows war ich nicht nur ausführlich vorgestellt worden (ich hatte keine Ahnung, woher die Hälfte der Informationen stammten), sondern nach der Bekanntgabe meiner Aufnahme in das Nationalteam hatte es sogar ein Poster im Heft gegeben.
Ich hing nun zwischen Chawaque und Lewis an Alias Kühlschrank.
Nachdem ich das Interview mit dem Trainer der Rumänischen Nationalmannschaft, die die WM dieses Jahr gewonnen hatte, gelesen und den Propheten wieder weggepackt hatte, schoss Alia mit ihrer Jacke und Taschen um die Ecke, zog mich aus dem Sessel und umarmte mich.
"Happy Birthday!", verkündete sie viel zu laut und schaffte es sogar, den ungarischen Geschichtsinteressenten von seinem 800-Seiten-Buch zu lösen. Er schüttelte jedoch nur den Kopf und wandte sich wieder der Revolution 1848 zu.
Alia und ich verließen das Gebäude und liefen zurück über den Piccadilly Circus in Richtung Tottenham Court Road zu unserem Lieblingsrestaurant, in dem wir die letzten Monate viel zu häufig gegessen hatten.
Wir suchten uns einen Platz und während ich mich noch von meiner Jacke befreite, hing Lil schon mit der Nase in der Speisekarte.
"Ich hab einen Mordshunger", stöhnte sie und wie auf Kommando knurrte ihr Magen. "Auf der Arbeit ist momentan die Hölle los, hast du ja gesehen. Irgend so ein Buch über Schildkröten, und so viele Leute verschenken es! Wir haben nicht mal Weihnachten, verrückt! Also, nehme ich meinen Standard oder eine der vielen anderen, sehr deliziös klingenden Alternativen?"
Alia sah zu mir auf und spiegelte mein Grinsen wider.
"Standard", lachten wir beide und Lil schlug die Karte wieder zu.
"Und jetzt erzähl doch mal", schmatzte Alia mit vollem Mund, ihre Standard-Bestellung genießend, nachdem sie über die neusten Dinge in ihrem Leben nachgerüstet hatte. "Was läuft bei dir so?"
Dass sie nicht von meinem quidditcherfüllten Sommer sprach, war mir leider mehr als klar. Denn darüber wusste sie bereits alles - der Hype der Medien hatte sie stets auf dem Laufenden gehalten. Immerhin legte dieser sich glücklicherweise wieder. Zumindest größtenteils.
Sie wollte ein vernünftiges Lebens-Update. Wir hatten uns zwar häufiger zum Essen getroffen, aber oft musste mindestens einer von uns ziemlich schnell wieder los und die Sonne war viel zu schön gewesen, um die gute Stimmung zu verderben.
Jetzt, mehr als zwei Wochen nach unserem letzten Treffen, kam es Alia vermutlich so vor, als hätte ich eine halbe Weltreise gemacht. Durch ihren Informationsmangel, was die richtigen Probleme anging, hatte sie in ihren Befürchtungen womöglich gar nicht so unrecht.
Als Antwort seufzte ich und ließ die Gabel in meine Standard-Bestellung gleiten.
"Nicht gut", stellte Alia ängstlich fest und schluckte ihr Essen runter. "Shawn?"
Erneut konnte ich nichts weiter als seufzen.
"Hör mal", beschwere sich Lil, "das hier ist keine Ein-Frau-Konversation und auch keine der Art Alia-muss-Kassy-alles-aus-der-Nase-ziehen. Es sollte sich um ein Alia-fragt-Kassy-antwortet-und-andersrum-Gespräch handeln."
Sie entlockte mir ein leichtes Schnauben.
"Also?"
"Er ist schon wieder so lange weg."
Jetzt seufzte Alia, nur dass es bei ihr wesentlich bedrohlicher klang. "Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir sofort Bescheid sagen, sobald er wieder länger als für eine Woche verschwindet."
Ich setzte zu einer Erklärung an (die ich nicht hatte), und zu der Rechtfertigung, dass Shawn nicht einfach verschwand, doch Lil gab sich schon mit meinem Luftholen zufrieden.
"Ich bringe ihn um! Lass mich jetzt bitte endlich mit ihm reden, so geht das doch nicht weiter."
"Lil, das kannst du nicht machen."
"Und ob ich das kann!"
"Darum geht es nicht. Es wird nichts bringen, über den Punkt bin ich hinaus. Und überhaupt - so schlimm ist es nicht."
Alia lachte höhnisch auf und ließ sich mit verschränkten Armen gegen die Stuhllehne fallen. Ihr Löffel rutschte in die Pasta, doch das schien sie nicht zu stören.
"Nicht so schlimm? Kassy, du führst quasi eine Beziehung alleine!"
"Das stimmt doch gar nicht, ich ..."
"Sch! Schusch. Shawn war wie viele Tage des Sommers da?"
"Alia ..."
"Kassy!"
"Ich bin auch nicht ..."
"Wie viele Tage?", wiederholte sie scharf.
"Achtzehn", murmelte ich leise.
"Von wie vielen?"
"Hundertacht."
Alia blickte zugleich zufrieden und sprachlos.
"Allein, dass du genau gezählt hast, beweist, dass es zu wenige sind. Viel zu wenige. Kassy, achtzehn aus hundertacht sind ..."
"Sechszehn Komma sechs Prozent", antwortete ich leise, wissend, dass Alia versuchte, im Kopf zu überschlagen. Seit sie in der Buchhandlung arbeitete, neigte sie dazu, alles in Prozenten auszurechnen.
"Streber."
"Nicht wahr, hab ich schon vorher ausgerechnet."
Alia schürzte die Lippen. "Muss ich wirklich weitermachen? Reicht dir das nicht als Beweis? Er ist die ganze Zeit nur unterwegs. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass dir das nichts ausmacht?"
"Na ja, es ..."
Doch erneut unterbrach Lil mich: "Wann hattet ihr das letzte Mal Sex?"
"Lil!", zischte ich und blickte mich ängstlich um, um zu prüfen, ob uns irgendjemand gehört hatte. Ich hatte kein Problem, mit Alia darüber zu reden, nur ich schätzte es nicht sonderlich, wenn uns die halbe Öffentlichkeit dabei zuhörte.
"Beantworte die Frage!"
Ich verdrehte genervt die Augen, doch Alia starrte mich nur stur an, während ihr Löffel immer tiefer in den Nudeln versank.
"Weiß nicht. Vor fünf Wochen?"
"Wann habt ihr das letzte Mal gemeinsam gegessen?"
"Vor drei Wochen", sagte ich fast stolz. "Am Abend bevor er gegangen ist."
"Und wann habt ihr das letzte Mal gemeinsam gegessen, als nicht du, sondern er sich drum gekümmert hat?"
Mein siegessicheres Lächeln verstarb. Eine tiefe Sorgenfalte tauchte auf der Stirn meiner besten Freundin auf. Sie beugte sich nach vorn und legte die Hand zwischen unsere Teller.
"Und jetzt beantworte die Frage nochmal: Bist du glücklich?"
Ich atmete leise aus. "Nein", murmelte ich. Es tat weh.
"Ich weiß, dass es schwierig ist", sprach Alia sanft. "Shawn ist toll und alles, und ich glaube euch beiden, dass ihr einander liebt, aber das ist nicht genug. Eine Beziehung bedeutet Arbeit. Das habe ich gelernt, als Lewis und ich angefangen haben, zusammenzuleben. Bei uns war auch nicht immer alles super, aber wir haben miteinander kommuniziert und an unserem Zusammenleben gearbeitet. Ich musste mich auch erst daran gewöhnen und es zur Gewohnheit machen, ihm einfach zu sagen, was mich stört, und auch seine Wünsche zu berücksichtigen. Genauso, wie er auch. Das brauche ich dir nicht sagen, das weißt du. Aber was du anscheinend nicht weißt, ist, dass die Einzige, die sich in eurer Beziehung um irgendwas kümmert, du bist. Und ich hab das Gefühl, dass Shawn das erstens nicht wertschätzt und es ihm zweitens egal wird. Ich weiß, dass du willst, dass eure Beziehung funktioniert, Kassy. Glaub mir, dass will ich auch. Aber in erster Linie will ich, dass du glücklich bist. Du hast das mehr als sonst jemand verdient. Und momentan steht Shawn im Weg."
Die Innenseite meiner Unterlippe brannte, da ich sie komplett kaputt gebissen hatte. Mit jedem weiteren Wort Alias spürte ich mehr Schmerz. Doch es lag nicht an ihr, denn sie verursachte es nicht. Es handelte sich um die Wahrheit - das war es, was so schmerzte. Es zu hören, es nicht abstreiten zu können, so wie ich es die letzten Monate getan hatte.
Denn ich strengte mich an. Versuchte, Shawns Wünsche und seinen Beruf zu akzeptieren. Gab mir Mühe, mir keine Sorgen zu machen. Richtete meine volle Aufmerksamkeit auf ihn, wenn er da war. Doch Alia hatte recht, er gab sich nicht so viel Mühe. Es fühlte sich unfair an.
Dennoch wollte ich es nicht wahrhaben. Nicht das auch noch. Shawn und ich, wir waren eine Sache, die gegen alle Erwartungen funktioniert hatte. Wir hatten eine Beziehung geführt, auf die viele Eifersüchtig gewesen waren. Die Kommunikation war uns gelungen, wir kannten uns gegenseitig besser als uns selbst. Oder wir hatten uns gekannt. Seitdem Shawn ein angesehener Auror war, hatte er sich verändert.
Oder war ich es, die sich verändert hatte?
"Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten", fuhr Alia ruhig fort, "und ich dir bei der Entscheidung weder helfen noch dich beeinflussen: Entweder du trennst dich von Shawn, oder du redest mit ihm. Und zwar diesmal wirklich. So, dass er endlich rafft, was er an dir hat und was er gerade dabei ist, zu zerstören. Denn ich werde nicht länger dabei zusehen, wie er dich Stück für Stück abserviert."
Ich hatte nur Nicken können und für eine Weile aßen wir in Stille weiter. Im Hintergrund lief alte Muggelmusik und man hörte Besteck klappern, die konstanten Gespräche der anderen Gäste und das Rauschen der Pfannen und Töpfe aus der Küche.
Es dauerte nicht lang und der Lärm stieg mir zu Kopf. Beinahe wäre ich aufgesprungen und aufs Klo gelaufen, doch glücklicher Weise fing Alia, als hätte sie meine Gedanken gehört, an zu reden.
"Ich hab auch noch ein paar Neuigkeiten", verkündetet sie stolz, was sie mir bis jetzt wohl verschwiegen hatte.
"Schieß los", sagte ich, vielleicht etwas zu schnell, erleichtert über die Ablenkung.
"Ich hab dir ja von Lewis' Therapiesitzungen erzählt."
Ich nickte. Der Unfall war nun schon fast ein Jahr her und Lewis hatte seitdem keinen Besen mehr bestiegen. Mit ärztlicher und Alias und Jace' Unterstützung hatte er seine Ausbildung zum Medimagier erfolgreich beenden können. Den Platz in der Quidditchmannschaft hatte er jedoch zurückgewiesen. Es war nicht immer einfach für Lil gewesen, mit Lewis und seinem Trauma umzugehen. Ich bewunderte sie für ihre Stärke und alle beide für das Funktionieren ihrer Beziehung, trotz dieses Einschnittes.
Denn auch ein Jahr später tangierte ihn der Sturz noch. Was es besonders schwer machte, war das stetige Unverständnis. Lewis war aus einer annehmbaren Höhe vom Besen gestürzt. Solche Unfälle gab es im Quidditchsport nicht selten, fast sogar täglich. So hackten nicht nur die Medien auf Lewis rum, sondern auch viele Fans und sogar ehemalige Freunde aus Schulzeiten.
Selbst Alia konnte es nicht nachvollziehen, hatte aber in keiner Sekunde an Lewis gezweifelt oder ihn aufgegeben. Mittlerweile konnte Lewis wieder mit Fremden über den Unfall reden und sich ohne eine Panikattacke zu erleiden die Spielergebnisse in der Zeitung anschauen.
"Jedenfalls", fuhr Alia nun fort, "hat er ein Jobangebot."
"Das ist super!", freute ich mich. "Haben sie ihn doch übernommen?"
Nach einer Ausbildung hatte Lewis kein Angebot des St. Mungo's erhalten, da sie der Ansicht waren, ihm würde eine Pause guttun. "Nope", grinste Lil und tupfte sich mit der Servierte etwas Soße vom Kinn. "Es geht um einen Job in Australien."
"Ist nicht wahr! Wie kommt er da denn ran?"
Man musste mir meine Verwirrung deutlich ansehen, denn Lil begann zu lachen.
"Bay hat mir endlich geschrieben", begann sie zu erklären. Unsere Freundin aus Afrika hatte uns früher in diesem Sommer besucht. "Ihr Bruder hat es in die Nationalmannschaft geschafft, die sie vor ein paar Jahren gegründet haben."
"Das weiß ich doch", erinnerte ich Lil. "Hör mal, wir waren zusammen in Uagadou und ich war auch hier, als Bay hier war."
"Ist ja gut, ich weiß. Aber das ist wichtig: Also, Bay hat mir vor ein paar Wochen nochmal geschrieben. Die Nationalmannschaft will an den Commonwealth-Meisterschaften teilnehmen, die nächstes Jahr das erste Mal stattfinden sollen. Ich weiß, du weißt. Aber sie brauchen Unterstützung. Bay weiß ja, dass du ihnen nicht helfen kannst, weil du selbst spielst, also hat sie mich gefragt. Und ich hab Lewis vorgeschlagen."
Ich brauchte ein wenig, um alles ins Bild zu rücken, doch schließlich strahlte ich Alia an. "Und jetzt wollen sie ihn als Trainer?", schlussfolgerte ich.
"Co-Trainer", berichtigte Lil. "Er darf noch kein offizieller Trainer werden, deswegen geht er nach Australien. Dort wird die CM nämlich ausgetragen - weißt du ja. Die Nationalmannschaft trainiert schon seit Anfang des Sommers dort. Lewis kann jetzt hinreisen und ihnen helfen, während er einen Lehrgang und ein paar anschließende Fortbildungen zum Trainer macht."
"Das ist großartig! Hast du ihm schon Bescheid gesagt?"
"Ja", nickte Alia freudig. "Und er hat gesagt, er will es machen. Ich bin so stolz auf ihn."
"Das kannst du sein. Und auch auf dich."
Ich beglückwünschte Alia mit jedem weiteren Detail, welches sie mir berichtete, und hörte mir an, was Bay noch alles geschrieben hatte.
Auf die Frage, ob Alia mit ihrem Freund gehen würde, schaute sie mich nur unschlüssig an.
"Keine Ahnung. Ich will ihm helfen und natürlich auch bei ihm sein, aber ich kann nicht einfach mein Studium und meinen Job schmeißen."
In diesem Moment klingelte mein Handy - ich hatte eine SMS erhalten.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum und zog es aus meiner Jackentasche. Mein Handy klingelte nicht häufig - genau genommen war Shawn der Einzige, der es dazu brachte. Das wussten Alia und ich beide.
Schnell las ich mir Shawns Textnachricht durch. Als ich anfing zu lächeln, drängte Lil mich nach Einzelheiten.
"Er hat mir alles Gute zum Geburtstag gewünscht und schreibt, wenn alles glatt läuft, ist er morgen wieder da. Siehst du, alles gut."
Alia grunzte als Antwort. Die Stille legte sich erneut über unseren Tisch, doch diesmal wurde ich nicht von meiner geräuschvollen Umgebung erdrückt. Dennoch konnte ich nicht aufhören, über Shawn und das, was Alia gesagt hatte, nachzudenken. Es drückte mir die Luft von Innen aus den Lungen.
Entgegen meiner Vorstellung war dies noch tausend Mal schlimmer.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich Shawn neben mir auf dem Bett liegend. Den Kopf in die Hand gestützt und den Ellenbogen ins Kissen gedrückt atmete er ruhig . Er roch nach seinem Shampoo und seine Haare sahen noch klamm aus, während er in Jogginghose und T-shirt lächelnd auf mich hinabschaue.
"Morgen", murmelte er mit rauer, aber wacher Stimme und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz.
"Das würde ich nicht tun", gab ich benommen zurück. "Die muss ich ganz dringend waschen."
Shawn lachte leise und zog mich zu sich. Ich drehte mich, sodass ich mein verschlafenes Gesicht an seine Brust drücken konnte.
"Ist alles okay?", raunte ich in den Stoff.
Sofort spürte ich, wie Shawns Muskeln sich anspannten, jedoch gleich wieder lösten.
"Natürlich. Alles bestens, keine Verletzungen."
Normalerweise spürte ich Erleichterung bei diesen Worten. Doch was Alia gestern gesagt hatte, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.
"Alles Gute nachträglich zum Geburtstag", flüsterte Shawn mir ins Ohr und küsste meinen Hals entlang. "Dein Geschenk liegt auf dem Küchentisch."
"Danke", hauchte ich und sogleich entwich mit ein Stöhnen. Shawn lachte gegen meine Wange.
"Ich hab Frühstück vorbereitet ..."
Das aber schwebte in der Luft, doch Shawn brauchte den Satz nicht zu vollenden.
"Das kann warten", entgegnete ich und drückte meine Lippen auf seine.
Von wegen, er gäbe sich keine Mühe. Alia sorgte sich vielleicht, aber auch sie konnte sich irren. So wie ich manchmal mehr zu tun hatte, musste auch Shawn in diesem Sommer mehr arbeiten.
Shawns warme Hand wanderte unter mein T-Shirt und ich gab mich ganz dem vertrauten Gefühl der Geborgenheit hin. Da war nichts, um das ich mir Sorgen machen musste.
Etwa eine halbe Stunde später, nachdem Shawn sich schnell neben mir abgeduscht hatte, erwärmte er den Kaffee neu, während ich meinen Haaren eine Wäsche verpasste. Das Gesprächsthema des Frühstücks beschränkte sich auf die politische Lage des Ministeriums.
Normalerweise interessierte mich sowas überhaupt nicht, doch es hing mit Shawns aktuellem Fall zusammen und der Tod der Muggelfamilie ließ sogar mich den Ernst der Lage erfassen.
"Der Muggelpremierminister findet das gar nicht lustig, glaub mir. Wenn du mich fragst, steckt Hermine in der Klemme."
"Hermine", wiederholte ich, eher als eine Feststellung statt einer Frage. Dass Shawn die Zaubereministerin beim Vornamen ansprach, war mir neu.
"Granger-Weasley, du weißt schon. Sorry. Jedenfalls sehen viele den Anschlag als persönlichen Angriff auf sie. Seit sie den Posten hat, drehen die SATE durch. Es gibt mehr als je zu vor."
"SATE?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Ach ja", sagte Shawn, als wäre ich seine Schülerin und hätte die Frage gestellt, die er vergessen hatte zu stellen, froh, nun selbst die Antwort liefern zu dürfen. "Wir nennen sie SATE, ein neuer Begriff in der Abteilung. Steht für Sangura Todesser. Die Voldemort Neuzeit-Fanatiker. Haben sich selbst eine Rune gegeben und nennen sich Sanguras. Eine Zusammensetzung aus den lateinischen Wörtern für "reines Blut". Hier ..."
Er ließ einen Zettel und Stift von der Kommode schnellen und malte die Rune auf. Ein Dreieck, von dessen unterer rechter Ecke ein Strich schräg nach rechts oben verlief - als hätte man ein L und V genommen und zusammengeschoben.
"Wirklich kreativ sind die ja nicht gewesen", bemerkte ich.
Shawn lachte. "Hat Andrew auch gesagt." Er trank einen Schluck Kaffee und wurde wieder ernst. "Wir finden die Rune überall, letztens wurde sogar eine an einer Mauer in Hogwarts entdeckt."
"WAS?!", entfuhr es mir. "In Hogwarts?"
Bei dem Gedanken, dass Saiph sich noch dort befand und ihr etwas zustoße konnte ... Mein Magen sank mir in die Kniekehlen.
"Keine Panik, wir gehen davon aus, dass es nur ein dummer Scherz gewesen ist."
"Ein dummer Scherz, wenn die Erklärung der Rune noch nicht mal publik ist? Für mich klingt das eher nach jemandem, der sein Kind eingeweiht hat. Denk mal an Kimbers Vater. Oder Rosier. Hat Maddox nicht jüngere Geschwister?"
Shawn atmete geräuschvoll aus. "Wir haben alles unter Kontrolle, wirklich. Hermine geht bald an die Öffentlichkeit, aber zuerst müssen wir sehen, was wir aus den Mördern der Muggelfamilie raus bekommen."
Ich starrte in meinen Tee. Nie im Leben hatte ich erwartet, dass Voldemorts Ansichten noch einmal zurückkehrten, geschweige denn, jemanden verletzen würden. Ich hatte in Geschichte der Zauberei viel über den Krieg gelernt, es aber als Geschichte ruhen lassen. Hätten wir nicht alle daraus lernen sollen?
"Darfst du mir das überhaupt erzählen?", fragte ich Shawn leise.
Auf seiner Stirn erschien eine Sorgenfalte. "Ausdrücklich verboten darüber zu sprechen wurde uns nicht, aber ..."
"Aber eigentlich ist es selbstverständlich, dass ihr die Klappe haltet."
Ich schaute Shawn kalt an.
"Bist du jetzt wütend, weil ich dich einmal mit einbeziehe?" Shawns Stimme erhob sich und ich zuckte zusammen. Eine so heftige Reaktion hatte ich nicht erwartet. "Ich mache einmal das, worum du mich ständig bittest, und das ist wieder falsch?"
"Darum geht es doch gar nicht!", fauchte ich zurück.
"Worum denn dann? Was mache ich falsch?"
Shawn war aufgesprungen. Affektiert tat ich es ihm nach, hielt meine Stimme jedoch ruhig. Ich wollte nicht streiten. Nicht schon wieder.
"Natürlich freue ich mich, wenn du mir vertraust. Aber ich brauche keine Informationen, die das Ministerium lieber für sich behält. Ich will Infos, die sich um dein Wohlbefinden drehen. Ich brauche nicht wissen, hinter wem ihr herjagt, sondern nur, dass du dabei nicht in Stücke gerissen wirst."
Instinktiv fiel mein Blick auf die lange Narben an seinem Kiefer. Die Wunde war gut verheilt, doch die dünne weiße Erinnerung blieb für immer dort zurück.
"Ich hab dir doch die SMS geschickt!" Shawn sprudelte immer noch vor Wut. "Was willst du denn noch?"
"Gar nichts", stöhnte ich und trat auf ihn zu. Behutsam senkte ich seine vorwurfsvoll ausgestreckten Arme. "Das hat doch gereicht. Ich wollte mich noch bedanken, es hat mich beruhigt. Also danke."
Ich drückte ihm einen Kuss auf die kleine Narbe auf seiner Wange. Shawn atmete hörbar aus und sah zu Boden.
"Tut mir leid. Ich dachte nur, du würdest dich vielleicht dafür interessieren."
"Das tu ich doch auch", versicherte ich ihm. "Wirklich. Aber du brauchst mir nichts erzählen, was deine Stelle gefährden könnte. Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet und würde es mir nie verzeihen, wenn du sie deswegen verlierst."
Shawns Mundwinkel zuckten. "Ich muss los ins Büro. Ich seh' dich heut' Abend."
Ich blickte ihn entschuldigend an.
"Quidditchtraining?"
"Quidditchtraining", antwortete ich, bevor er ganz zu Ende gesprochen hatte. "Tut mir leid."
"Kein Problem. Ich kümmere mich ums Abendessen, ich seh' dich um zweiundzwanzig Uhr?"
"Beim heiligen Stundenglas, auf das Sandkorn genau. Und dann kannst du mir gerne noch mehr erzählen, wenn du dafür nicht gefeuert wirst. Es interessiert mich wirklich."
"Mach ich. Bis später."
Shawn drückte mir einen Kuss ins Haar und disapparierte noch im selben Moment.
In der plötzlichen Leere spürte ich den Verdacht, dass Shawn mir noch etwas hatte sagen wollen.
***
Die nächsten Wochen verliefen vergleichsweise ruhig, zumindest was Shawns Pensum betraf. Er arbeitete etwas mehr im Büro und bekam überdies den einen oder anderen Tag frei. Das erste Mal seit Monaten konnten wir gemeinsam was unternehmen. Er sah sich sogar drei meiner Quidditchspiele an.
Ich hätte behaupten können, ich wäre rundum glücklich gewesen. Eigentlich war dies auch der Fall. Ich nahm in Shawn erneut meinen Freund wahr, hatte das Gefühl, endlich wieder eine funktionierende Beziehung zu haben und konnte die Worte des sprechenden Hutes zum ersten Mal so richtig verbannen.
Perfekt hin oder her, mein Leben fühlte sich zur Abwechslung normal an. Wenn da nicht Shawns Blicke wären, mit denen er mich ständig ansah, wenn er dachte, ich bemerkte es nicht.
Ich kannte niemanden besser als Shawn, wahrscheinlich nicht mal mich selbst. Er verschwieg mir was.
Immer häufiger versank er in den Nichts-Blick, holte Luft und sagte dann doch nichts. Das Thema Arbeit hielt er kurz.
Mehr als einmal ließ ich ihn beiläufig wissen, dass ich da war und er mit mir reden konnte, egal, um was es sich handelte. Doch er tat es nicht. Obwohl ich mir sicher war, dass er genau wusste, dass ich eine Ahnung hegte.
Hätten wir nicht ständig Sex, Filmabende auf dem Sofa und so viel Spaß, wann immer wir zusammen waren, würde ich fast sagen, er hätte eine Affäre. Doch dazu vertraute ich ihm zu sehr.
Trotz meiner leisen Panik würde ich ihn nicht drängen. Auch wenn wir eigentlich keine Geheimnisse voreinander hatten, ließ ich ihm seinen Freiraum.
Schließlich kam er einen Abend nach Hause und zog seinen Mantel langsamer als gewöhnlich aus. Ich wusste sofort, was los war.
Ich steckte meinen Zauberstab weg und ließ das Geschirr sich selbst abwaschen. "Du musst wieder auf einen Einsatz, stimmt's?" Die Angst in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Nach wie vor hatte es zwar nur kleinere Reisen gegeben, doch sie wurden von Mal zu Mal gefährlicher. Bei dem letzten Außeneinsatz war Andrew von einem Fluch getroffen worden. Er lag immer noch im St.-Mungo.
Es war, kurz nachdem Hermine mit der neuen Bedrohung an die Öffentlichkeit gegangen war, passiert. Die Einheit hatte die Benachrichtigung erhalten, dass eine Zauberfamilie aus Bexhill-on-Sea einige SATE gesichtet hatte, wie sie Häuser von muggelstämmigen Zauberern anzündeten.
Shawn, Andrew und drei andere aus ihrer Einheit sind sofort dorthin appariert, jedoch abgefangen worden. Es handelte sich um einen Hinterhalt - Andrew hatte Glück im Unglück, er war der Einzige, der verletzt wurde, und das auch nicht so stark, wie er es hätte werden können, hätte Shawn nicht im letzten Moment einen Schildzauber heraufbeschworen.
Danach war die Hölle los gewesen - jedes erdenkliche Medium zerriss sich das Maul darüber, einige Zaubererfamilien tauchten unter. Meiner Meinung nach zu diesem Zeitpunkt noch etwas übertrieben, aber ich verurteilte niemanden, der sich um die Sicherheit seiner Familie sorgte. Ich würde dasselbe tun, wenn ich könnte.
Kurz vor dem Vorfall hatte ich einen Brief an Saiph geschrieben, und auch an Mum, um ihnen Details zu der Lage weiterzureichen. Von Mum kam wie üblich keine Antwort, aber Saiph schrieb mir, dass sie den Brief erhalten und beherzigt hatte. Saiph selbst hatte zwar behauptet, meine Bitte zu erfüllen, doch ob sie sich auch wirklich von Schülern wie Skye oder Rosier fern hielt, konnte ich nicht sagen.
Shawn seufzte. Es war das typische Woher-weißt-du-das-schon-wieder-Seufzen.
"Wann?"
"Morgen Nachmittag geht's los. Wir ..."
Mein Herz zog sich zusammen. Da war noch mehr und Shawns matte Augen verhießen nichts Gutes.
"Ich kann mein Handy nicht mitnehmen. Es ist eine Undercovermission. Wir versuchen in das Hauptquartier der Sanguras einzudringen, Namen raus zu bekommen, Verbindungen zu knüpfen. Endlich zu wissen, wer das Sagen hat, wer ganz oben steht. Es wird ..."
Shawns Auge zuckte.
"Gefährlich", sagten wir aus einem Munde.
Shawn hatte noch nie eine Mission als gefährlich bezeichnet. Er war angespannt - etwas völlig Neues. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ihn davon abbringen würde nicht funktionieren, aber ich konnte ihn doch nicht einfach gehen lassen. Oder?
"Und ...", hauchte Shawn nun kaum hörbar, "wir sind nur zu zweit. Wer der andere ist darf ich nicht sagen, aber wir gehen nicht als Team."
"Bedeutet das, sie schicken euch als Versuchshasen vor?"
"Kaninchen. Und nein. Sie schicken die Leute, denen sie am meisten vertrauen."
"Dann muss Harry Potter wohl geschmeichelt sein, mit dir zusammen zu arbeiten", entgegnete ich sarkastisch.
Auf Shawns Gesicht erschien sofort der Nichts-Blick, gepaart mit Panik. Das Geheimnis hatte also mit Harry Potter zu tun. Großartig.
"Harry ist sie", sagte er leise. "Also die, die schicken."
"Seine eigenen Teammitglieder auf den Stuhl über dem Todestrank setzen und zusehen, was passiert. Ich sehe den Auserwählten."
Wut baute sich in mir auf. Allein, dass Shawn darauf nicht antwortete, ließ mich noch rasender werden. Ich wusste genau, wie jeder andere auch, dass es nicht Harry Potters Art war, so zu handeln.
Irgendetwas stank gewaltig, aber ich hatte nicht die Kraft, der Fährte nachzugehen. Tief in meinem Inneren wünschte ich mir, dass Shawn etwas Dummes anstellte. Etwas so Dummes, dass ich mich rechtfertigen konnte, ihn zu verlassen.
Noch in derselben Sekunde schämte mich für diesen Gedanken und verschloss ihn ganz tief in mir, damit ihn niemand zu Gesicht bekam. Aber ich wusste, dass es die Wahrheit war. Es würde alles so viel einfacher machen.
Das einzige Problem, das jedoch blieb, war ebenso einfach und kompliziert zugleich: Ich liebte diesen Idioten immer noch.
Obwohl ich mir einen Wecker gestellt hatte, war Shawn bereits weg, als ich am nächsten Morgen hochschreckte. Unentschlossen und mit einem freien Tag vor mir liegend wusste ich nicht, was ich tun sollte. Wirklich Lust mich mit jemandem zu treffen hatte ich nicht, da ich ohnehin nichts von Shawns Mission erzählen durfte.
Der einzige Grund, weswegen er mich überhaupt einweihen durfte, war, damit ich so tat, als sei er gar nicht weg. Sonst könnten die Sanguras Verdacht schöpfen. Ich sollte also vorspielen, Shawn wohnte nach wie vor hier und wäre nur häufig auf der Arbeit. Änderte nicht viel.
Trotzdem hatte ich Angst um ihn. Er selbst hatte die Gefahr zugegeben und ich hatte ihm die Besorgnis angesehen. Aber während er da draußen war, konnte ich nur hier bleiben und hoffen.
Kurz überlegte ich, trotz meiner Schweigepflicht bei Alia vorbeizuschneien, doch dann fiel mir ein, dass sie bis zum Hals in Vorbereitungen steckte, da sie noch heute Abend nach Australien aufbrechen würde, um Lewis für einige Wochen zu besuchen.
Ich hatte noch nicht einmal gefrühstückt, nur den Tee getrunken, den Shawn mir auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, da fand ich mich vor Teddys und Toris Wohnungstür wieder. Mitten auf der Straße. Im strömenden Regen. Barfuß.
Kurz war ich aus der Fassung gebracht - ja, ich hatte mich nach Antworten gesehnt. Und seit wir in Uagadou gelernt hatten, unsere Magie auch ohne Zauberstab zu entfalten und zu kontrollieren, übernahm mein Unterbewusstsein gelegentlich die Führung. Aber dass ich gleich apparierte und auch noch sofort zu Teddy, fand ich etwas gruselig.
Die dicken Tropfen prasselten wie Flüche auf mich nieder und binnen weniger Sekunden war ich bis auf die Knochen durchweicht. Blinzelnd und fluchend suchte ich die richtige Klingel und wartete ungeduldig, dass die Tür geöffnet wurde.
Zitternd lief ich die drei Stockwerke nach oben. Ich war bisher erst ein einziges Mal in der gemeinsamen Wohnung von Tori und Teddy gewesen, da wir uns sonst immer in Parks, Restaurants oder Cafés getroffen hatten. Doch auch das eine Mal war nur gewesen, um Teddy seinen Schuh wiederzubringen, den er bei uns vergessen hatte. (Es handelte sich um den rechten. Lange Geschichte.)
Als Teddy auch die Wohnungstür öffnete, starrte er mich an, als würde wir uns nicht kennen.
"Sternchen", begrüßte er mich skeptisch. "Was tust du hier und wieso bist du klatschnass?"
"Headboy", gab ich zurück, entzückt über die freundliche Begrüßung. Dies zum Ausdruck bringend wrang ich meine Haare über der Fußmatte aus, auf der mir der abgedruckte Bowtruckle einladen zuwinkte. "Ich wollte mit dir reden, und falls es dir nicht aufgefallen ist, draußen schüttet es wie aus Kesseln."
"Mir ist das aufgefallen, Sternchen, aber dir anscheinend nicht. Du hast ja nicht mal Schuhe an! Die Fußmatte ist super, oder?"
Teddy grinste mich schelmisch an.
"Truckle in?", las ich den daneben stehenden Spruch vor. "Was sehen die Muggel?"
"Einen LKW."
Vor Lachen kniff ich die Augen zu. "Sowas kann es auch nur vor eurer Tür geben."
"Also, was hast du auf dem Herzen, Sternchen?"
Teddy hatte meine Klamotten getrocknet und mir zusätzlich noch seinen Hufflepuff-Pullover zum Überziehen gegeben, den ich ihm vor mittlerweile über vier Jahren geschenkt hatte. Er hatte gut auf ihn aufgepasst.
Tori war bereits zur Arbeit gegangen und ich hatte Teddy gerade so auf dem Sprung erwischt. Nun saßen wir auf dem Sofa und Teddy reichte mir die heiße Tasse Tee, die er aus der Küche gezaubert hatte.
"Es geht um Shawn", sagte ich gerade heraus. Ich hatte keine Lust auf große Umschweife. Ich war enttäuscht und wütend, ratlos und besorgt. Wieso verdammt musste ich Shawn nur so gern haben?
"Der Headboy Mr Mendes. Was hat unser Goldjunge jetzt schon wieder angestellt?"
Wäre Teddys Gesicht nicht so ernst gewesen, hätte ich gelacht.
"Na ja, es geht nicht direkt um ... also, schon ... Ich wollte dich mal fragen, ob du weißt, wie die Potterfamilie mit Harrys Job umgeht."
Teddy war schon immer eine Person gewesen, die schnell Zusammenhänge schließen konnte, doch jetzt bat der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht, welches so viel älter aussah (vor allem mit dem zarten Bart), nach weiterer Erklärung.
"Es ist nur ... Shawn ist fast nie da und ich habe das Gefühl, ich führe eine Beziehung mit einer Erinnerung. Ich bin zu feige der Wahrheit ins Auge zu sehen und zu schwach, um eine Entscheidung zu treffen. Und das ist nicht fair, für keinen von uns."
Von meinen Problemen mit Shawn hatte ich keinem außer Alia und Katie erzählt, und ihnen auch nur bedingt. Die beiden hatten es auf meinen Wunsch für sich behalten. Jetzt schonungslos ehrlich alles in Kurzfassung zu erklären, stellte sich als gar nicht so einfach heraus und führte mir erneut vor Augen, wie melancholisch die Lage eigentlich aussah.
Teddy hörte mir aufmerksam zu und sah kein einziges Mal zur Uhr, obwohl ich genau wusste, dass er jetzt schon viel zu spät war.
Ich schloss meine Erläuterung mit unserem Gespräch von gestern ab: "Und jetzt hat er diese Mission, auf die nur er und ein anderes Teammitglied oder wer auch immer geschickt werden. Sie ist so geheim, er darf mir nicht mal sagen, mit wem er sich geradewegs in den Tod stürzt!"
Verzweifelt stützte ich die Hände gegen die Stirn. "Jeder weiß, dass Harry Potter niemals jemanden aus seinem Team losschickt, ohne selbst zu gehen. Aber Shawn behauptet, Harry hätte ihn und den anderen abgeordnet. Shawn hat sogar selbst zugegeben, dass es gefährlich wird. Das hat er noch nie gemacht. Wie geht Ginny damit um? Und ihre Kinder?"
Schon eine Weile hatte Teddy eine Sorgenfalte auf der Stirn, die sich jetzt, wo er realisierte, dass er mit reden dran war, nur noch tiefer grub.
"Okay, Kassy, zuerst einmal möchte ich sagen, dass mir das alles echt leid tut und ich dein Vertrauen wirklich schätze. Ich ..." Er räusperte sich. "Ich werde niemandem etwas sagen. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass das, was ich dir jetzt sagen werde, dir sonderlich gut gefallen wird. Und ich weiß auch nicht, in wie weit ich in Shawns Recht eingreife, aber da ich keine dieser Informationen von ihm habe und du mich gefragt hast, als meine Freundin ..."
Teddy holte zitternd Luft und in seinen Augen spiegelte sich Bedauern und Mitleid wider.
Sofort wurde mir schlecht und die Welt schwankte leicht. Doch ich riss mich zusammen. Ich konnte mir denken, was jetzt folgen würde: Das, was Shawn mir über Wochen verheimlicht hatte.
Zitternd hielt ich mich an der Sofalehne fest und versuchte, meinen Blick zu fokussieren.
Es half nichts, der folgende Satz sprengte den Rahmen aller meiner wildesten Vorstellungen und ließ meine Welt verrutschen.
"Harry ist schon seit Monaten nicht mehr im Außendienst."
ϟ ϟ ϟ
Accidentally dropped a bomb. Whoops.
Ich bin gespannt, ob jemand Theorien hat. Was könnte Teddys Aussage bedeuten?
Nur um alle Verwirrung zu klären, wir befinden uns nun ein Jahr später als im letzten Kapitel, also im Dezember 2020.
Oh, und voilà: Kein Haken an der Quidditch Sache. Sternchen steigt zum Sternchen auf.
Wer von euch hat eigentlich schon Ferien? Ich versinke momentan in Uni und bin etwas neidisch auf meine Schwester, die nur noch eine Woche absitzen muss.
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 09.07.2020 (Thursday)
[03.07.2020]
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