Kapitel 45 ϟ Shawn
Let Her Go - Passenger ♪♫
Wie so vieles anderes in meinem Leben hatte ich mir die Rückkehr Shawns in unzähligen verschiedenen Szenarios vorgestellt. Und wie so oft lag ich mit jedem einzelnen absolut daneben.
Diesmal war es jedoch nicht, weil meine Vorstellungen nicht die Realität einbezogen, sondern weil die Realität über jegliche Fantasie hinausreichte.
Ich lag nach dem Training fertig geduscht auf dem Sofa und döste vor mich hin, während im Fernsehen irgendeine Soapshow lief, die mich wach hielt, da mich die Akzente aufregten, als es einen Knall gab und ich vor Schreck zusammenzuckte und vom Sofa rutschte.
Mein Zauberstab lag bei meinem vergessenen Tee, der kalt neben dem Wasserkocher stand. Ich streckte die Hand aus und der Ahornstab flog durch die Wohnung in meine Hand.
Angriffsbereit zielte ich auf den Eindringling und wollte schon einen Schockzauber losfeuern, als ich die Person als Shawn erkannte. Oder so.
Blutüberströmt, mit dreckigen und zerrissenen Klamotten stand er gekrümmt und zitternd vor mir, die Hand an seinen Kiefer gepresst. Der Zauberstab rutschte mir aus der Hand.
Ich rannte auf ihn zu, wusste jedoch nicht, was ich machen sollte, weswegen ich nur völlig geschockt vor ihm stand und meine Augen über das ganze Blut springen ließ. Ich bekam nicht mal das: "Was ist passiert?!", heraus.
"Wasser", krächzte mein Freund und stützte sich mit der blutverschmierten Hand an der Kommode ab.
Es passierte von ganz allein, dass der Schrank aufflog (und die zweite Kerbe in der Wand hinterließ), das herausschwebende Glas sich mit Wasser füllte und die Hälfte des Inhalts wieder verlor, als es neben Shawn auf die Ablage krachte. Ich stand nach wie vor unbeweglich vor ihm.
Shawn trank es in zwei Zügen leer und stellte es auf die Kante, sodass es runterrutschte und zerbrach. Eine weitere Schranktür öffnete sich, Kehrblech und Besen flogen heraus, und beseitigten die Scherben auf den Tisch, wo das Glas sich wieder zusammensetzte.
"Du bist ja noch besser geworden, in der Zeit, in der ich weg war", lächelte Shawn leicht und verzog sogleich vor Schmerz das Gesicht.
Ich konnte mich endlich aus dem Schock lösen und stürmte wutentbrannt auf ihn zu. Kurz vor ihm blieb ich wie ein beleidigtes Kind stehen, schaute hoch und trat ihm mit der voller Wucht meines sockenbestückten Fußes auf den Schuh.
"Aua! Was sollte das?", rief er erschrocken. Weh getan hatte es sicher nicht.
"SHAWN MENDES!", brüllte ich, verwandelte es jedoch sofort in eine Art Schrei, da Brüllen meinem Hals weh tat. "Ich würde dir ins Gesicht schlagen, wäre es nicht schon voller Blut!"
Shawn riss die Augen soweit auf wie ein junger Niffler in einem Goldverlies.
"Du verschwindest für fast sieben Wochen, ohne auch nur das kleinste Lebenszeichen zu verstreuen, und kommst dann ohne Vorwarnung einfach so, blutüberströmt, zurück und fängst an, mir Komplimente zu machen?!"
Ich atmete schnell ein und aus. Shawn starrte mich immer noch an.
"Was fällt dir ein?!", rief ich und mir strömten die ersten Tränen über die Wangen. "Du hättest tot sein können! Ich sitze hier verfluchten sechsundvierzig Tage ohne zu wissen, ob ich dich je wiedersehe, mache mir Vorwürfe, dass du vielleicht abgehauen bist, oder umgebracht wurdest, oder ich halluziniere und du eigentlich die ganze Zeit da bist, und dann apparierst du einfach so hier rein und siehst noch viel schlimmer aus, als ich es mir vorgestellt habe!"
Ich schniefte.
"Ich hasse dich! Wie kannst du nur! Drachenmist, ist das ein Schnitt? Tut es sehr dolle weh?"
Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen und inspizierte Shawns Wunde an der rechten Seite seines Unterkiefers. Es war eine tiefe Verletzung, die vom Ohrläppchen über den Knochen bis fast zum Kinn reichte.
"Das ist dein Hals, wir müssen das sofort behandeln. Bist du sonst noch irgendwo verletzt? Setz dich hin und beweg dich nicht. Hände weg von der Wunde, die sind genauso dreckig wie deine Klamotten. Nimm das Tuch hier. Ich ruf Olivia an. Nicht bewegen hab ich gesagt!"
Ich wuselte aufgebracht herum und versuchte zwischen dem ganzen Stress eine positive Erinnerung zu finden, um einen Patronus an Olivia zu schicken.
"Kassy?", murmelte Shawn leise und tupfte auf dem Schnitt herum.
"Nicht wegnehmen!", rief ich unter Tränen.
Er ignorierte mich und versuchte, meinen Blick aufzufangen. Nun musste ich der Niffler sein, welcher überfordert nachdachte, welche Schätze er zuerst plündern sollte. Schließlich traf ich seine Augen aus Versehen und blieb hängen.
"Es tut mir leid."
Das wusste ich. Und ich glaubte ihm, der Schmerz in seinem Blick war tausendmal stärker, als der in seinem Kiefer sein musste.
Liv tauchte relativ schnell auf und machte sich sofort ans Werk. Sie reinigte die Wunde, stellte Shawn ein paar Fragen und schloss den Schnitt mit ihrem Zauberstab. Zurück blieb eine wulstige rosa Narbe.
"Besser geht es nicht", sagte Liv ruhig. "Da steckt eine Menge schwarze Magie drunter. Es wird noch etwas abheilen, aber du kannst sicher sein, dass eine Narbe entstehen wird."
"Danke, Liv", sagte Shawn schwach und ließ seine dunklen Finger über den geschlossenen Schnitt fahren.
Liv warf mir einen Blick zu. "Bist du okay?"
"Natürlich", entgegnete ich zitternd. "Nein! Nein, bin ich nicht. Aber im Verhältnis, natürlich."
"Ich lasse euch dann mal allein. Shawn, du solltest das so schnell wie möglich im St.-Mungo abchecken lassen. Falls es in den nächsten Minuten aufgehen sollte, musst du sofort hin und dir Hilfe holen. Ich ... seh euch. Tschau."
"Danke, Olivia", flüsterte ich.
Liv nickte mir zu und verschwand. Mein Blick wanderte zurück zu Shawn und sofort begann meine Unterlippe zu beben. Ich stand neben dem Sofa, während Shawn auf dem Küchenstuhl am Tisch hing.
"Soll ich ... "
"Nein", unterbrach ich. "Geh erst duschen, schau nach, ob du noch irgendwo anders verletzt bist, und wehe du lügst mich an, zieh dir was Frisches an und wenn ich dann mit meinen drei Tassen starkem Tee fertig bin, darfst du dich erklären."
Shawn nickte, stand langsam auf und bewegte sich zum Bad. Seine Hand schwebte kurz über der Klinke, sank dann nach unten.
Er drehte seinen Kopf und nun, wo der Schnitt ganz verdeckt und das meiste Blut abgewaschen war, erkannte ich ihn.
"Ich liebe dich, Kassy." Dann öffnete er die Tür und verschwand dahinter.
Ich stolperte zurück zum Sofa und weinte stumm in die Kissen. Ich wollte nicht, dass Shawn mich hörte.
Hätte ich damit rechnen müssen? Shawn war ein Auror, ein richtiger, und Auroren wurden verletzt. Ich hatte damit gerechnet, aber nicht so früh. Nicht so heftig. Und nicht so überrumpelnd.
Ich hatte nicht erwartet, dass Shawn einfach so auftauchte und die Wohnung unter Blut setzte. Ich hatte erwartet, in einem solchen Fall benachrichtigt zu werden und im St.-Mungo aufzulaufen. Nicht selbst Arzt spielen zu müssen.
Als der erste Schock verebbte, bereute ich es, Shawn Duschen geschickt zu haben. Gerade erfüllte mich nur pure Angst. Das verwirrte mich, da die Gefahr nun vorüber war und ich mehr oder weniger alles in Ordnung wusste.
Dennoch machte ich mich so klein wie möglich und versuchte mein rasendes Herz zu ignorieren. Auch, als ich kaum noch atmen konnte. Auch, als ich mich nicht mehr bewegen konnte. Auch, als ich einfach die Luft anhielt.
Shawn erfuhr nichts. Ich hatte es gerade wieder geschafft, mich aufzusetzen und den Würgreiz runterzuschlucken, als die Tür zum Bad geöffnet wurde und Shawn völlig sauber mit einem Handtuch im Schlafzimmer verschwand. Die Tür blieb offen.
Still beobachtete ich ihn, während er sich umzog und seinen Kiefer im Spiegel begutachtete. Ich hatte fast vergessen, dass es mitten am Tag war. Die Wolken zogen sich langsam vor die Sonne und der eigentlich klare Septembertag verwandelte sich in einen sehr grauen Septembertag.
Ich ignorierte das physische Stechen meines Herzen und stand auf, um den Tee erneut aufzuwärmen.
Es wäre in der letzten Phase passiert. Als sie eigentlich schon nach Hause reisen sollten. Der Plan war, gemeinsam nach Cardiff zu apparieren und von da aus jeder direkt zu sich nach Hause. Damit keiner etwas von der Rückkehr mitbekommt. Um sich auszuruhen und später zur Besprechung zu treffen.
Es wäre in Cardiff passiert. An dem Treffpunkt sind alle angekommen. Sahen da schon so aus wie Shawn. Dreckig, müde, nicht wie sie selbst. Dann kam die erste Attacke. Das Blut. Jake wurde erwischt. Wer auch immer Jake war.
Shawn wäre als Dritter getroffen worden. Jeder war vom Apparieren geschwächt, keiner konnte so schnell reagieren. Hätte jeden irgendwie erwischt. Shawn wäre noch recht gut weggekommen. Wer den Fluch abgefeuert hat, wusste er nicht. Woher die Angreifer wussten, dass sie in Cardiff ankommen würden, wusste er nicht.
Alles sei streng geheim gewesen. Es musste einen Maulwurf geben. Cardiff wurde erst eine Stunde vor Abreise als Ziel festgelegt. Niemand außer der Spezialeinheit und zwei Zauberer in Cardiff wussten Bescheid. Shawn müsste sich wohl einer Befragung unterziehen, womöglich klopften sie an unserer Tür. Oder sie kamen einfach so rein. Ich sollte mich nicht erschreckten, wenn es so weit war und sie Shawn vielleicht abführten.
Mehr dürfte er mir nicht sagen, alles streng geheim. Ich sollte niemandem verraten, dass ich so viel wusste. Ich wusste zu viel. Er hätte mir nicht so viel Verraten dürfen. Er könnte seinen Job verlieren, vielleicht sogar in Askaban landen.
Während Shawn erzählte, kümmerten mich nur zwei Dinge: Mein Freund hätte sterben können und redete dennoch nur über seine Arbeit.
Ich fühlte mich egoistisch und dumm, so zu denken, aber das war es, was mir auffiel. Natürlich erklärte er alles und erzählte mir das, wonach ich verlangt hatte. Doch er machte sich schon wieder Sorgen, seine Stellung verlieren zu können, wenn er hätte sterben können.
Als die Beamten an unserer Tür klopften, öffnete ich sie lustlos und leitete sie sofort zu Shawn. Mein Freund wurde in Fesseln abgeführt.
Ich nahm alles ganz gelassen. Shawn hatte nichts verbrochen und wenn ich mich aufregte, litt ich nur doppelt. Das Einzige, was mir Sorgen bereitete, war Shawns Aussage, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Wann immer er dies versprochen hatte, kam er mit schlechten Nachrichten oder einer klaffenden Wunde am Unterkiefer zurück.
Es dauerte keine Stunde, dann kehrte Shawn zurück. Die Narbe war etwas verblasst und die Sorgenfalten auf seiner Stirn zurückgegangen. Er war nur befragt und ärztlich Versorgt, dann wieder freigelassen worden.
Wir redeten nicht mehr über den Zwischenfall. Normalerweise war ich pro Reden, allerdings gab es nichts mehr zu sagen. Shawn ging wieder zu den normalen Zeiten zur Arbeit und ich zu den normalen Zeiten zum Training. Wir frühstückten gemeinsam und verbrachten den Abend ab sieben Uhr zusammen.
Alles war gut. Mit jedem Tag breitete sich die Erleichterung in meinem Körper weiter aus. Es waren die kleinen Dinge - wie Shawn erschrocken schaute, wenn der Kaffee fast überlief; wie er fluchte, wenn er den Knoten seiner Schnürsenkel nicht aufbekam; wenn er sich nach dem Abendessen die Hüfte an der Tischkante stieß -, die mich daran erinnerten, wie sehr ich ihn liebte.
Wann immer wir gemeinsam Zeit verbrachten, konnte ich meine Stimmung nicht anders als glücklich beschreiben.
Doch unsere gemeinsame Zeit wurde stetig weniger. Ich hatte auch sonntags Training, wenn Shawn den ganzen Tag Zuhause war. Er wiederum wurde zu immer mehr Sondereinsätzen gerufen und verschwand. Zwar nie länger als für drei Tage, dennoch immer ohne ein Lebenszeichen.
In einer dieser Wochen, in der Shawn morgens aus dem Haus ging und abends nicht zurückkehrte, passierte jedoch etwas anderes.
Es war ein besonders stürmischer Novembertag und unser Training war abgesagt. Deswegen saß ich mit einer großen Tasse Tee und einer Decke in einem Sessel vor der Balkontür und las, während der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte. Als es klingelte, nahm ich einen großen Schluck aus der Tasse und schlug die Decke beiseite.
Alia stand vor meiner Tür.
Aufgelöst in Tränen und leichenblass, sodass ich erst gar nicht wusste, was ich machen sollte. Deswegen holte ich sie in die Wohnung und platzierte sie mit einer Decke auf dem Sofa. Bevor ich anfing, Fragen zu stellen, ließ ich sie zu Atem kommen.
"Wir ... St.-Mu...go ... so..fort", hörte ich sie schwer schniefen. "Lewis ... Unfall ..."
"Lewis hatte einen Unfall und liegt jetzt im St.-Mungo?", fragte ich erschrocken und schlug mir die Hand vor den Mund. "Hatte er heute nicht das Spiel gegen die Cannons?"
Alia nickte nur und kniff die Augen zu.
"Geht es ihm gut? Warst du da?"
Jetzt schüttelte sie den Kopf. "Wollte warten ... bis ... du mitkommen ..."
Ich sprang sofort auf und zauberte alle Lichter aus, meine Schuhe an und die Tür ab.
"Dann lass und keine Zeit verlieren. Los, komm."
Alia war zu aufgelöst zum Apparieren, weswegen ich sie mitnahm und wir nach dem Auftauchen in einer Seitengasse durch den strömenden Regen auf den Eingang des St.-Mungos zuliefen.
An der Rezeption fragte ich nach Lewis und bekam sofort Auskunft über seinen Aufenthaltsort. Wir wurden von einer Krankenschwester um ein paar verwirrende Ecken geleitet, ehe sie so abrupt stehen blieb, dass ich fast in sie hineinrannte (Alia stieß voll gegen mich). Zaghaft klopfte sie an die Tür zu unserer Linken, wartete aber nicht auf ein "Herein", sondern öffnete einfach.
Der Raum war komplett weiß, der einzige farbige Fleck war Lewis selbst, der auf der weißen Liege saß und ins Leere starrte.
"Er hat einen Schock", erklärte die Krankenschwester Alia leise, welche sich mittlerweile wieder einigermaßen beruhigt hatte, seitdem uns mitgeteilt worden war, dass Lewis nichts Ernstes fehlte.
Alia trat langsam auf ihren Freund zu. "Lewis?", flüsterte sie leise, doch er reagierte nicht.
"Was genau ist passiert?", fragte ich die Krankenschwester.
Ihr Blick huschte zu Alia. "Wir dürfen leider nur Angehörigen ... "
"Ich bin seine Freundin", entgegnete Alia beleidigt. "Und sie können Kassy ruhig alle Fragen beantworten, sie erfährt es früher oder später eh von mir."
"Ich darf nicht ... na schön ... also, er wurde uns direkt von den Heilern gebracht, die bei dem Quidditchspiel anwesend waren. Wegen des Unwetters hat Mr Johnson wohl die Kontrolle über den Besen verloren. Er war bei weitem nicht der Einzige, allerdings der Einzige, der gestürzt ist. Fünfzehn Meter in die Tiefe. Sein Sturz wurde abgefangen, doch er hat sich das Handgelenk und den Knöchel verstaucht."
Alia wich etwas von Lewis zurück.
"Die Heiler vor Ort haben diese Verletzungen sofort heilen können, aber Mr Johnson hat auf keine Ansprechversuche reagiert. Er wurde uns übermittelt, wir gehen von einem Schock aus, aus dem vermutlich ein Trauma folgen wird. Was genau passiert ist, wissen wir noch nicht, da wir keine Antworten bekommen. Momentan können wir nur spekulieren."
"Danke", sagte ich und trat etwas näher auf meine beiden Freunde zu.
"Ich lasse Sie erst mal allein. Oben in der Cafeteria warten einige Teammitglieder, jedoch lassen wir sie erst rein, wenn es Mr Johnson besser geht. Seine Eltern sind auf dem Weg."
Sie wandte sich zum Gehen, zögerte dann jedoch und drehte sich erneut um. "Sie sind also Miss Harrison, Mr Johnsons Lebensgefährtin?"
Alia nickte skeptisch.
"Ich soll Ihnen ausrichten, dass ein gewisser Jace Jones im Wartebereich sitzt. Er würde seinen Bruder gerne sehen, wollte aber auf ihr OK warten."
"Danke", sagte Alia einfach nur. Die Krankenschwester nickte und verließ den Raum.
Wir bewegten und ein Stück von Lewis weg und ich schaute Alia leicht lächelnd an. "Läuft es wieder besser zwischen den beiden?", fragte ich hoffnungsvoll. Ich hatte keinen der beiden je direkt darauf angesprochen, weil ich wusste, dass es sich um ein sensibles Thema handelte.
"Seit Lewis sich für Jace auf Luke geworfen hat, reden die beiden wieder miteinander und es wird von Jahr zu Jahr besser", erklärte Alia lächelnd. "Jace hat mir sogar eine Karte zum Geburtstag geschickt."
"Lässt du ihn rein?"
"Spinnst du?", grunzte sie leise. "Was ist das für eine Frage? Natürlich! Merlin, Jace ist hier und will Lewis sehen! Das ist der Erfolg des Jahrhunderts!"
"Ich geh ihn holen", lachte ich und verließ ebenfalls das Zimmer.
Kurz nach Jace trafen auch die Eltern der Brüder ein. Ich konnte ruhigen Gewissens gehen, denn Alia befand sich in guten Händen.
Zuhause verpasste ich der Wohnung eine Grundreinigung. Ich wusste, dass Shawn frühestens morgen Abend wiederkehren würde und verabredete mich für den folgenden Nachmittag mit Teddy.
Zuerst befürchtete ich, mich nach dem Treffen mit Teddy wieder zu langweilien, doch das Aufräumen brauchte länger als gedacht, sogar mit Zauberstab. Es kostete mich drei halbe Tage, um alles zu putzen, auszusortieren und wieder ordentlich hinzustellen. Am vierten Tag hatte ich kein Training, empfing aber Katie und Alia bei mir. Ich hoffte, dass ein KAK-Treffen Alia auf andere Gedanken bringen würde.
Lewis wohnte mittlerweile wieder Zuhause, sagte aber nach wie vor nicht viel. Die meiste Zeit saß er am Küchentisch und löste Kreuzworträtsel. "Das hat er noch nie gerne gemacht", hatte Alia sich gewundert.
Jace schneite nun häufiger bei den beiden vorbei, um nach seinem Bruder zu sehen. So auch heute, weswegen Alia den Nachmittag frei hatte.
Katie teilte uns mit, dass sie nach dem fünften Semester ein Forschungsjahr in China einlegen würde. Obwohl ich bereits ein Jahr Uagadou hinter mir hatte und mit meinem Platz bei den Arrows mehr als zufrieden war, schlug die Eifersucht sofort ein, gepaart mit dem Fernweh. Die bloße Aussicht auf Reisen wäre schön.
Am fünften Tag besuchte Alia mich erneut. Lewis' Eltern waren da und Alia hatte sich so überflüssig gefühlt, dass sie behauptet hatte, sie müsste noch dringend was erledigen und einfach verschwunden war.
Nachdem ich sie dafür ausgeschimpft hatte, ließ ich sie rein und bot ihr etwas von dem Kohlauflauf an. Ich hatte zu viel gekocht - Shawn war immer noch weg.
Meine beste Freundin erzählte mir, wie Lewis langsame Fortschritte machte. Die Prides versicherten seiner Familie, dass er nach seiner Genesung zu dem Verein zurückkehren könnte. Seinen Ausbildungsplatz bei den Medimagiern jedoch würde bald verloren gehen, wenn er nicht wieder gesund werden würde.
"Mach dir keine Sorgen", versuchte ich Lil zu beruhigen. "Er wird schon wieder. Hast du eigentlich - "
Ich hatte sie nach ihrem Aufsatz von letzter Woche fragen wollen, als ich von einem großen Waldkauz unterbrochen wurde, der auf der Eulenstange auf dem Balkon landete und sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Scheibe schmiss.
"Ist ja gut! Meine Güte, diese Eulen werden auch immer aggressiver", murmelte ich und öffnete die Tür.
Sofort bemerkte ich den kleinen Ring am Fuße des Eulerichs. Er war rot mit drei goldenen Sternen - das Zeichen der Englischen Quidditch-Nationalmannschaft.
Ich sagte jedoch nichts und nahm dem Kauz zunächst den äußerst schweren Brief aus dem Schnabel. Der Vogel deutete eine Art Verbeugung an und flatterte davon.
"Was ist es? Eine Nachricht von Shawn?", fragte Alia neugierig.
"Schön wär's. Natürlich nicht, ich hab doch gesagt, dass er nicht schreiben kann."
"Na, was ist es dann?" Lil setzte sich gerade hin und versuchte, einen Blick auf den Absender zu erhaschen. Doch es war keiner aufgeschrieben.
Leicht aufgeregt öffnete ich den Umschlag und zog die fünf Seiten Pergament raus. Direkt auf der ersten Seite schimmerte tatsächlich der offizielle Stempel des Nationalteams.
Ich warf einen kurzen Blick auf die anderen vier Seiten, die eigentlich nur aus kleingeschriebenen Absätzen bestand. Ähnlich wie das, was Shawn bei Rechnung immer als "das Langweilige" betitelte.
Diese vier Seiten landeten auf dem Tisch und Alia griff sofort danach. Ich widmete mich wieder der ersten und las sie diesmal ausführlicher.
Alia schien aus den vier Seiten nicht wirklich schlau zu werden und warf sie zurück auf den Tisch. "Wieso sollte dir die Nationalmannschaft so ein komisches Zeug schicken?", fragte sich und hob einen Fuß auf die Tischplatte.
Es musste mein geschockter Gesichtsausdruck gewesen sein, der sie eins und eins zusammensetzen ließ.
"Moment ..." Der Fuß wurde zurück auf den Boden gerissen. "Die haben doch nicht etwa ... wollen die ..."
Unkontrolliert fing ich an zu zittern, während Alia in den vier Seiten zu wühlen anfing. Ich konnte mich kaum bewegen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich mich übergeben hätte. "Doch", brachte ich unter rasendem Herzen nur schwer hervor. "Die ... die wollen mich in der Nationalmannschaft."
Es stellte sich heraus, dass es sich bei "dem Langweiligen" um einen Vertrag handelte, den ich bei Annahme des Angebots unterschreiben und zurückschicken müsste.
Alia rastete komplett aus und rief erst mal direkt Katie an, um die Neuigkeiten zu verbreiten. Ich starrte nur immer wieder auf den Satz, der das Angebot in geschwollenem Englisch verfasste und überlegte, ob ich es wirklich richtig verstanden hatte.
Ich spielte doch gerade mal ein halbes Jahr bei den Arrows. Wieso wollte mich die Nationalmannschaft plötzlich haben? War ich so gut? Oder gab es einen anderen Grund?
Alia drängte mich, sofort den Vertrag zu lesen und zu unterschreiben, doch ich schüttelte bloß den Kopf. Ich wollte erst ein wenig länger darüber nachdenken. Es musste einen Haken geben, sonst würde dieser Brief nicht einfach in mein Wohnzimmer fliegen.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich damit, zum Training zu gehen und das Verlangen zu unterdrücken, meinen Teamkollegen von der Anfrage zu berichten. Stattdessen versuchte ich herauszufinden, ob einer von ihnen ebenfalls ein Angebot erhalten hatte. Vor und nach dem Training arbeitete ich mich durch den Vertrag und versuchte dadurch, etwas an Erkenntnis zu erlangen.
Doch ich fand nichts. Rein gar nichts. Alles war komplett sauber und einen Haken hatte ich auch nicht erschließen können.
Am achten Tag grübelte ich zum dritten Mal an diesem Tag mit der Nase im Vertrag am Küchentisch, als die Haustür aufging und Shawn herein kam.
Ich sprang sofort auf und begrüßte ihn mit einem langen Kuss.
"Endlich. Ich hab schon angefangen, mir Sorgen zu machen", gab ich zu und schloss die Tür hinter ihm, während er seinen Umhang aufhängte.
"Ich mir auch", seufzte er. "Ich bin so kaputt. Aber das ist egal. Was hab ich verpasst? Wie geht's dir?"
"Lewis hatte einen Unfall", informierte ich ihn sofort und gab ihm die groben Einzelheiten. "Alia hat gestern geschrieben, dass er jetzt wieder normal redet und isst. Aber er meidet das Thema Quidditch komplett."
"Verständlich. Hauptsache, er besteigt je wieder einen Besen. Sonst noch irgendwas neues?"
Ich wollte den Kopf schütteln, dann fiel mir das Angebot ein. Es war komisch - sobald Shawn da war, vergaß ich alle meine Sorgen sofort.
Mein Blick fiel auf den Küchentisch und ich biss mir auf die Innenseite meiner Unterlippe.
"Was ist das?", fragte Shawn und ging auf den Vertrag zu. "Die englische Quidditch-Nationalmannschaft?"
"Sie haben mir geschrieben, ein Angebot gemacht ... sie wollen mich im Team haben."
"Kassy!", rief Shawn und wirbelte herum. "Das ist großartig! Ich meine - was?! Das - "
Er lief auf mich zu und schloss mich in die Arme. Ich musste lächeln.
"Ich bin so stolz auf dich."
Er küsste mich, hörte jedoch auf, als er merkte, dass ich nicht erwiderte.
"Was ist denn los? Freust du dich nicht?"
"Na ja, schon, aber ... ich habe den Haken noch nicht gefunden. Es kann nicht sein, dass sie mir einfach so ein Angebot schicken. Irgendwas läuft da im Hintergrund, aber ich weiß nicht, was. Und ich werde garantiert nicht unterschreiben, wenn ich nicht weiß, was."
"Ach, Kas", seufzte Shawn und drückte mich fest. "Du solltest aufhören, immer so an dir zu zweifeln. Sie wollten dich, weil du großartig spielst und England mal wieder zu einer Qualifikation verhelfen könntest. Es gibt keinen Haken, vor allem nicht, wenn du keinen gefunden hast."
Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Die übliche, die sofort wieder in mein Gesicht zurücksprang. "Freu dich einfach. Erkenne doch mal, was du erreicht hast. Akzeptiere, dass du das erreicht hast. Weil du gut genug bist. Weil du besser bist, als du glaubst."
Es tat gut, solche Worte zu hören. Selbst, wenn ich sie nicht ganz verinnerlichen konnte, tat es gut zu wissen, dass es dies war, was Shawn über mich dachte.
Ich umarmte ihn, doch er zuckte plötzlich zusammen. Sofort ließ ich ihn los.
"Ist alles okay?", fragte ich erschrocken.
"Alles bestens, ist nichts."
Ich wusste sofort, dass er log.
"Shawn, lüg mich nicht an. Du weißt, es bringt nichts."
"Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest", versicherte er mir, doch ich sah, wie er die Folgen des Schmerzes unterdrückte.
Mit einem Ruck zog ich sein Hemd aus der Hose und schob die Anzugweste nach oben. Vor meinen Augen entblößte sich ein riesiger gelblich-grüner Fleck, der sich über Shawns gesamten Bauchraum verteilte.
Jetzt lag es mir, sprachlos zu sein.
"Was ist passiert?", fragte ich sofort, brachte aber nicht mehr raus.
"Das ist schon mehrere Wochen her", antwortete er mit beruhigender Stimme, welche bei mir aber eher das Gegenteil auslöste.
"Mehrere Wochen?!", schrie ich. "Wieso sagst du mir nichts?"
"Weil es unwichtig ist."
"Unwichtig? Shawn, du bist verletzt und ich ... ich bin deine Freundin, das ist nicht unwichtig für mich! Nur weil ich es beim Umziehen und Sex nicht gesehen habe - wahrscheinlich, weil du es vor mir versteckst -, heißt das nicht, dass es mich nicht interessiert!"
"Aber es ist doch alles gut!", versuchte er sich zu erklären. "Es ist kurz nach der Cardiff-Sache passiert, aber es ist nicht schlimm. Die Stelle ist fast verheilt und hat auch bis vor kurzem nie weh getan."
"Ich dachte, ihr duelliert euch mit Zauberstäben, nicht mit Fäusten", murmelte ich nach wie vor fassungslos.
Shawn lachte leise. "Das ist das Resultat daraus, wenn dich jemand gegen eine Wand schleudert. Hör zu, es ... "
"Ich hör gar nicht zu!", rief ich und drückte seine Hände weg. Das konnte nicht wahr sein. Wann würde er endlich den Ernst der Lage begreifen? "Shawn, ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, von dem ich nie weiß, ob er wieder zurückkommt, wenn er aus der Tür raus ist!"
Das, was mir seit Wochen auf der Brust lastete, war jetzt raus. Ich konnte es endlich in Worte fassen. Ich wusste nicht, ob es der Schmerz oder die Erleichterung war, die mich zum Weinen brachte.
Shawns Gesichtszüge wurden plötzlich ganz weich und er schien von der Aussage getroffen zu sein. Hatte er nicht gewusst, wie es in mir ausgesehen hatte, all die Wochen? Dass ich nachts nicht schlafen konnte, wenn er nicht neben mir lag, und mehr als einmal fast an Todesangst gestorben bin, wenn er nicht wie angekündigt wiederkehrte?
"Kassy, ich komme immer zurück. Das verspreche ich." Seine Stimme schwankte leicht. Ich bemerkte, wie stark es ihn getroffen hatte. "Ich wollte dich nie so verletzen oder dir Angst machen. Ich wusste nicht, dass du dich wirklich so stark sorgst."
"Natürlich tu ich das", schluchzte ich. "Shawn, du bist ... alles. Ich liebe dich. Natürlich mache ich mir Sorgen."
Shawn sah noch verletzter aus. Ich wusste, ich würde nicht mehr aufhören zu heulen, wenn ich ihn weiter so sah. Deswegen kam ich zwei Schritte auf ihn zu und umarmte ihn vorsichtig.
Sein Oberkörper war angenehm warm und ich sog seinen Duft ein. Er roch nach Zuhause, obwohl er unterwegs gewesen war. Langsam schlangen sich seine kräftigen Arme um mich und drücken so fest zu, wie er sich traute.
"Du machst dir zu viele Sorgen", flüsterte er in meine Haare. "Ich wurde für diesen Beruf ausgebildet. Es gibt so viele wie mich und es ist in Jahren nichts wirklich ernsthaftes passiert. Es ist nun mal meine Arbeit, beim Quidditch kann genauso viel passieren. Und wir beide wussten, worauf wir uns einlassen. Ich mit meinem Beruf und du mit mir."
Ob ich das wirklich gewusst hatte, bezweifelte ich. Mir war nicht klar gewesen, dass es so extrem werden würde. Erst in den letzten Monaten erkannte ich es langsam und jetzt ... das.
"Dann ..." Ein Gedanke schoss durch meinen Kopf, der mir nach zweimaligem Hin- und Herwerfen gar nicht so blöd erschien. "Dann nimm ab sofort ein Handy mit."
Shawn zog seinen Oberkörper weg und schaute mich schief an. "Was?"
"Ein Handy. Ein Telefon, du weißt schon."
"Du willst, dass ich Muggeltechnik mitnehme?", grinste er.
Ich fand das gar nicht lustig. "Das ist kein Scherz", sagte ich ernst. Shawns Grinsen verblasste. "Alia und Katie benutzen das auch. So kannst du dich vernünftig und zeitlich melden."
"Kassy, du weißt doch, ich darf nicht ..."
"Ich will ja auch nicht, dass du mir was sagst", erläuterte ich. "Keine Erklärungen, keine Einzelheiten. Ich will nur hören, dass du noch lebst und dich verspätest."
Shawn blickte kurz ins Nichts und biss sich auf die Lippe. Als er mich wieder ansah, erkannte ich den Glanz seiner Augen, den ich am meisten liebte.
"Das sollte sich machen lassen", nickte er. "Ich verstoße gegen keine Regeln und wenn es dich beruhigt, würden die mich auch nicht interessieren. Aber Versprechen kann ich nichts, manchmal ist die Magie um uns herum zu stark und dann ist das Ding kurzzeitig tot."
Ich stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn. Meine Hand fuhr durch seine weichen Haare, die vor Staub nur so strotzen, doch das war mir egal. Fürs Erste schien es wohl wieder bergauf zu gehen, er war immerhin bereit auf mich zuzukommen.
Und nach allem, was ich jahrelang gepredigt hatte, musste ich mich wohl bei Alia entschuldigen: Vielleicht waren Muggel doch nicht so blöd.
ϟ ϟ ϟ
Ich finde Telefone super. Ihr? xD
Ihr merkt, Kassy steigt richtig auf. Denkt ihr, es gibt einen Haken an der Nationalteam-Sache?
Und ist es bei euch momentan auch so unglaublich heiß? Ich schmelze hier!
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 03.07.2020 (Friday)
[27.06.2020]
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