Kapitel 4 ϟ Extra Exercise

Hell Nos And Headphones - Hailee Steinfeld ♪♫

Insgeheim ärgerte ich mich, dass ich Shawn hatte einfach so stehen lassen.

Er war extra wegen mir in die Bibliothek gekommen, was ich nie im Leben erwartet hätte.

Noch nie hatte ein Junge extra was für mich getan; generell kamen Dinge dieser Art eher selten vor.

Henry war der einzige Junge (neben Teddy natürlich), mit dem ich Kontakt hatte und das nur, weil er quasi durch unser Vertrauensschüleramt gezwungen war, sich mit mir zu unterhalten.

Andererseits war mir klar, dass ich mir nur unnötige Hoffnungen machen würde. Da musste ich Mel recht geben, unmöglich interessierte Shawn sich für mich.

Aber ich kannte mich und wusste daher, dass ich früher oder später anfangen würde, mir Sachen vorzustellen, die niemals eintreten würden.

Shawn war einfach nur nett. Wahrscheinlich riss er diese ganze Szene nur, weil ich ihm leid tat.

Ich tat ihm leid, weil ich der stummste Fisch im Aquarium war und häufig alleine blieb.

Aber ich war glücklich. Ich hatte meine Freunde und nur weil diese die einzigen waren, die sich an meinen Namen erinnerten, bedeutete das nicht, dass ich Mitleid von anderen brauchte. 

Ich beobachtete sowieso viel lieber, als selbst im Mittelpunkt zu stehen.

Pünktlich um siebzehn Uhr stand ich im Erdgeschoss vor Filchs Büro und klopfte.

Da das Abendessen jetzt erst anfing, hatte ich mir schon vorher was aus der Küche besorgen müssen. Dank Teddy kannte ich den Eingang der Küche, in der es von Hauselfen nur so wimmelte.

Ich hatte freundlich nach einem Stück Pastete und einer Hühnerkeule gebeten und das Bestellte dann auf einem Teller in die Hand gedrückt bekommen, nachdem ich den grantigen Hauselfen mit zehn Sickeln hatte bezahlen müssen.

Von der anderen Seite der Tür ertönte ein griesgrämiges: "WAS!", und ich öffnete sie. Sofort schlug mir ein fauliger Geruch entgegen und ich musste fast würgen.

"Ach, eine von den Randalierern. Da hin setzten, los", befahl Filch mit finsterer Miene und zeigte auf einen der drei ziemlich hart aussehenden Holzhocker.

Seufzend ließ ich mich nieder und behielt mit meiner Vermutung Recht - der Hocker war wirklich unbequem.

"Wo sind deine beiden schmierigen Freunde?", fragte Filch und kraulte seiner Katze Mrs. Norris den Nacken. Sie schnurrte leise und hielt ihre Augen geschlossen, was mich beruhigte. Es gab nichts schlimmeres, als von Mrs. Norris mit ihren roten Augen angestarrt zu werden.

"Das sind nicht meine Freunde", stellte ich klar. "Und ich weiß es nicht."

"Dann wirst du schon mal ohne sie anfangen."

Filch bückte sich und zog eine große Kiste aus einem der unteren Regale. Er stellte sie mit einem lauten Rums auf dem Tisch ab, sodass der Staub durch die Luft wirbelte, und ich ihn mir mit wilden Handbewegungen vom Leib zu halten versuchte.

"Das hier ist ein Teil von dem Verzeichnis dieser kleinen niederträchtigen Übeltäter, wie ihr es seid. Da stehen alle Namen und Strafen drin. Ihr werdet das für mich in Ordnung bringen, denn einige dieser Karten sind älter als deine Urgroßmutter und nicht intakt. Ah, da ist ja schon der nächste Schlossschänder. Setzen!", blaffte Filch Shawn an, der ohne zu klopfen einfach in das kleine schäbige Büro getreten war.

"Jeder von euch Ratten kriegt zehn Karteikästen, die er auf schlampige Arbeit zu untersuchen hat. Ihr werdet die verblasste Tinte nachziehen oder die Karte neu schreiben. Wenn ihr heute nicht fertig werdet, dann kommt ihr morgen wieder."

"Professor McGonagall sprach von Nachsitzen, nicht Nachsitzen und Strafarbeit."

"Sie sprach von Nachsitzen bei mir und das bedeutet Nachsitzen nach meinen Regeln", brauste Filch auf und Mrs. Norris fauchte. Ihre roten Augen öffneten und klammerten sich in meinem Gesicht fest.

"Hier sind eure Karteikästen", fuhr Filch wieder etwas ruhiger fort und hob aus der großen Kiste mehrere kleine heraus. "Die haben von allen oberste Priorität. Bole, du machst tausenddrei bis tausenddreizehn."

Er knallte mir zehn Karteikästen vor die Nase und der Staub wurde wieder aufgewirbelt.

"Mendes..." Filch schaute kurz auf die Nummern. "Tausendzweihundertacht bis tausendzweihundertachtzehn."

Auch Shawn bekam die Kästen vor die Nase geschmissen.

"Und der andere macht mehr, der macht siebenhundertvierzig bis neunhundertdrei. Wenn ich auch nur einen Zauberstab sehe, ich habe noch mehr Kästen. Reden ist verboten. Und jetzt fangt an."

Filch schmiss sich in seinen verranzten Stuhl und grinste gehässig. Ich seufzte und zog den ersten Karteikasten an mich ran. Beim Öffnen kam mir noch mehr Staub entgegen und ich musste leise husten.

Die begangenen Straftaten waren nicht besonders spannend. Meistens handelte es sich um Zauberei auf den Gängen, den Besitz von Fangzähnigen Frisbees (die nach Filchs Liste im Schloss verboten waren) und aus Versehen laut gesagten Beleidigungen gegen Lehrer. Nur gelegentlich kamen auch mal angewendete Zauber gegen andere Schüler vor.

Nach einer halben Stunde kam auch Maddox in den Raum und es wurde noch stickiger. Filch erklärte ihm seine Aufgabe und mir fiel auf, dass er zehn Kästen hinzugefügt hatte. Wahrscheinlich, weil Maddox zu spät war.

Nach einer weiteren halben Stunde war ich bei Kasten eintausendsechs angelangt. Ich schrieb gerade eine Karte neu, die von einer Maus halb aufgefressen wurde. Das "Verbrechen" war die Anwendung eines Zaubers namens "Levicorpus" gegen den Schüler Severus Snape. Wer diesen Zauber angewendet hatte, konnte ich nicht lesen, denn das hatte die Maus mit sich genommen. Aber ich war neugierig, was wohl passiert war, denn den Zauber kannte ich nicht.

Als ich die Karte zurück in den Kasten steckte, ging plötzlich eine Katzenklappe in der Wand auf und Mrs. Norris kam hereingesaust. Ich hatte vorhin gar nicht gemerkt, wie sie abgehauen war.

Filch, der bis eben in einem speckig aussehenden Buch gelesen hatte, ließ die Katze auf seinen Schoß springen, wo sie ihn mit ihren Augen ansah und aufgebracht miaute.

"So so", murmelte Filch und ein sehr breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. "Endlich, wurde auch langsam Zeit."

Er stand auf und ging zur Tür.

"Ihr bleibt hier", befahl er barsch und knallte die Tür hinter sich zu.

Ohne zu zögern holte Maddox sofort seinen Zauberstab raus, verhexte die Feder, sodass sie von alleine schrieb und ging aus dem Büro.

"So schnell kann's gehen", sagte Shawn belustigt und zuckte mit den Schultern.

Ich lächelte leicht.

"Bei welchem Kasten bist du?", fragte er mich.

"Eintausendsechs", seufzte ich. "Also beim vierten ... du?"

"Auch", antwortete er.

Ich sagte nichts mehr, sondern beugte mich zurück über die Karten und ließ meine Haare vors Gesicht fallen, damit Shawn mich nicht sehen konnte.

"Es tut mir leid, dass ich dich heute Morgen einfach so gestört habe", sagte er plötzlich, hörte aber nicht auf, das Geschriebene auf seiner Karteikarte nachzuziehen.

"Ist schon okay, ich war auch ziemlich grob, tut mir leid", sagte ich leise.

"Du warst grob? Nein, ich hab gedacht, ich würde dich kennen, nur weil ich das wusste, was alle über dich sagen. Aber ich kann verstehen, dass das längst nicht alles ist und auch nicht der richtige Weg. Erzähl mir ein bisschen was über dich."

Ich stutzte und legte meine Feder zur Seite. "Was?"

"Du sollst mir ein bisschen über dich erzählen. Ich weiß wirklich gar nichts über dich und kann dich nur ziemlich schwer einschätzen. Du bist fünfzehn, oder?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, sechzehn."

Shawn schaute mich verwirrt an. "Sechzehn? Aber das bedeutet, dass du schon Geburtstag hattest. Am ersten September?"

"Nein."

"Aber nicht gestern, oder?", fragte er panisch.

Ich kicherte. "Nein, auch nicht."

"Dann am zweiten", sagte er überzeugt.

Doch ich schüttelte nur erneut meinen Kopf.

"Halt", kombinierte Shawn. "Nein."

"Doch", seufzte ich.

"Heute?!", fragte er geschockt und machte Anstalten, gleich etwas umzuschmeißen.

"Muss ja, was?"

"Oh Scheiße, und ich bin schuld, dass du jetzt hier sitzt und scheiß Karteikarten abschreiben darfst. Das - tut mir so leid, echt. Mist, irgendwie bringe ich dir nur Pech."

"Also ein einfaches Happy Birthday hätte mir gereicht. Es ist ja nicht deine Schuld, dass Maddox so ein Arsch ist."

"Du hast recht, Happy Birthday."

Er lächelte mich an und schaute mir schon wieder in die Augen.

Schnell senkte ich meinen Blick und schrieb die Karte weiter nach.

Shawn blieb still, doch noch einer Weile sah ich aus dem Augenwinkel, wie er seine Feder beiseitelegte. Ich hob den Kopf.

"Was ist los?"

"Die Karte hier...die Schrift ist verblasst, aber hör dir das an: Harry James Potter. Bestraft wegen Verwendung schwarzer Magie gegen Draco Malfoy. Malfoy mit schweren Wunden aufgefunden. Nachsitzen bis ans Schuljahresende und Erneuern der Karteikästen eintausendzwölf bis eintausendvierhundertsechsunddreißig. Du hast doch Kasten tausendzwölf?"

Mir blieb der Mund offen stehen und ohne zu zögern zog ich den vorletzten Kasten aus dem Stapel.

Ich öffnete den Deckel und zog eine der Karten raus. Ich las sie mir durch und meine Augen wurden groß. Ich legte sie auf den Tisch, damit Shawn sie auch lesen konnte.

James Potter und Sirius Black. Aufgegriffen während der Verwendung eines illegalen Zaubers gegen Bartram Aubrey. Aubreys Kopf doppelte Größe. Zweimal Nachsitzen.

Am unteren Rand der Karte war etwas sehr klein geschrieben, was genauso verblasst war, wie die obere Schrift.

Severus Snape ist ein stinkiger Sack, gez. H.P.

"Ich glaub's ja nicht", fing Shawn an zu lachen. "Wir haben gerade Schulgeschichte gefunden! Wie cool ist das denn!"

Er kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen und auch ich konnte es mir nicht verkneifen.

"So, weiter im Text", beschloss Shawn und da ich dachte, dass er die Strafarbeit meinte, nahm ich meine Feder und wollte weiter abschreiben.

Er jedoch fragte: "Was ist dein Lieblingsfach?"

Ich brauchte nicht lang zu überlegen. "Zauberkunst", antwortete ich und lächelte leicht.

"Wirklich?"

Jetzt sah ich auf. "Ja, wieso sollte ich lügen?"

"Bist du denn gut?"

"Ähm ... ich würde sagen, dass ich nicht schlecht bin", gab ich zu.

"Ich ... bräuchte nämlich ... na ja, sowas wie Nachhilfe wäre nicht schlecht."

Verlegen und unsicher lächelte er mich an.

"Moment - du brauchst Nachhilfe?"

"Wieso sagst du das so komisch?", warf Shawn mir glucksend vor.

"Weil du Shawn Mendes bist! Du bist in jedem Fach gut und ich glaube kaum, dass Nachhilfe einer Fünftklässlerin dir helfen würde."

Jetzt hätte ich schon wieder im Boden versinken können. Was musste Shawn nur von mir denken, wenn ich ihn jedes Mal so direkt anfuhr?

"Ich hatte in den ZAGs zwar ein O, aber ich bin deutlich schlechter geworden", erklärte Shawn unbeirrt, "und ich schaff bestimmt keine gute Note in den UTZ-Prüfungen, wenn ich mich nicht bessere."

"Und was lässt dich glauben, ich könne dir helfen?", fragte ich um Längen freundlicher.

"Das Buch, was ich mir ausgeliehen habe, wurde von dir schon letztes Jahr ausgeliehen, dein Name stand drin. Das ist Stoff der sechsten Klasse und jetzt, da ich weiß, dass dein Lieblingsfach Zauberkunst ist, glaube ich kaum, dass du es einfach nur so ausgeliehen hast."

Jetzt hatte er mich erwischt.

"Okay, vielleicht bin ich in Zauberkunst wirklich gut. Aber alle Sprüche habe ich auch nicht hingekriegt", gab ich zu bedenken.

"Na und? Ich brauch nur jemanden, der mir sagt, was ich falsch mache. Verteidigung gegen die dunklen Künste und Verwandlung ist kein Problem, aber für Zauberkunst bin ich einfach zu blöd."

Ich überlegte. War das eine gute Idee? Was würden die anderen von mir halten, wenn ich Shawn Mendes Nachhilfe gäbe? Er konnte jeden anderen danach fragen, in seinem Jahrgang gab es einen Haufen Leute, die das übernehmen könnten.

Und was war mit Melody? Einerseits würde ich Shawn gerne helfen, allein, um ihr zu zeigen, dass ich auch sehr gut ohne sie zurechtkam. Andererseits war mir klar, was für Gerüchte sie über mich verbreiten würde, wenn sie das mitbekam.

"Also, was sagst du?", fragte Shawn, als ich nicht antwortete.

Doch bevor ich eine Gegenfrage stellen konnte, flog die Tür auf und Shawn und ich griffen erschrocken nach unseren Federn.

Wir beugten uns über die Karten und Filch kam zurück in sein Büro, im Griff einen jüngeren Schüler.

"Dein Vater und vor allem dein Großvater haben Einiges angestellt", grummelte Filch und stellte den Schüler in die Ecke.

Shawn zog eine Augenbraue hoch und sah mich fragend an. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wir trauten uns nicht, hoch zu gucken.

"James Potter, James Potter", murmelte Filch und suchte in einem Kasten nach einer Karte.

Shawn und ich sahen uns mit großen Augen an und mussten uns das Lachen verkneifen. Langsam häuften sich die Zufälle.

"Hier, James Sirius Potter, du Biest."

Triumphierend zog Filch eine Akte aus dem Kasten und breitete sie aus.

"James Sirius Potter", nuschelte er, während er schrieb, und spuckte das letzte Wort aus. "Erwischt bei illegalen ... Aktivitäten im ... siebten ... Stock. Isabell ... Goldstein ... fehlen alle ... Haare."

Ich unterdrückte ein Grunzen und Shawn hatte zu kämpfen, denn seine Lippen waren aufeinander gepresst.

"Das war nicht ich, das war Fred", widersetzte James sich empört.

"Was? Welcher Fred?" Filch fuhr herum.

"Fred Weasley, der war das!"

"Fred Weasley?", wiederholte Filch laut und panisch. "Dann kriege ich den auch noch dran! Nachsitzen!"

James stöhnte.

"Und jetzt verpiss dich", scheuchte Filch den jungen Potter aus seinem Büro. "Morgen um zehn Uhr!"

Das ließ James sich nicht zweimal sagen und stürmte mit einem frechen Grinsen aus dem Büro.

"Wo ist der andere", schnauzte Filch uns an und zeigte auf Maddox leeren Stuhl und die Feder, die nach wie vor von selbst schrieb.

Shawn und ich zuckten nur mit den Schultern. Filch knurrte. Er schien zu überlegen.

"Raus jetzt!", brüllte er plötzlich mit seiner kratzigen Stimme und Shawn und ich zuckten zusammen.

Schnell packten wir unsere Federn und die Tinte ein und schnappten unsere Sachen.

"Ihr seid morgen um zehn wieder hier und macht das zu Ende", schmiss uns Filch noch nach, bevor die Tür zuknallte.

"Was geht bei dem", keuchte ich und stützte mich an der Wand ab.

Shawn streckte sich. "Keine Ahnung, aber die könnten die Hocker mal gegen Stühle mit einer Lehne austauschen."

Ich nickte und streckte mich ebenfalls. Zum Glück knackte mein Rücken diesmal nicht.

"So, was hast du jetzt noch vor?", fragte Shawn.

"Wieso vorhaben?", fragte ich irritiert.

"Es ist dein Geburtstag, willst du nicht feiern? Jetzt hast du doch Zeit, es ist erst halb neun."

"Nein, lass mal. Ich glaube, ich gehe einfach in die Bibliothek und lese ein bisschen, mache vielleicht noch Hausaufgaben, mal gucken."

Shawn sah mich vorwurfsvoll an.

"Zieh die Augenbrauen nicht so hoch!", feixte ich sarkastisch und Shawn lächelte sofort.

"Kassy, es ist dein Sechzehnter, da kannst du nicht das tun, was du immer tust", argumentierte er.

"Was anderes ist hier aber schlecht möglich", widersprach ich.

"Wir könnten Zauberschach spielen", schlug er vor, aber ich schüttelte nur den Kopf.

"Shawn, das ist echt nett von dir, aber ich kenne dich kaum. Ganz genau genommen hättest du mich schon längst wieder vergessen, wenn wir nicht hätten Nachsitzen müssen."

Shawn schaute beleidigt. "Hätte ich nicht", trotzte er ein wenig gekränkt.

"Doch, hättest du, denn das tun ständig alle. Aber das ist okay, weil ich - "

Ich schüttelte den Kopf, denn es widersprach meiner Natur, Leuten Vorträge zu halten. Aber bei Shawn sah ich keine andere Möglichkeit.

"Hör zu, du hast deine Freunde und ich hab meine Freunde. Wir befinden uns absolut nicht in einer Liga, was unsere Freunde, unser Können und unsere Verantwortung betrifft. Du bist Schulsprecher geworden, weil du offen auf andere zugehst. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie jemand auf die Idee kommen konnte, mich zur Vertrauensschülerin zu machen. Wie du gesehen hast, hab ich es direkt verkackt. Ich kann nachvollziehen, dass du Mitleid hast - "

"Ich hab kein Mitleid!", unterbrach Shawn mich. "Ich finde dich nur nett!"

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, schoss es mir durch den Kopf. Allein aus meiner Überzeugung heraus konnte ich Shawn nicht glauben. Ich wusste, wie Menschen mich sahen und wie sie mich abstempelten.

"Na und? Das ändert nichts! Es passt nicht, verstehst du das denn nicht? Du stehst viel weiter vorne und oben als ich. Nichts für Ungut, aber deine Bemühungen sind umsonst. Denn ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wieso ich hier eigentlich stehe und mich mit dir unterhalte. Aus meinem Mund kommt sowieso nur Müll und ich bin die letzte, die gut darin ist, sich Freunde zu machen. Früher oder später wirst nämlich auch du merken, dass ich mir selbst im Weg stehe."

Ich musste so rot wie eine Tomate sein, denn mir war entsprechend heiß und ich musste die Tränen zurückhalten. Die Panik stieg auf.

Mein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Ich war absolut nicht der Typ, der Leuten seine Meinung ins Gesicht sagte, aber diesmal hatte der sture Blick Melodys mich nicht abgehalten und da war es einfach mit mir durchgegangen.

Shawn stand eine Weile da und musterte mich sprachlos. Seine Augen huschten über mein Gesicht hinweg, aber er ließ sie nie länger als den Bruchteil einer Sekunde auf meinen Augen ruhen.

Er wollte ansetzen, etwas zu sagen, als am Ende des Gangs Stimmen und Schritte zu hören waren.

Um die Ecke kamen Hannah Khan, Nico Goyle, Dorothy Stevens und Melody. Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und seufzte leicht.

"Freunde von dir?", fragte Shawn leise.

"Nicht so wirklich ...", murmelte ich.

"Kassy!", rief Melody und ich hörte sofort die gespielte Fröhlichkeit in ihrer Stimme.

Shawn drehte sich, nachdem er geschaut hatte, wer da kam, wieder zu mir und trat auf mich zu.

"Ich will euch dann nicht weiter stören."

Er sah mich nicht an und lief an mir vorbei.

"Nein, Shawn, warte!", rief ich ihm hinterher, aber er drehte sich nicht mehr um. "So meinte ich das doch gar nicht..."

Ich stieß die Luft aus.

Vielleicht war es tatsächlich besser so.

Shawn und ich waren zwei völlig verschiedene Menschen und unsere Umfelder komplettierten einfach nicht miteinander. Ich musste jetzt das akzeptieren, was ich ihm eben gesagt hatte.

Denn letztendlich endete es vermutlich so wie alle Beziehungen, die ich unüberlegt einging - Melody und meine Kindheit waren das beste Beispiel.

Solange er nicht meine größte Angst erfüllte und seinen Freunden von meinem Ausbruch erzählte, konnte ich damit leben. Irgendwie.

"Alles Gute zum Geburtstag!"

Melody war nun bei mir angekommen und umarmte mich fest. Ich konnte es nur halbherzig erwidern.

"Danke", sagte ich leise.

Auch Hannah, Nico und Dorothy wünschten mir Alles Gute, obwohl ich wusste, dass sie vermutlich nicht mal meinen Vornamen kannten (wenn Mel ihn nicht gerade durch den Gang geschrien hätte) und mir nur gratulierten, weil Mel es getan hatte.

Ich verwettete mein Abzeichen darauf, dass auch Nico mich nicht mehr zuordnen konnte. Eigentlich war mir das sogar ganz recht.

"So großzügig wie ich bin, habe ich dir deinen Fehler im Zug natürlich schon längst verziehen", säuselte Melody. "Also mach dir keinen Kopf, jeder macht mal Fehler. Du in letzter Zeit ziemlich viele, aber na ja."

Diese Anspielung auf meinen Vater nahm ich ihr ziemlich übel.

"War das gerade Shawn? Was wolltest du von ihm? Ein Autogramm und er hat dich abblitzen lassen?", fragte sie und die anderen lachten.

"Nein", grummelte ich. "Komplizierte Geschichte..."

"Hast du das mitbekommen? Gestern gab es ein Duell im vierten Stock. Maddox hat erzählt, es sei Shawn gewesen, und eine Ravenclawschülerin. Weißt du, wer das war?"

Es war ja sonnenklar, dass Maddox meinen Namen nicht mehr wusste und Melody nie im Leben eins und eins zusammenzählen konnte.

"Nein, ich hab gar nichts mitgekriegt", log ich und Melody hakte sich bei mir unter. Ich hasste diese Position.

"Nein? Dann werde ich dir das jetzt erzählen und wir machen dann irgendwas zusammen. Ich hab jetzt Lust auf eine Runde Zauberschnippschnapp mit Hannah, ja? Kassy, du kannst ja zuschauen!"

Mel schien wirklich unglaublich überzeugt von ihrer Idee zu sein und ich seufzte innerlich auf.

Also ließ ich mich in die Bibliothek entführen.

"Aber ihr wollt doch nicht hier spielen, oder?", fragte ich Mel.

"Na klar, wo sonst? Du kannst natürlich auch mit in den Gemeinschaftsraum kommen ..."

Schnell schüttelte ich den Kopf. Das letzte, was ich jetzt wollte, war Maddox zu begegnen. Außerdem hatte ich nichts bei den Slytherins zu suchen.

"Siehst du, ist doch nichts dabei. Hannah!"

"Nein, Mel, wenn ihr spielen wollt, dann macht das. Aber ohne mich. Eigentlich müsste ich das nämlich melden."

"Du bist so eine Langweilerin", rief sie aus.

"Ich gehe ins Bett", murmelte ich, ohne einen von den Slytherins noch einmal anzusehen.

"Mach doch, du kleiner Streber!", rief Mel mir nach und lachte.

Was war bloß mit ihr passiert? Früher war sie ganz anders. Wieso suchte ich mir immer die falschen Freunde aus?

Auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum musste ich an Shawns Worte denken. Er hatte recht, es war mein Geburtstag und ich wollte noch nicht schlafen gehen.

Ich wollte etwas machen, was ich sonst nicht machte.

Also lief ich die Wendeltreppe zum Turm hoch, hielt aber auf etwa der Hälfte an und suchte nach einem braun angelaufenen Stein. Ich musste noch ein wenig nach oben gehen, aber schließlich hatte ich ihn gefunden.

Schnell versicherte ich mich, dass sich sonst niemand in der Nähe befand. Dann zog ich meinen Zauberstab, tippte auf den Stein und murmelte: "Descendo!"

Der Stein bewegte sich nach unten.

Die Lücke war gerade groß genug, dass ich hindurch passte. Ich quetschte mich durch den Gang und das Loch hinter mir schloss sich wieder.

"Lumos", zauberte ich und die Spitze meines Zauberstabs leuchtete auf.

Ich lief geduckt den engen Gang entlang, bis ich irgendwann auf eine Wand traf. Erneut zauberte ich den Stein beiseite und der Weg nach draußen wurde frei.

Von außen sah man diesen Geheimgang und auch den Mauervorsprung nicht. Ich hatte ihn damals durch Zufall gefunden, als Teddy sich am Nachmittag über seine Hausaufgaben aufgeregt hatte. Er erwähnte den Zauberspruch und seine Wirkung. Als ich abends die Wendeltreppe hinaufgegangen war, sprang mir wie schon öfters der Stein ins Auge und ich probierte den Zauber aus.

Seit dem war ich nicht mehr hier gewesen. Obwohl ich das Fliegen liebte, ging mir die Höhe nahe und mir wurde trotz des breiten Vorsprungs mulmig zumute.

Ich setzte mich hin und rutschte vorsichtig bis an die Kante. Ich ließ meine Beine über dem Vorsprung baumeln und stützte mich nach hinten mit meinen Armen ab. Doch als mein Ellbogen sich meldete, änderte ich meine Position und saß aufrecht an der Kante.

Mein Blick schweifte über die Ländereien. Ich liebte Hogwarts über alles, es war unglaublich schön hier.

Der Mond schien und es war noch relativ hell, denn die Sonne war erst vor einer Stunde untergegangen. Die ersten Sterne prangten am Himmel und ich suchte nach dem Sternbild, nach dem ich benannt wurde.

Ich lächelte leicht, als ich es gefunden hatte und ließ meinen Blick weiter über die Hügel wandern.

Der große See lag zu meinen Füßen und hinter dem dichten Wald konnte ich einige Lichter erkennen. Dort war das einzige Dorf Großbritanniens, wo ausschließlich Hexen und Zauberer lebten: Hogsmeade.

Die Wiesen leuchteten dunkelgrün und dort, wo hohe Tannen den Boden bedeckten, war es fast schwarz.

Der Wind war kühl, aber nicht stark, sodass ich nicht fror.

Nach einiger Zeit nahm ich eine Bewegung neben mir war und normalerweise hätte ich mich vermutlich so stark erschrocken, dass ich runtergefallen wäre.

Doch mir war bewusst, dass ich Besuch bekam, auch wenn er relativ selten war.

"Guten Abend, Helena", begrüßte ich unseren Hausgeist.

Sie ließ sich neben mir nieder, sodass sie wenige Zentimeter über dem Boden schwebte.

"Guten Abend, Kassiopeia."

"Ein wunderbarer Sonnenuntergang, nicht?", schmunzelte ich leicht und sah auf den hellblauen Himmel, der immer dunkler wurde.

"Wunderschön, ja", bestätigte sie.

"Was führt Sie her?", wollte ich wissen.

"Ich habe gesehen, wie du hier hinauf geschlichen bist. Ich dachte, ich leiste dir ein wenig Gesellschaft. Wie ich hörte, ist der heutige Tag dein Geburtstag?"

"Das ist sehr nett von Ihnen, Helena. Ja, heute ist mein Geburtstag, aber ich mache da keine riesen Sache drum. Ich freue mich, wenn mir jemand gratuliert, aber im Allgemeinen ist mir das nicht wichtig. Denn die, die mir wichtig sind - "

"Vergessen es nicht", beendete Helena meinen Satz. "Sehr weise."

"Danke."

Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander und ich hing meinen Gedanken nach. Nach einigen Minuten später ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken zu Shawn abdrifteten.

Ich fragte mich, ob er mich jetzt tatsächlich in Ruhe lassen würde. Es wäre durchaus schade, aber ich behielt in meiner Sicht Recht; es war besser so.

"Woran denkst du?", fragte Helena leise.

"Was wissen Sie über Shawn Mendes?", stellte ich flüsternd eine Gegenfrage.

"Der Schulsprecher? Nick schwärmt von ihm, immer wenn wir uns unterhalten, kommt er zur Sprache. Er soll ein talentierter Bursche sein."

"Glauben Sie, es wäre schlau, die geregelte Ordnung durcheinander zu bringen?"

"Es kommt ganz drauf an", überlegte Helena, "ob es sich lohnt oder ob das Ergebnis verwerflich ist."

"Wenn man nicht weiß, ob es sich lohnt?"

"Risiken eingehen birgt immer eine gewisse Gefahr und dann ist der einzige Weg, diese zu erkennen, gründlich darüber nachzudenken und mit Intelligenz zu handeln."

"Sie haben..." Ich zögerte. Helena sprach nur äußerst selten über die Vergangenheit und ich hatte Angst, dass sie gehen würde, wenn ich meinen Satz fortführte.

"Was habe ich?"

"Sie haben Harry Potter damals von dem Diadem erzählt", formulierte ich vorsichtig und schaute Helena an. Ihr Gesicht hatte sich verhärtet, aber noch schien sie nicht boshaft. "Woher wussten Sie, dass Sie damit kein Risiko eingehen - ich meine, woher wussten Sie, dass es die richtige Entscheidung war?"

Helena sagte eine Zeit lang nichts und ich beschloss, nicht weiter nachzuhaken. Wenn sie mir nicht antworten wollte, verstand ich das. Ich war nicht anders, ich behielt meine Vergangenheit auch lieber für mich.

Doch gut zwei Minuten später gestand sie kaum hörbar: "Er hat mich an meine Mutter erinnert."

Zuerst blieb ich eine Weile stumm und still sitzen, ehe ich in Helenas hübsches Gesicht sah.

"Er hat mich an meine Mutter erinnert ... er wollte das Diadem nicht für sich, er wollte es, um sein Zuhause zu retten. Ich selbst habe es damals aus bloßem Nutzen gestohlen, ich wollte besser und klüger als meine Mutter sein. Doch sie verstand schon immer, dass Intelligenz nur ein Teil war. Ein sehr wichtiger und großer Teil, aber niemals das Ganze."

Sie legte eine kurze Pause ein und ich war mir sicher, wenn sie weinen könnte, wäre nun eine Träne an ihrer Wange hinunter geflossen.

"Ich habe das Diadem gestohlen, um es für mich selbst zu nutzen. Ich war egoistisch, aber dieser Junge erinnerte mich an meine Mutter. Wenn man seit eintausend Jahren tot ist, hat man eine Menge Zeit, nachzudenken. Ich habe erkannt, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber das würde ich natürlich nie zugeben. Ich wollte meiner Mutter eine letzte Ehre erweisen, indem ich dem Jungen half, das zu verteidigen, an dem sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat."

Jetzt stiegen mir die Tränen in die Augen. Nicht nur, weil es eine berührende Geschichte war, sondern auch, weil ich wusste, wie viel Überwindung es Helena gekostet haben muss, mir dieses Geheimnis anzuvertrauen. Ich hätte die Kraft nicht aufwenden können.

"Ich wusste, dass ich das Richtige tue, als er mich angesehen hat. In diesen Augen lag nicht dasselbe wie in denen des anderen Jungen, des bösen Jungen."

"Danke, dass Sie es mir erzählt haben", sagte ich mit trockener Kehle.

"Kassiopeia, weißt du, wieso ich es dir erzählt habe?", fragte sie ruhig.

"Nein, aber ich würde es sehr gerne wissen", lächelte ich, obwohl meine Stimme auf Grund der Tränen brach.

"Du bist wie ich. Nicht egoistisch, aber wir beide haben die Fehler in unserer Vergangenheit erkannt. Das verbindet uns, das zeigt mir, dass ich dir vertrauen kann."

Sie erhob sich und flog über den Vorsprung, sodass sie mir gegenüber schwebte und mir in die Augen sah.

"Ich habe losgelassen, jetzt ist es an der Zeit, dass du loslässt."

Eine weitere Träne rollte mir über die Wange.

"Es gibt Fragen, auf die kannst nur du antworten. Du musst es für dich entscheiden. Nur du weißt, ob es die Sache wert ist, das Risiko einzugehen."

Sie flog lautlos am Rande meines verschwommenen Sichtfelds an der Mauer des Schlosses entlang, bis sie endgültig verschwand und ich sitzen blieb, bis der Himmel seine letzte blaue Farbe verlor und nur die Lichter des Schlosses noch die Hügel und den See und die Wälder andeuteten.

Dann hatte ich meine Entscheidung getroffen.

ϟ          ϟ          ϟ

Tzja, wie ist Kassys Entscheidung wohl ausgefallen, was glaubt ihr?

Und der liebe Shawn braucht also Nachhilfe in Zauberkunst. Wird er Kassy überreden können?

Vielen Dank für all eure Kommentare (mittlerweile über 900 wtf xD) und auch die 200 Follower (falls das irgendwen juckt :D)

Bis demnächst, Amelie :)

Next Update ⥋ 18.09.2017 (Monday)

[13.09.2017]

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