Kapitel 33 ϟ Lineage
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Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich stand einfach nur da und starrte diesen Mann an. Es war fast gruselig, wie ähnlich wir uns sahen, und irgendwie auch nicht.
Doch es konnte kein Zufall sein. Häufig sahen die Eltern einem nicht so ähnlich wie Geschwister, und auf den ersten Blick schien dieser Mann es auch nicht zu tun.
Die blonden Haare und die strahlend blauen Augen trübten das Gesamtbild immens, aber ich betrachtete mich seit über sechzehn Jahren im Spiegel und ich kannte diese Nase.
Die Gedanken in meinem Kopf rasten, doch zwei stachen heraus, die nun um meine Aufmerksamkeit kämpften.
Ich hatte den Mann gefunden, der mein natürlicher Erzeuger war, der meine schwangere Mutter wie ein Feigling verlassen hatte.
Wenn dieser Mann wirklich mein leiblicher Vater war, machte das Shawn und mich zu Halbgeschwistern.
Wenn.
Doch ich hegte keine Zweifel mehr. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mir war nur erneut unglaublich schlecht.
"Kassy, um Merlins Willen, ist alles okay mit dir?", fragte Shawn mich besorgt und ließ seine Mutter los, um seine Hand fürsorglich auf meinen Rücken zu legen.
Ich konnte nicht anders und starrte einfach nur diesen Mann an. Das schienen nun auch die anderen zu bemerken und mein Vater lief rot an.
"Gibt es ein Problem?", fragte Shawns Mutter vorsichtig. "Kennst du ... ihn?"
Langsam schüttelte ich den Kopf und fühlte mich sofort schlecht. Die erste Konversation zu Shawns Eltern bestand aus einer Lüge.
Nun gut, es war nicht direkt eine Lüge, immerhin kannte ich ihn wirklich nicht. Aber ich wusste, wer er war.
Nur warum zeigte er keine Reaktion? Er konnte doch nicht vergessen haben, dass er irgendwo ein sechzehnjähriges Kind rumlaufen haben musste?
Jetzt schoss etwas durch meinen Kopf, was ich zu greifen bekam.
Die kleine Stimme flüsterte in mein Ohr, dass dies nicht Shawns Vater sein konnte.
Und ich gab der Stimme recht. Dies konnte nicht Shawns Vater sein. Immerhin war er blond und blauäugig und Shawn sah ihm nicht im Geringsten ähnlich. Außerdem hatte Shawn mir erzählt, dass er seinem Dad immer ähnlicher wurde und dass sein Dad Portugiese war. Dieser Mann sah mehr skandinavisch aus. Skandinavisch wie ...
Ich vertrieb diesen Gedanken sofort wieder.
Es musste einen anderen Vater geben. Shawns Vater. Doch wo war er?
In diesem Moment hörte man ein Klicken. Kurz darauf das Öffnen einer Tür, dann das sich Auftun des Durchgangs rechts neben Shawns Mum. Ein größerer Mann mit etwas dunkleren Haut und kurzen schwarzen Haaren trat zu uns in Wohnzimmer. Eine ältere Version Shawns.
"Kassy", setzte Shawn leise an und versuchte mir in die Augen zu blicken. "Das ist meine Mum."
Er zeigte auf die Frau, die er umarmt hatte, und redete langsam weiter: "Und das ist mein Dad."
Sein Finger wanderte zu dem schwarzhaarigen Mann im Türrahmen und ich konnte das erste Mal meine Augen von den beiden Männern losreißen und Shawn ansehen.
Shawn war nicht mein Halbbruder. Wir waren nicht miteinander verwandt. Ich erwartete ein Gefühl der Erleichterung, doch da war nichts. Natürlich war dies nicht Shawns Vater. Wie hatte ich nur eine Sekunde daran denken können? Es war lächerlich. Shawn hatte mir so viel über seine Familie erzählt.
Ich lief hochrot an. Es war mir peinlich, deswegen wirklich kurz in Panik verfallen zu sein. Shawn und ich Halbgeschwister - nie im Leben. Wäre er wirklich mein Halbbruder gewesen, hätte ich das viel früher gemerkt.
Doch das andere Problem - weswegen es durchaus berechtigt war, Panik zu verspüren - blieb dennoch bestehen: Der Mann, der aussah wie ich.
Nun wurde mir richtig schlecht. Ich war erleichtert und verstört und wusste nicht, ob ich zusammenbrechen oder weglaufen sollte. Mein größter Traum und zeitgleich mein größter Albtraum hatten sich erfüllt. Wieso kannte Shawns Familie meinen Vater?! Wie gering war die Wahrscheinlichkeit?
Was tat er hier in Kanada, wieso erkannte er mich nicht, warum verschwand dieses komische Gefühl aus meinem Körper nicht?
Ich schluckte. Ich blickte Shawn an. Ich schluckte nochmal. Dann - ein mir mittlerweile sehr vertrautes Gefühl ebbte durch meinen Körper, ausgehend vom Magen.
Ich drehte mich um und übergab mich in der Küche ins Waschbecken.
Shawn lief mir besorgt hinterher und ich hörte ihn erklären, dass ich auf der Reise hier her seekrank gewesen war.
Ich spülte meinen Mund mit dem mir von Shawn gereichtem Wasser aus und löste den Griff um meine Haare.
"Drachenmist, der gute Burger", murmelte ich und Shawn brach in Lachen aus.
Schmunzelnd wischte ich meinen Mund einfach an meinem Ärmel ab und atmete tief durch. Der Geschmack von Erbrochenem füllte meinen Mund aus und ich versuchte unter höchster Anstrengung, ihn zu ignorieren.
"Willst du dich hinlegen?", fragte mich Shawn so leise, dass niemand anderes ihn hören konnte.
Ich nickte. Dann schüttelte ich den Kopf. Unauffällig warf ich dem blonden Mann einen Blick zu. Er flüsterte Shawns Mum etwas zu. Shawns Dad stellte sich zu seiner Ehefrau und legte einen Arm um ihre Taille. So, wie Shawn es auch immer bei mir tat.
"Ich ... können wir kurz reden?", bat ich Shawn leise. "Nur du und ich?"
"Aber natürlich. Komm, wir gehen in mein Zimmer", schlug Shawn vor und sein Arm fand den Weg um meine Schultern.
Doch bevor Shawn uns entschuldigen konnte, hörte man deutlich lautes Getrampel auf der Treppe und Shawns Miene erhellte sich sofort wieder.
Die Küchentür flog auf und ein Mädchen, welches Shawns Vater auf dieselbe Weise ähnlich sah wie ich dem fremden Mann, kam hereingestürmt.
Sie hielt kurz an, strahlte aus allen Ecken und warf sich dann Shawn in die Arme.
"Du bist endlich da!", rief sie begeistert und Shawn wirbelte sie durch den Raum.
"Aaliyah hat die Tage gezählt, bis du zurückkommst", lächelte Shawns Mum leicht und blickte ihre beiden Kinder voller Liebe an.
"Du musst mir alles erzählen! Was ist mit Dave? Und wie geht es Teddy? Und Henry? Oh, ist das Kassy?!"
Aaliyah hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere.
"Ja, das ist Kassy", antwortete Shawn für mich, da ich nichts als ein leichtes Lächeln zustande bringen konnte. "Aber ihr geht es nicht so gut. Ich bring sie hoch und wir kommen zum Essen wieder runter, dann kannst du sie ausfragen, okay?"
Etwas enttäuscht, aber verständnisvoll, nickte Aaliyah und warf neugierig einen Blick in die Töpfe, die auf dem noch kalten Herd warteten. Sie klaute sich eine rohe Karotte und biss die Hälfte ab. Ihre Mutter scheuchte sie schmunzelnd aus der Küche und Aaliyah lief kichernd zu ihrem Vater, um sich zu verstecken.
Shawn begleitete mich derweil zum Fuße der Treppe. Er nahm meinen Rucksack und meine Tasche in die Hand und schulterte seinen eigenen Rucksack. Dann schenkte er mir ein aufmunterndes Lächeln und bedeutete mir, voran zu gehen.
Der Flur oben war deutlich kleiner und Shawn führte mich direkt durch die Tür geradeaus. Sein Zimmer traf meine Vorstellung ziemlich gut.
Auf dieselbe Art, wie er meins beschrieben hatte, sah auch seines so aus, als wohne die elfjährige Version Shawns hier. Lediglich das Bett schien ein neueres Möbelstück zu sein, da Shawn wohl aus seinem alten raus gewachsen sein musste. Was mich nicht ansatzweise überraschte.
Die älteren Möbel bestanden aus Naturholz, die Wände waren in einem hellen orange und cremeweiß tapeziert und überall hingen Eishockeyposter. Wie auch in seiner Wohnung ruhten in allen Ecken kleine Schnickschnackartikel, was dem Zimmer die gewisse Unordnung gab, die man von einem Teenager erwartete.
Das Zimmer war einfach Shawn in einer lebhaften Zusammenfassung. Am meisten liebte ich den Geruch, der mir so vertraut geworden war und hier noch verstärkt in der Luft hing.
"Ich liebe es", war alles, was ich sagte.
Shawn grinste zufrieden und ließ sich neben mir aufs Bett plumpsen. Das besagte Bett war ziemlich groß und nahm gut ein Drittel des Zimmers ein. Ich sank ein Stück in die Matratze ein und wurde sofort an Hogwarts erinnert.
"Was war denn los?", fragte Shawn mich nun besorgt, nachdem er mir ein Kaugummi gegen den Geschmack gegeben und unsere Sachen unbeachtet auf den Schreibtischstuhl geschmissen hatte, welcher, wie mir nun auffiel, ebenfalls ersetzt worden sein musste, da er für einen Elfjährigen viel zu groß und zu neu aussah.
"Ich ... es gibt da etwas, was ich dir nicht gesagt habe", zögerte ich und streifte meine Schuhe ab, um mich im Schneidersitz auf die Decke zu setzten.
"Ohne fies zu klingen, aber ich glaube, da gibt es eine ganze Menge."
Shawn schaffte es immer wieder, mich in den unmöglichsten Momenten zum Lachen zu bringen.
"Das ist aber besonders wichtig", behauptete ich und Shawn wurde sofort wieder ernst. "Ich will nicht auf die Details eingehen, denn ... ich habe es niemandem erzählt. Niemand außer Melody kennt die Details."
Nicht mal Alia oder Teddy wussten Bescheid. Ich hatte damals den großen Fehler begangen, Mel als meine Vertrauensperson auserkoren zu haben. Ich bereute kaum eine Sache mehr, doch ich war sehr froh, dass Mel wenigstens den Anstand besaß, dieses Geheimnis nicht weiterzuerzählen.
Sie konnte so viel lügen und verraten wie sie wollte, aber sie wusste, dass sie zu weit ginge, wenn sie es erzählte. Sie würde ihre eigene Familie bloßstellen. Und von Dad geköpft werden.
Dad. Da wären wir sie schon beim Thema.
"Du weißt ja, dass mein Dad ... na ja, etwas grob war und nicht gut auf mich zu sprechen."
Shawn nickte langsam und hob ein Bein auf die Decke. Ich hoffte, dass es ihm nicht zu unangenehm war, darüber zu reden.
"Er war noch nie gut auf mich zu sprechen, wenn man mal genau überlegt. Und das hat einen ganz bestimmten Grund. Aber du musst mir versprechen, dass du es nie jemandem erzählst."
"Versprochen", schoss es aus Shawn.
"Shawn, ich vertraue dir. Doch Mel habe ich auch vertraut, also bitte tu mir den Gefallen, und meine es auch so."
Mein Freund schmunzelte leicht und griff nach meiner Hand. "Vergiss nicht, ich hab dir doch erzählt, dass ich nie meine Versprechen breche. Niemals."
Ich schluckte. Etwas Magensäure brannte in meinem Hals. Bitte, murmelte ich in meinen Gedanken. Bitte lass es keinen Fehler sein.
"Mein Dad ... ist nicht mein Dad. Nicht mein leiblicher Dad."
Das warf Shawn eine Sekunde aus der Bahn. Er brauchte eine Weile, um sich wieder zu fangen und ich ließ ihm diese Zeit.
"Dein ... was? Oh wow, das ist ... liegt schwer im Magen", stotterte er. Ich nickte nur.
"Wie gesagt, keine Details. Aber die Sache ist ... dieser Mann da unten, ich glaube, dass das mein richtiger Dad ist. Er ... sieht mir verdammt ähnlich, auch wenn man das zuerst nicht denkt."
Shawn schluckte und musterte mich instinktiv.
"Kennst du ihn?", fragte ich leise. "Wer ist das? Und wieso ist dir das nie aufgefallen, dass er und ich uns so ähnlich sehen?"
"Ich ... es ist ein alter Freund meiner Eltern, glaub ich. Ich habe ihn das letzte mal vor mehr als vier Jahren gesehen", erklärte Shawn. "Ich kann mich an keine Details erinnern, nur, dass er kein gebürtiger Kanadier ist. Doch jetzt, wo du es sagst, ja. Ja, ich kann Ähnlichkeiten erkennen."
Ich atmete aus. Immerhin hatte Shawn mich nicht belogen.
"Und du ...", fuhr Shawn fort und sah mich voller Mitleid an, "... du dachtest, dass dieser Mann auch mein Vater wäre?"
Jetzt, wo er es aussprach, kam ich mir furchtbar dumm vor.
"Ja, na ja, ja, für einen kurzen Moment. Du hast gesagt, deine Eltern wären im Raum und das waren die einzigen Menschen dort. Ich weiß, dass es dumm klingt, aber da war dieser Schock, verstehst du? Dieser Schock, dass es auf jeden Fall mein Vater sein muss."
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich war nach wie vor überwältigt von einfach allem. Und peinlich berührt.
"Ach, Kassy. Merlin", hauchte Shawn und nahm mich in den Arm. Ich drückte ihn an mich. "Natürlich dachtest du das im ersten Moment. Ich hätte nicht anders reagiert. Das tut mir alles so leid."
Eine halbe Stunde saßen wir auf seinem Bett, machten uns etwas frisch, ließen meine Tränen trocknen und brachten uns gegenseitig zum Lachen. Dann schlug Shawn vor, nach unten zu gehen und noch vor dem Essen mit dem Mann, der nach Shawns Erinnerung Per hieß, zu reden.
Shawn bot an, dabei zu sein und diesmal nahm ich seine Hilfe dankend an. Ich wollte auf gar keinen Fall alleine mit Per reden.
Ich wartete nervös Flur und ging auf und ab. Nach kurzer Zeit kam Shawn, gefolgt von Per, aus der Küche.
"Lasst uns das nicht zwischen Tür Angel besprechen", entschied Shawn für uns. "Wir können ins Wohnzimmer gehen. Ich scheuche die anderen raus."
Wir nickten nur zustimmend und Aaliyah und Shawns Eltern gingen nach oben.
Per, Shawn und ich setzten uns aufs Sofa. Shawn und ich auf das große, Per auf das etwas kleinere gegenüber. Erwartungsvoll blickte Shawn mich an und ich schaute nur zurück. Es reichte, damit Shawn verstand.
Er begann vorsichtig, die Situation zu erklären, was sich als schwierig gestaltete, da er keinerlei Hintergrundinformationen besaß.
"Kommst du aus Schweden?", fragte ich deswegen, als Shawn nicht weiter wusste. Ich wollte nicht so unverschämt klingen, aber es fiel mir schon schwer genug, überhaupt irgendwas zu sagen. Wenn ich mich nicht irrte, konnte ich mir nicht mal vorstellen, welche Auswirkungen das auf mich und meine Familie haben würde ...
Per, der noch ein wenig geschockt aussah, beantwortete diese Frage mit einem knappen: "Ja."
"Aber du weißt nichts von einem Kind?", fragte Shawn weiter.
Per schüttelte den Kopf. "Nein, gar nichts."
Das konnte nicht sein. Nach allem, was Mum mir erzählt hatte, wusste mein Vater nur zu gut Bescheid. Allerdings beruhte meine Vermutung nur auf unserer Ähnlichkeit ... denn ein Bild oder einen Namen besaß ich nicht.
"Warst du vor circa siebzehn Jahren in London?", übernahm ich wieder. "Hast du dort studiert?"
Erneut schüttelte der Schwede den Kopf. "Nein. Ich war nur ein einziges Mal in London, da war ich fünfzehn und auf Klassenfahrt. Danach nie wieder."
Ich sah Shawn an. Er wusste genau, was ich auch wusste. Wenn Per nicht log, konnte er nicht mein Vater sein. Aber wie war das möglich? Die Ähnlichkeit war nicht zu bestreiten.
"Shawn, kannst du bitte kurz raus gehen?", bat ich meinen Freund, welcher nur nickte und aufstand. Kurz wurde es neben mir kalt. Doch ich zwang mich, durchzuatmen.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blickte ich Per freundlich an.
Ich begann, ihm alles zu erzählen, was ich über meinen Vater wusste und dass mir mein Fehler leid tat, aber die Ähnlichkeit auf der Hand lag.
In diesem Punkt gab Per mir recht, er fand es selbst erschreckend, wie unsere Gesichter sich glichen. Doch plötzlich leuchteten Pers Augen und er erinnerte er sich an ein entscheidendes Detail, welches die ganze Sache erklärte.
"Ich bin schon vor achtzehn Jahren hier her nach Kanada gezogen", erzählte er mir seine Geschichte. "Ich wollte damals was erleben und eigentlich nur für ein Jahr hierbleiben, doch mir gefiel es so gut, dass ich beschlossen habe, auszuwandern. Ich lebte zuerst zwei Jahre in Toronto, mietete dann aber das Haus schräg gegenüber von diesem hier. Karen und Manny wohnten zu diesem Zeitpunkt schon hier und Shawn war gerade ein Jahr alt. Ich bin irgendwann zurück nach Toronto gezogen, da war Aaliyah gerade fünf geworden, also war Shawn um die zehn Jahre alt. Seitdem halte ich Kontakt zu Karen und Manny und besuche sie ab und zu mal, wenn ich geschäftlich hier unterwegs bin. Das passiert im Jahr häufiger Mal, doch Shawn habe ich schon lange nicht mehr gesehen, da er ja im Internat lebt."
Ich verkniff mir das Schmunzeln. Internat war eine nette Umschreibung.
"Also nein, ich habe nie in London gelebt. Aber ich erinnere mich an einen Cousin von mir."
Dies war der Punkt, wo ich Shawn zurück in den Raum holte.
"Ich habe damals den Kontakt zu meinen Eltern bewusst abgebrochen. Wir haben uns noch nie gut verstanden, was meine Entscheidung, auszuwandern, nur leichter gemacht hat. Ich hatte viele Cousins, aber an einen erinnere ich mich noch sehr gut. Sein Name war Theo. Wir haben als Kinder oft zusammen gespielt, da wir in derselben Straße lebten, und in der Schule wurden wir oft verwechselt, weil wir uns so ähnlich sahen. Es kam nicht selten vor, dass wir für Zwillinge gehalten wurden. Als ich mich entschlossen habe, auszuwandern, habe ich versucht, wenigstens den Kontakt zu Theo zu halten. Er ließ mich wissen, dass er nach London ginge, um dort zu studieren. Von seiner Freundin, Amanda oder Anny hieß sie glaube ich, habe ich noch erfahren, doch dann kam irgendwann keine Antwort mehr. Ich fragte bei meiner Tante nach und sie sagte, dass Theo sein Studium abgebrochen hätte zurück nach Schweden gekehrt wäre. Er hätte allerdings die Stadt verlassen und sich tief ins Innere des Landes verzogen. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört."
Während Pers ganzer Erzählung blieb ich stumm wie ein Bowtruckle. Zum Ende hin vergaß ich zu atmen und holte dies nun schnell und unauffällig nach. Amanda oder Anny, rief ich mir ins Gedächtnis.
"Anne", sagte ich leise. "Theos Freundin hieß Anne, oder?"
Per nickte und hatte dieses Lächeln auf den Lippen, was man nur hatte, wenn man sich erfolgreich an etwas erinnern konnte. Wieso ich es so gut deuten konnte? Weil es mein Lächeln war. "Ja, das war ihr Name. Anne. Eine hübsche dunkelhaarige junge Frau."
Shawn blickte mich an.
"Okay, danke, Per", beendete ich das Gespräch. "Es tut mir wirklich leid, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe."
"Ach, das ist schon gut. Es freut mich, dass ich helfen konnte." Er lächelte leicht, sagte jedoch nichts mehr. Alle drei von uns konnten das Puzzle jetzt zusammenfügen und die beiden Männer erkannten, dass es besser war, wenn ich das Gesamtbild vorerst verarbeitete.
"Das hast du, vielen Dank."
Wir erhoben uns und Shawn öffnete die Tür zum Flur, um seine Eltern und seine Schwester von oben zurück nach unten zu rufen.
Per verabschiedete sich bei Karen und Manuel, da er nicht zum Essen bleiben konnte (und wahrscheinlich auch gar nicht mehr wollte). Doch er ließ mich wissen, dass ich ihn jeder Zeit anrufen könne.
Shawn ließ die ganze Sache unkommentiert, aber ich erwischte ihn dabei, wie er mich immer wieder von der Seite ansah.
Ich stellte mich vernünftig bei Shawns Eltern vor und entschuldigte ich für die Unannehmlichkeiten, doch Karen interessierte das schon gar nicht mehr.
Karen und Manuel waren zwei herzensgute Menschen und mich wunderte gar nicht mehr, wieso Shawn so war, wie er war.
Aaliyah liebte mich tatsächlich, so wie Shawn es behauptet hatte. Sie wusste erstaunlich viel über mich und meine Freunde. Shawn schrieb ihr zweimal in der Woche und informierte sie über alles Wichtige in seinem Leben.
Sie hielt es für besonders cool, dass meine Freundin Alia hieß und die Namen sich so ähnelten. Sie redete viel über Teddy und Olivia. Außerdem fragte sie mich über Quidditch aus, da ich nach ihrer Aussage viel mehr wusste als Shawn.
Zusätzlich erfuhr ich, dass sie es furchtbar cool fand, sich mit einer Hexe zu unterhalten, die schon seit dem Punkt ihrer Geburt mit Magie aufgewachsen war, und egal was ich erzählte, Aaliyah bestand darauf, Saiph an einem Punkt ihres Lebens kennenzulernen.
Es war bereits neun Uhr abends, als Shawn half, die Küche aufzuräumen. Wie er gesagt hatte, wurde keine Magie verwendet. Aaliyah protestierte, da sie es besonders cool fand, dass Shawn jetzt auch hier zaubern durfte und sie ihn kaum zaubern gesehen hatte, doch Karen ließ nicht mit sich diskutieren.
Durch den Jetlag war ich hundemüde, da es in London gerade zwei Uhr morgens schlug. Shawn war noch fertiger, schließlich hatte ich auf dem Dampfer nur rumgelegen und geschlafen.
Deswegen entschieden wir, uns lieber morgen einen schönen Abend zu machen und heute früh ins Bett zu gehen.
Um kurz zehn saß ich neben Shawn in seinem Bett und kämmte durch meine verknoteten Haare, als ich seinen Blick wieder auf mir spürte.
"Okay, was ist los", forderte ich ihn seufzend auf, mich aufzuklären.
"Was ist was los?", fragte Shawn verdutzt.
"Shawn, stell dich nicht dumm. Ich merke schon die ganze Zeit, seit dem Gespräch mit Per, wie du mich anschaust."
Er ließ die Schultern nach unten sacken und drehte sich zu mir. "Ich mache mir Sorgen um dich. Du steckst das alles so einfach weg, das gefällt mir nicht."
"Ich hatte eigentlich nicht vor, den ganzen Abend in Gegenwart deiner Eltern zu heulen", gab ich zurück und grinste leicht, merkte dann aber, dass Shawns besorgter Blick nicht verschwand.
Ich legte die Bürste auf den Nachttisch, positionierte mich gegenüber von ihm und griff nach einer seiner großen Hände. Es schien ihm mehr zu schaffen zu machen, als mir bewusst war. Mehr, als nötig.
"Hör zu, mir geht es gut. Wirklich. Ich bin froh, dass Per nicht mein Vater ist, und du nicht mein Halbbruder und ich will mir nicht meine Ferien in Kanada damit verderben, dass ich die ganze Zeit über eine Person nachdenke, die ich nicht mal vermisse."
"Aber ...", setzte Shawn, verlor sich jedoch in sich selbst.
"Was, aber?"
"Nichts ..."
"Shawn", seufzte ich. "Wir erzählen uns alles, schon vergessen? Keine Geheimnisse, außer die, die es schon vorher gab."
Eine bescheuerte Regel, aber sie schütze mich vor dem Teil meiner Vergangenheit, den ich Shawn noch nicht erzählen konnte.
Shawn nickte betroffen. "Ich verstehe das nicht. Du hättest Per nach einem Namen fragen können. Nach einem ganzen Namen. Nach einer Adresse, nach etwas mehr als nur Theo. Willst du deinen Vater denn nicht kennenlernen?"
"Nein. Nein, will ich nicht."
"Es wäre kein Problem, wir könnten in den Sommerferien gemeinsam nach Schweden fahren und ihn suchen ..."
"Shawn", unterbrach ich ihn sanft. "Es ist okay, wirklich. Das würde nur alles viel komplizierter machen. Mein ... Stiefvater würde ausrasten, Mum hätte jede Menge Probleme am Hals und Saiph - sie weiß es nicht und so soll es auch bleiben. Vielleicht will ich ihn irgendwann kennenlernen, wenn alles anders ist, aber momentan bereitet er mir nur Probleme. Und wer weiß, vielleicht will er mich ja gar nicht sehen."
Das Braun in Shawns Augen war noch nie so warm wie jetzt. Verstand er, wie ich mich fühlte? Konnte er es verstehen? Er versuchte es auf jeden Fall, das spürte ich. Ich rückte näher zu ihm.
"Und ich werde Per nicht fragen. Er ist ausgewandert und hat den Kontakt zu seiner Familie beflissentlich abgebrochen. Ich will nicht nach einer Adresse fragen, zu der er keine Verbindung haben will."
Shawn lächelte. "Du verbringst zu viel Zeit mit Teddy. Das war so viel Hufflepuff, ich sehe schon die Dachsschnautze wachsen."
Ich schnappte mir mein Kopfkissen und schlug Shawn damit gegen den Kopf. Als Strafe kitzelte er mich durch und durch meinen Schrei wurde Aaliyah aufmerksam. Er dauerte keine zehn Sekunden und sie stand im Schlafanzug in der Tür.
"Kissenschlacht!", rief sie begeistert, als sie das Kissen am anderen Ende des Bettes entdeckte.
Ohne zu zögern griff sie danach und schlug es Shawn gegen die andere Seite des Kopfes. Daraufhin wurde sie ebenfalls von Shawn geschnappt und durchgekitzelt. Ich befreite sie, indem ich Shawn meine kalte Hand unters T-Shirt steckte und Aaliyah nutze die Gelegenheit, um sich mit zwei weiteren Kissen zu bewaffnen.
Shawn hatte keine Chance mehr gegen uns zwei und gab sich geschlagen. Karen steckte ihren Kopf durch die Tür und schickte Aaliyah unter höchstem Protest ihrerseits ins Bett.
Als Shawns Zimmertür zufiel, lächelte ich ihn müde und außer Atem an. Er lächelte zurück und für einen Moment vergaß ich alles. Die Sache mit Per und Theo, die Schule, Melody und Flint. In diesem Moment gab es nur Shawn und mich.
Ich krabbelte auf ihn zu, küsste ihn sanft auf den Mund und Shawn umarmte mich fest. Ich gähnte und er legte die Decke über uns.
Eingekuschelt in Shawns Armen und unter der warmen Decke wartete ich nur noch darauf, dass Shawn das Licht ausschaltete. Als es komplett dunkel war, bis auf den Schein einer Straßenlaterne, die durch die Seiten des Rollos etwas Licht ins Zimmer warf, legte ich meine Hände auf Shawns, die mich hielten, und flüsterte: "Gute Nacht."
"Gute Nacht, schlaf gut", flüsterte Shawn zurück und küsste mich auf den Hinterkopf.
Es dauerte keine Minute und ich dämmerte weg.
Die Tage danach flogen nur so dahin. Shawn, Aaliyah und ich hatten viel Spaß und es freute mich zu sehen, wie Aaliyah Shawn freudig mit mir teilte, anstatt mich zu dafür hassen, eine Art Anspruchsrecht auf Shawn erhoben zu haben.
Als Ostern schließlich gekommen war, begleitete ich Shawns Familie in die Kirche und half Karen und Aaliyah dann beim Fertigstellen des Osteressens, während Shawn und Manuel etwas Zeit unter Männern verbrachten.
Nach dem überaus köstlichen Mittag sahen wir uns gemeinsam ein Eishockeyspiel an, welches Aaliyah für Shawn aufgezeichnet hatte (es war fast wie Zauberei - man musste nur einen Knopf drücken, das Programm im Fernsehen wurde gespeichert und man konnte es sich jederzeit wie eine DVD anschauen) und ich verstand endlich die zweite Ausnahme des Abseits.
Am Abend gingen Karen und Manuel aus und Aaliyah übernachtete bei einer Freundin. Shawn und ich hatten das Haus für uns.
"Ich hab übrigens noch was für dich", verkündete Shawn, nachdem wir uns drei Pizzen in den Ofen geschoben hatten.
"Was ist das?", fragte ich, als er eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche zog, die mit vorher nicht aufgefallen war.
"Mein Ostergeschenk für dich."
Ich stieß den Atem aus. "Shawn, du kannst mir nicht andauernd was schenken, ich hab nichts für dich!"
Shawn schmunzelte. "Das ist kein Problem."
"Doch, das ist ..."
Er unterbrach mich, indem er mich einfach küsste.
"Ist ja schon gut, ich bin still", kicherte ich und biss auf meine Unterlippe.
"Mach die Augen zu", befahl er mir und ich gehorchte. "Das ist jetzt wie in einem schlechten Hollywoodfilm, aber - "
"Was ist Hollywood?", unterbrach ich ihn, was er mit einem rauen Lachen quittierte.
Ich spürte etwas Kaltes und Shawns weiche Hände an meinem Nacken.
"Shawn, hast du ..."
"Pscht", flüsterte er mir ins Ohr und ich bekam Gänsehaut. "Augen auf."
Langsam flatterten meine Lider auf und ich erinnerte mich, dass es draußen ja noch hell war. Neugierig blickte ich auf die Kette um meinen Hals.
Es war eine dünne Goldkette, an der ein kleiner kreisrunder Anhänger hing. Er war ebenfalls golden und komplett blank, und doch so wunderschön. Ein kleines Goldplättchen an einer einfachen Goldkette - es löste eine Gänsehaut an mir aus.
"Wow, Shawn! Die war bestimmt total teuer! Du spinnst!"
Ich drehte mich zu ihm um und wusste nicht, ob ich ihn böse oder dankend ansehen sollte.
"Ich hab sie nicht gekauft, sie gehörte mir schon", erklärte Shawn. "Aber ich möchte, dass du sie hast."
"Wem hat sie denn vorher gehört? Deiner Ex-Freundin?", scherzte ich.
"Ganz genau genommen", sagte Shawn und schaute ernst, "ja."
Ich starrte ihn ungläubig an, bis er in Lachen ausbrach. "Du Arsch!", stimmte ich ein und boxte ihm gegen die Schulter, wobei ich glaubte, dass dieser freundschaftliche Schlag mir mehr weh tat als ihm.
"Danke", sagte ich trotzdem aufrichtig. Es war so viel mehr als nur ein Anhänger an einer Kette, das wussten wir beide. Es war ein Versprechen.
"Gerne", lächelte Shawn mich an und drückte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. "Liebend gerne."
ϟ ϟ ϟ
Entwarnung! Shawn und Kassy sind nicht miteinander verwandt :)
Ich musste teilweise so stark bei euren Kommentaren lachen, es war herrlich! Vielen Dank <3 Aber mal ehrlich - Shawn und Kassy Geschwister? Never ever! Ich kann shy doch nicht so einfach zerstören. Da gehört noch etwas mehr dazu.
Leider kann ich euch nicht sagen, wann ich wieder update, aber diesmal bedeutet das "bald" nicht 6 Monate. Versprochen.
Was haltet ihr davon, dass Kassy nichts mit Theo, also ihrem leiblichen Vater, zu tun haben will?
Warum glaubt ihr, würde er Kassy und ihrer Familie nur Schwierigkeiten bringen? Die Auflösung kommt bald, ich will noch ein paar verrückte Theorien hören ;)
Und wie findet ihr Shawns Geschenk an Kassy?
Bis demnächst, Amelie :)
[20.10.2018]
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