Kapitel 3 ϟ Strangers
Hand in Hand - Walking on Cars ♪♫
Sofort riss ich meinen Blick von ihm los und versteckte mein Gesicht hinter meinen Haaren, indem ich meinen Kopf so drehte, dass mir die offenen Strähnen vor die eine Hälfte fielen.
Langsam richtete ich mich in eine sitzende Position auf und stützte mich mit den Handflächen am kalten Stein ab. Ich saß aufrecht und zog dann ruckartig meine linke Hand weg, als hätte ich mich verbrannt.
Es tat auch höllisch weh.
Ein wenig verwirrt betrachtete ich meine blutige Hand, in der kleine Glassplitter steckten. Meine Tasche lag neben mir, die große Lasche an der Vorderseite war aufgeflogen und das Tintenfass zerschmettert. Die Tinte hinterließ einen großen Fleck auf dem Boden, an meiner Tasche und auch ein wenig an den herausgerutschten Pergamentrollen.
Panisch rettete ich meinen angefangenen Aufsatz aus dem Chaos und griff nach meinem Zauberstab. Dieser war zum Glück noch heile geblieben.
Ich saugte die Tinte weg und auch das Blut, was meinen Umhang dunkelrot färbte.
"Warte, ich helfe dir", sagte Shawn und hockte plötzlich neben mir.
Ich erschrak so sehr, dass ich zusammenzuckte. Ohne Kommentar ließ ich ihn die Glassplitter aus meiner Hand entfernen. Der Schmerz ließ nach und ich konnte kurz aufatmen.
Dann half Shawn mir auf die Beine. Seine Hand war angenehm warm und durch den panischen Gesichtsausdruck schien dennoch die Spur eines leichten Lächelns.
"Es tut mir echt so leid", wiederholte er sich, als ich mir den Staub vom Umhang gewischt hatte. Mein Rücken knackte, als ich mich streckte und Shawn sah mich zuerst erschrocken an. Dann fing er an zu lachen.
Ich schmunzelte leicht und fing an, die Bücher einzusammeln.
"Hast du dir denn ernsthaft wehgetan?", fragte er dann jedoch besorgt und hob das Verwandlungsbuch auf.
"Nein, alles gut", murmelte ich und schüttelte das Buch "Heilpflanzen Teil 3" aus. Drei Seiten fielen aus dem Bund.
"Ach herrje! Das waren aber nicht wir, das war definitiv schon vorher so", grinste Shawn und nahm mir das Buch ab. "Lass mich das mal machen, sonst stehen wir noch ewig hier rum."
Er zog seinen Zauberstab aus der Innentasche seines Umhangs und schwang ihn drei Mal mit kurzen Bewegungen durch die Luft.
Alle Bücher erhoben sich, die Seiten entknickten sich von selbst und sie stapelten sich neben meiner Tasche, die von jeglichen Flecken befreit wurde, auf den Boden.
"Wow, zeigst du mir, wie das geht?", fragte die reine Ravenclawpersönlichkeit in mir, bevor mein gesunder Verstand die Aussage überprüfen konnte.
Shawn sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Normalerweise werden mir Wörter wie "Angeber" an den Kopf geworfen, aber bei Gelegenheit, gerne."
Ich schaute wohl so in etwa wie ein Auto. Meine Augen starrten regungslos in sein Gesicht und mein Mund war leicht geöffnet.
"Alles okay mit dir?", fragte Shawn vorsichtig.
"Was?" Ich riss mich erschrocken aus meiner Starre. Fuck, war das peinlich! Hitze stieg in meinen Kopf und ich biss mir auf die Innenseite meiner Lippe, um nicht laut zu fluchen. "Alles okay."
Ich verließ meinen Platz an seiner Seite, der überraschenderweise echt nah bei ihm gewesen war, und legte mir die Tasche über die Schulter.
"Ja, danke fürs Aufräumen. Man sieht sich", verabschiedete ich mich, als ich die Bücher hochgehoben hatte. Durch das Gewicht spürte ich wieder den Schmerz in meinem Ellbogen.
"Warte", reagierte Shawn sofort und stellte sich mir in den Weg.
Er trat noch einen Schritt zurück, sonst wären wir glatt wieder ineinander gelaufen.
"Oh sorry, heute bin ich etwas tollpatschig. Jedenfalls, du bist Vertrauensschülerin?", fragte er und zeigte auf das Abzeichen, was an der linken Seite über meiner Brust an meinem Umhang befestigt war.
"Ja, und ich hätte dir Punkte abgezogen, wenn es mir möglich wäre, aber da du nicht in meinem Haus und noch dazu Schulsprecher bist, muss ich dir wohl so verzeihen."
Ich hätte mich für diese Aussage schon wieder ohrfeigen können, doch Shawn lachte auf. Es war ein hohes, gebrochenes Lachen, was mich unweigerlich lächeln ließ.
"Du weißt, wer ich bin?", fragte er amüsiert.
"Klar, du bist Shawn, jeder kennt dich. Und du hast dich im Zug vorgestellt."
Innerlich stöhnte ich erneut auf. Wie dumm war ich eigentlich? Kam dauerhaft so viel dummes Zeug aus meinem Mund?
"Ach, klar. Da war ja was...Aber jeder ist übertrieben. Sagen wir, fast jeder." Er grinste.
"Dann...bis irgendwann?", versuchte ich, der Situation zu entfliehen.
Es war nicht unangenehm, um ehrlich zu sein genoss ich Shawns Gesellschaft, denn ich wechselte selten ein Wort mit Menschen aus seiner Umgebung.
Doch die Paranoia, dass Mel gleich um die Ecke kommen könnte, ließ mich nicht los. Und ich wollte vermeiden, noch eine peinliche oder unüberlegte Bemerkung los zu lassen.
"Soll ich dir mit den Büchern helfen?", fragte Shawn, doch ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich krieg das schon hin."
"Hey, nicht so schnell", hielt er mich auf.
Ich blickte auf die kleine Narbe auf seiner rechten Wange, damit ich nicht in seine Augen schauen musste. Doch er sah mir in die Augen, das merkte ich, und nach einer langgezogenen Weile erwiderte ich den Blick.
Geplant war nur kurz, aber ich kam nicht mehr los.
Das Braun seiner Augen schien viel heller, als es nur im Vorbeigehen wirkte. Auf seinen Lippen bildete sich ein Lächeln.
"Wie heißt du?", fragte er, ohne wegzusehen.
"Kassy", antwortete ich und meine Atmung wurde schneller. Jetzt wurde es unangenehm.
Shawns Augen blitzen auf und sein Blick wurde aufgeregter, intensiver.
Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf, Panik stieg auf. Was dachte er gerade? Hielt er mich für dumm? Naiv? Es machte mich verrückt, nicht zu wissen, woran er dachte.
Ich wollte ihn nicht länger ansehen, aus dem simplen Grund der ausgelösten Panik hasste ich Augenkontakt. Ich wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser, aber Shawns Blick ließ mich einfach nicht los.
"Also gut, Kassy. Bis dann, aber mach dir keine großen Hoffnungen, mich für immer los zu sein. Wir sehen uns früher oder später wieder, versprochen."
Er wandte endlich den Blick ab, trat einen Schritt zur Seite und ich lief los.
"Nicht so schnell!", rief eine eiskalte Stimme, die mir so durch Mark und Bein fuhr, dass ich ein zweites Mal kurz davor war, die Bücher fallen zu lassen.
"Ihr habt auf dem Gang gezaubert, das ist verboten, steht in der Schulordnung."
Ich seufzte und drehte mich um. Shawn stand lässig mit dem Rücken zu mir etwa zwei Meter weiter vorne.
Am Ende des Gangs stand Maddox Rosier, grinste gehässig und zeigte eine Reihe gelb angelaufener Zähne.
Maddox, ein waschechter Slytherin. Sein Gesicht ähnelte stark dem einer Ratte. Er hatte ein spitzes Kinn, eine spitze lange Nase und Schlitzaugen. Seine Haut war blass und fahl, seine Haare hingen ihm in dünnen Strähnen im Gesicht. Bis auf seine Zähne wirkte er nicht ungepflegt, aber wie Henry schon sagte: Für kein Gold der Welt will man mit Maddox in einen Raum gesperrt werden.
"Und jetzt?", fragte Shawn provozierend.
"Was wohl? Fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor und - was bist du?", fragte er und zeigte mit einer lustlosen Handbewegung auf mich. "Ist mir auch egal, zwanzig Punkte Abzug für dein Haus."
"Du kannst uns keine Punkte abziehen, wir sind nicht in deinem Haus und Vertrauensschüler. Und nur so - dem Schulsprecher ohnehin nicht. Das Einzige, was ich gleich mache, wenn du nicht sofort verschwindest, ist dir das Amt abzuziehen und dich vielleicht mit ein paar üblen Furunkeln in den Krankenflügel zu begleiten."
In Shawns Stimme war jedes Fünkchen Freundlichkeit verschwunden. Er wirkte total ernst und der kalte Unterton jagte mir ein wenig Angst ein.
"Ich bin Vertrauensschüler, du hast mir nichts zu sagen", trotze Maddox frech und setzte einen Blick auf, den ich nicht deuten konnte. Es steckte etwas Schadenfreude und Provokation dahinter.
"Rosier, treib es nicht zu weit."
Shawns Stimme bebte, aber er ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Da ich sein Gesicht nicht sehen konnte, fiel es mir schwer, einzuschätzen, wie ich mich jetzt am besten verhalten sollte.
Shawns Muskeln spannten sich an und unter seinem Umhang tastete seine Hand nach seinem Zauberstab. Auch Maddox schien seine mächtigste Waffe zu zücken.
"Shawn", sagte ich leise und trat zwei Schritte auf ihn zu. "Ich weiß nicht, ob ein Zaubererduell auf dem Gang die beste Idee ist."
Noch bevor Shawn antworten konnte, schrie Maddox "Expulso!", hielt seinen Zauberstab direkt auf Shawn und ließ einen roten Lichtblitz los schießen.
Ich ließ die Bücher fallen, duckte mich und machte mich bereit, in die Luft gesprengt zu werden, aber Shawn war schneller. Er zog seinen Zauberstab, rief: "Protego!", und der Zauber prallte ab.
Shawn hatte ziemlich gut gezielt, denn Maddox musste sich ducken, um dem Sprengzauber auszuweichen. Am Ende des Gangs schlug der Zauber in die Wand ein und hinterließ einen großen schwarzen Kreis.
"Spinnst du?", fauchte Shawn Maddox an, welcher nur mit den Schultern zuckte.
Ich machte mir gar nicht die Mühe darum, auf die Bücher zu achten, sondern zog ebenfalls nur meine Waffe, stellte mich auf Shawns Höhe und richtete meinen Ahornzauberstab auf Maddox.
"Ich würde mal sagen, zwei gegen einen", stellte Shawn geschmacklos fest.
"Zwei gegen einen? Feiglinge nenn' ich das. Aber keine Angst, ich werde schon mit euch fertig."
Diesmal sagte Maddox nichts, doch der nächste rote Strahl schoss sogleich aus der Spitze seines Zauberstabs. Shawn blockte ihn mit einem anderen Zauber.
Toll, ungesagte Zauber würden wir erst nächstes Jahr behandeln. Und dass Maddox sie bereits nach zwei Tagen Unterricht perfekt beherrschte, bewies nur zusätzlich, dass ihm und seiner Familie nicht zu trauen war.
Irgendwie war es mir peinlich, die Zauber laut auszusprechen und somit als einzige was zu sagen, während die beiden sich still duellierten. Gleichzeitig wollte ich aber nicht wie ein Nichtskönner neben Shawn stehen, doch simultan wusste ich nicht, wie er reagieren würde, wenn ich plötzlich meine Zauber losließ.
Dann verdoppelte Maddox auf einmal sein Tempo und Shawn musste sich ducken, wobei er stolperte und sich gerade noch so auf dem Boden abfangen konnte.
Maddox atmete schwerer und fing plötzlich an, die Zauber wieder laut auszusprechen. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
Maddox rief: "Impedimenta!", ich sprang vor Shawn, der erschrocken versuchte, seinen Arm zu verdrehen und sich zu schützen, zielte und rief so laut ich konnte: "Protego!"
Der Lähmzauber prallte von meinem unsichtbaren Schild ab, kam in hohem Tempo zurück zu Maddox und traf ihn mitten in die Brust.
Er erstarrte in seiner Bewegung und der Zauberstab rutschte ihm aus der bewegungsunfähigen Hand.
"Danke", keuchte Shawn und sprang wieder auf die Beine. "Das war echt knapp. Und jetzt?"
"Kommt ihr mit, ihr kleinen Drecksratten", lachte eine eklige Stimme hinter uns.
Maddox durfte uns nicht bestrafen, Filch leider schon. Nach dem Wiederaufbau hatte er für dieses Recht gekämpft und gewonnen (unter der Bedingung, dass er es nicht ausnutzte).
"Nachsitzen! Für alle beide!", spuckte er und mir war klar, dass dies noch längst nicht das Ende des Liedes war. "Dreißig Punkte Abzug für jeden von euch! Strafarbeit, fünf Pergamentrollen, warum man in den Gängen nicht zaubern darf! Außerdem schreibt ihr die Schulordnung zwei Mal ab! Und ich ziehe euch die Vertrauensschülerabzeichen ein, bis das alles fertig ist!"
Ungläubig starrte ich Filch an. Die fettigen Haare hingen ihm wie immer an dem eierförmigen Kopf runter und auf seinem faltigen Gesicht bildete sich ein Lächeln, was man nur äußerst selten bei ihm sah.
Das war das erste Mal, dass mir Punkte abgezogen und Strafarbeiten aufgedrückt wurden. Auch das Nachsitzen war ein völlig neues Gebiet. Und zu allem Überfluss verlor ich direkt am dritten Tag meine Verantwortung als Vertrauensschülerin.
"Mr Filch, ich unterbreche Sie ja nur ungern, aber es steht nicht in Ihrem Recht, Mr Mendes und Miss Bole ihre Abzeichen zu entziehen."
"Oh Gott, zum Glück", hörte ich Shawn leicht aufatmen, als Professor McGonagall um die Ecke kam.
"Was ist hier vorgefallen? Was ist mit Rosier passiert?", fragte sie barsch und sah uns erzürnt an.
"Es...", fing Shawn an, wurde aber von Filch unterbrochen: "Ein Zaubererduell auf dem Gang, das ist hier los."
McGonagall zog die Augenbrauen hoch.
"Diese beiden Ratten haben Rosier angegriffen", knurrte Filch.
"Was?", fuhr Shawn aufgebracht dazwischen. "Das stimmt nicht!"
"Mr Mendes", fuhr Professor McGonagall ihn an.
"Aber Professor", setzte Shawn entgegen.
"Mendes, ich habe sie nicht umsonst zum Schulsprecher ernannt", schnitt Professor McGonagall ihm das Wort ab. "Ich werde Ihnen Gehör schenken, in meinem Büro. Aber zuerst werden Sie und Miss Bole dafür sorgen, dass Mr Rosier zurück in einen normalen Zustand versetzt wird."
"Ich dachte, wir dürfen auf den Gängen nicht zaubern", rutschte es mir raus, als ich Filchs amüsierten Blick bemerkte und just in dem Moment, in dem Shawn mich entgeistert ansah, Professor McGonagalls Augen zu Schlitzen wurden und ich realisierte, was ich soeben gesagt hatte, schlug ich mir die Hand vor den Mund.
"Oh Merlin, Verzeihung", murmelte ich hinter meiner Handfläche und schaute Professor McGonagall erschrocken an. Was zum Dumbledore war los mit mir?
"Fünf Punkte Abzug für Ravenclaw. Finite! "
Professor McGonagalls Zauber schoss zwischen Shawn und mir hindurch und befreite Maddox aus der Starre.
"In mein Büro, folgen Sie mir", befahl sie barsch und wandte sich zum Gehen ab.
Maddox fluchte, stieß gegen Shawns Schulter, als er an ihm vorbei lief und trottete dann genervt hinter der Schulleiterin her.
Ohne zu zögern sammelte ich schnell meine Bücher ein, die jetzt schon ziemlich mitgenommen aussahen. Shawn half mir und trug die Hälfte. Dann sprinteten wir Professor McGonagall und Maddox hinterher.
Shawn sprach mich nicht an, was mir nur Recht war. Denn hätte er eine Antwort für mein Verhalten haben wollen, hätte ich ihm keine geben können.
Da ich noch nie im Schulleiterbüro gewesen war, wunderte ich mich schon sehr, als Professor McGonagall vor einem goldenen Wasserspeier anhielt.
"Wolfswurz", sagte sie überzeugt und ohne einen einzigen Laut erschien plötzlich eine Wendeltreppe, die sich geräuschlos nach oben drehte.
"Na los", scheuchte uns Professor McGonagall auf die Stufen. Ich stand ganz vorne und Shawn eine Stufe unter mir, sodass wir in etwa gleichgroß waren. Zwei Stufen unter Shawn lehnte Maddox sich gegen die Steinsäule in der Mitte und Professor McGonagall stand mit wahrscheinlich strengem Blick als letzte auf der nach oben fahrenden Treppe.
Die Blicke in meinem Nacken machten mich nervös und angespannt trat ich von einem Fuß auf den anderen.
Oben angelangt sah ich mich beeindruckt um. Ich war, wie gesagt, noch nie hier gewesen und staunte nicht schlecht.
Das Schulleiterbüro war ein runder Raum, an dessen Wänden viele Porträts von Schulleitern hingen, die gelangweilt Löcher in die Luft starrten oder schliefen und leise schnarchten.
In der Mitte befand sich ein großer massiver Schreibtisch, auf dem geordnet verschiedene Pergamente und andere Unterlagen gestapelt waren. Dahinter befanden sich Bücherregale, die bis zur Decke reichten.
Professor McGonagall schritt stramm an uns vorbei, zauberte mit einem Wink zwei weitere Stühle neben den einen, der einsam vor dem Schreibtisch stand und zeigte ohne ein Lächeln darauf.
Wir setzten uns - ich nach rechts, Shawn in die Mitte und Maddox nach links.
Professor McGonagall ging hinter den Schreibtisch und ich entdeckte schräg neben den Bücherregalen eine Vitrine, hinter deren Glas ein mit Rubinen besetztes Schwert lag, das ich als das Schwert von Gryffindor identifizierte. Oben auf der Vitrine lag in sich zusammengesackt der Sprechende Hut.
"Nun denn", schnitt Professor McGonagalls Stimme wie ein Beil durch die bedrückte Stimmung. "Mendes, ich möchte, dass Sie mir diese Situation erklären. Warum, beim Barte des Merlin, haben Sie sich erlaubt, mit Sprengzaubern durch die Gänge zu schießen!?"
"Professor, es war anders, als Sie denken", verteidigte Shawn sich sofort. "Ich bin in Kassy hinein gelaufen und dann ... Ich gebe zu, dass wir gezaubert haben. Kassys Hand hat geblutet und die Bücher waren geknickt und dann habe ich nicht nachgedacht und einfach durch Magie aufgeräumt."
Shawn pausierte kurz und Professor McGonagall sah ihn streng an. Shawn fuhr fort: "Und dann kam Rosier..."
"Professor, Mendes hat mich angegriffen, nur, weil ..."
"Ich habe dich angegriffen? Du hast einen Sprengzauber auf mich abgefeuert!", rief Shawn aufgebracht.
"Rosier! Mendes! Klappe halten, alle beide!", brach es aus Professor McGonagall heraus.
Erbost schlug sie mit ihrer Handfläche auf den Tisch und wir zuckten zusammen.
"Miss Bole, wenn die beiden Herren sich streiten wie Paviane, würden Sie bitte so freundlich sein und mir erklären, was wirklich geschehen ist?"
"Ja, Professor", sagte ich kleinlaut und schluckte. Jetzt würde ich mir Maddox zum Feind machen. "Es ist, wie Shawn gesagt hat ..."
"Das stimmt doch gar nicht, du Schlammblut-Squib!"
"Rosier! Es reicht!", kreischte Professor McGonagall. "Zwanzig Punkte Abzug für Slytherin und wenn Sie nicht gleich Ihren Mund halten, werde ich selbst dafür sorgen!"
Maddox schürzte die Lippen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich gegen die Stuhllehne fallen.
Seine Beleidigung kümmerte mich nicht, da ich weder Muggelgeborene war, noch eine unbegabte Hexe. Und seine widerwärtige Art kannte ich bereits.
Nach einer weiteren Aufforderung Professor McGonagalls berichtete ich die ganze Geschichte wahrheitsgetreu und Maddox' Blick wurde immer finsterer.
"Shawn lag auf dem Boden, da habe ich uns mit einem Schildzauber geschützt und der Lähmzauber ist auf Maddox zurückgeprallt", schloss ich ab. Dass ich bewusst gezielt hatte, verschwieg ich.
Professor McGonagall seufzte.
"Nun gut. Mendes, haben Sie noch etwas beizutragen?"
"Ja Professor, wir haben defensiv gekämpft. Nur Schildzauber oder Gegenflüche. Maddox hat offensiv gekämpft."
Maddox sah aus, als würde er jeden Moment auf Shawn losgehen und ihn erwürgen.
"Also gut. Rosier, Sie werden das Brandloch in der Wand von Hand säubern. Außerdem werden Ihnen dreißig Punkte abgezogen und Sie schreiben die Schulordnung zwei Mal ab. Mendes und Bole, Sie helfen Madam Pince am Mittwochabend in der Bibliothek dabei, die Bücher wieder einzusortieren. Und ich sehe Sie alle morgen um siebzehn Uhr beim Nachsitzen in Mr Filchs Büro."
"Morgen?", stöhnte ich und setzte mich kerzengerade hin. Aber Professor McGonagall ließ mich mit einem Blick verstummen.
"Die Punkte wurden Ihnen beiden bereits abgezogen", sagte sie und schaute Shawn und mich streng an. "Sie alle drei werden verwarnt. Bei einer weiteren Aktion dieses Ausmaßes werde ich Sie Ihrer Ämter entziehen. Und ich werde Ihre Familien über den Vorfall unterrichten. Sie dürfen gehen."
Maddox sprang sofort auf, sodass der Stuhl fast umkippte, und stürmte aus dem Büro.
"Danke, Professor", sagte Shawn und nahm seinen Teil der Bücher auf den Arm.
"Auf Wiedersehen", murmelte ich und folgte Shawn mit meinem Stapel zur Tür.
Am Fuße der Wendeltreppe angelangt, legte Shawn mir die Bücher auf meine Hälfte. Sofort fing mein Ellbogen wieder stärker an zu schmerzen, aber ich verkniff mir, mein Gesicht zu verziehen.
"Also dann, Kassy. Ich hab dir ja versprochen, dass wir uns wiedersehen. Geht schneller, als du dachtest."
Shawn zwinkerte mir zu, drehte sich um und joggte den Gang entlang.
Ich schaute ihm nach, bis er hinter der Ecke verschwunden war. Erst dann fing ich langsam an zu realisieren, was gerade eigentlich passiert war.
Ich war in ein Zaubererduell auf einem Gang verwickelt, zusammen mit Shawn Mendes. Ich habe gegen die Schulregeln verstoßen, mir Maddox Rosier zum Feind gemacht und mir tatsächlich Nachsitzen eingehandelt. Ich, Kassy Bole, das unscheinbare und brave Mädchen.
Noch gestern hätte ich mir einen Wichtel gezeigt, aber jetzt musste ich mir eins eingestehen: Ich freute mich auf das Nachsitzen, obwohl ich dann mit Maddox in einem Raum eingesperrt wäre.
Und ich vertraute darauf, dass ich Shawn auch danach wiedersehen würde. Selbst wenn das Schwierigkeiten hervorrief, nahm ich diese gerne in Kauf.
Schließlich riss mich das Klingeln der Schulglocke aus den Gedanken. Panisch schielte ich auf die Uhr an meinem Handgelenk und stellte erschrocken fest, dass die siebte Stunde soeben begonnen hatte.
So schnell es mir mit den Büchern im Arm möglich war, lief ich zurück in den siebten Stock. Auf der Wendeltreppe ignorierte ich, dass ich schon eben gegen die Regeln verstoßen hatte und ließ die Bücher einfach hinter mir her schweben, während ich die Stufen nach oben spurtete.
Ich schmiss meine Tasche und die Bücher einfach auf mein Bett, schnappte mir meinen Rucksack, stopfte neues Pergament, Federn und ein Tintenfass schnell hinein und sprintete dann zum Astronomieklassenzimmer.
Völlig außer Atem kam ich schließlich im Erdgeschoss vor der Klassenzimmertür zum Stehen und verschnaufte kurz. Was ich nicht leugnen konnte - ich hatte trotz der Panik die ganze Zeit ein Lächeln auf den Lippen gehabt, weil die Freude über das Geschehene einfach zu groß war.
Was mich allerdings am meisten freute - Melody war in Maddox' Jahrgang und sie waren beide in Slytherin. Außerdem war Shawn in den Kampf verwickelt und wenn Shawn mich erwähnen oder Maddox sich an meinen Namen erinnern würde, konnte ich Mels Gesicht schon fast bildlich vor mir sehen.
Andererseits würde ich auf ihr Gesicht verzichten, damit nicht die ganze Schule Bescheid wusste. Die Kommentare, die ich mir dann anhören müsste, gingen mir schon bei der bloßen Vorstellung auf den Geist.
Ich klopfte an der Tür, öffnete sie und trat hinein. Professor Ronio schaute mich an, ebenso wie der Rest der Klasse.
"Entschuldigung, Sir", murmelte ich und ging schnell auf meinen Platz neben Olivia zu.
"Professor McGonagall hat mich bereits darüber unterrichtet, dass Sie sich verspäten", antwortete Professor Ronio und fuhr dann mit dem Unterricht fort.
"Wo zur Hölle warst du? In der Schule gehen Gerüchte rum, dass ein Schüler in die Luft gesprengt wurde!", zischte Olivia mir zu. Sie schien sich wirklich Sorgen zu machen, denn normalerweise war Olivia die letzte, die im Unterricht redete.
"Könnte sein, dass ich mit drin stecke", gab ich kleinlaut zurück.
"Ist nicht dein Ernst! Erzähl mir, was passiert ist! Obwohl" - Sie stockte und schüttelte dann ihren Kopf - "Erzähl es mir doch nicht, ich will es nicht wissen. Zumindest nicht jetzt, denn jetzt ist Unterricht."
Das klang schon mehr nach Olivia und grinsend schrieb ich hastig das ab, was bereits an der Tafel stand.
In dieser Nacht träumte ich das erste Mal von Shawn Mendes.
Allerdings war es ein eher weniger schöner Traum. Ich träumte, dass Shawn von Maddox' Lähmzauber getroffen wurde und sich dann in einen Dementor mit dem Kopf meines Vaters und der Stimme Mels verwandelte. Er schrie mich an, wie ich so dumm sein konnte, ihm nicht zu helfen. Er beschrieb mich als unfähig, weil ich keine ungesagten Zauber konnte.
Schließlich verwandelte der Dementor sich zurück in Shawn. Es war aber ein Shawn mit schwarzen Augen, der mich ansah und immer wieder die Worte: "Ich nicht, aber Kassy", wiederholte.
Ab da war es unerträglich. Shawn tauchte nicht mehr auf, denn der Shawn mit den schwarzen Augen verwandelte sich in Maddox, der diverse Sprengzauber auf mich abfeuerte. Die Worte hallten wie in einer großen Steinschlucht wider und ich wachte auf, als Maddox mich schließlich mit einem Todesfluch umbrachte.
Ich schreckte aus meinem Schlaf hoch und merkte, wie mir die Tränen über die Schläfen rannen. Es war bereits hell und es fiel ein dünner Lichtstrahl durch den Spalt zwischen den zugezogenen Gardinen.
Die anderen schliefen noch. Ich zog mich leise an, schnappte mir meinen Zauberstab und machte mich auf den Weg in die Bibliothek.
Es war angenehm still, noch stiller als sonst, da niemand in der Bibliothek saß. Die Uhrzeit verriet, dass dies wahrscheinlich auch so bleiben würde, denn keiner ging um kurz nach sieben in die Bibliothek, um zu lesen.
Doch zum Glück schloss Madam Pince trotzdem um sieben die Tür auf. Ich lief die Regale ab und fand schließlich das, was ich gesucht hatte.
Ich zog das Buch aus dem Regal, setzte mich auf meinen Lieblingsplatz (der logischerweise frei war), zog die Schuhe aus und begann zu lesen.
Ich war so versunken und konzentriert, dass ich gar nicht merkte, wie die Zeit verstrich. Und was ich ebenfalls nicht merkte war, dass plötzlich jemand neben mir stand.
"Was machst du da?", fragte Shawn neugierig.
Ich schrie auf und das Buch rutschte aus meinen Händen.
"Oh, tut mir leid, ich dachte, du hättest mich gesehen. Irgendwie haben wir es mit Büchern und Zusammenstößen."
Er lachte leicht und hob das Buch auf.
"Ruhe!", kam es gedämpft von Madam Pince.
"'Tschuldigung", antwortete ich.
"Ungesagte Zauber für Anfänger?", las Shawn den Titel vor. "Ist das nicht Stoff der sechsten Klasse?"
Ich biss mir auf die Lippe. "Ja, aber ich wollte es gerne jetzt schon lernen."
"Dann zeig mal, du hast ja schon das halbe Buch verschlungen", forderte Shawn mich lächelnd auf, klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch.
"Was? Nein, ich bin noch nicht so weit", verweigerte ich und zog eines meiner Knie an den Oberkörper.
"Du willst es lernen, weil wir uns gestern stumm duelliert haben?", fragte Shawn und zog eine Augenbraue hoch.
"Nein, das ist es nicht ... "
"Kassy, lüg mich nicht an. Du hast erst eingegriffen, als ich auf dem Boden lag und Rosier wieder laut gezaubert hat."
"Ja, schön, deswegen will ich es lernen, okay? Bist du jetzt zufrieden?", gab ich garstig zurück und bereute es im selben Moment wieder. Es war mir peinlich, das vor Shawn zuzugeben. Aber er schien keineswegs böse oder eingeschnappt zu sein.
"Sag ich ja", lächelte er mich an.
"Was machst du eigentlich hier?", fragte ich ihn und setzte mich im Schneidersitz auf den Sessel. Shawn stand immer noch vor mir und setzte sich nun in den Sessel auf der anderen Seite des Tisches.
"Ich hab dich gesucht", antwortete er nur.
"Und wieso?", wollte ich wissen. "Wir sehen uns doch noch nachher beim Nachsitzen."
"Ich hab doch gestern gesagt, es geht schneller als du denkst. Und hier bin ich."
"Und wie lange hast du das Schloss nach mir abgeklappert?"
"Nicht lang, ehrlich gesagt war ich vorher nur in der großen Halle. Ich kenne dich, deswegen dachte ich mir, dass ich dich, wenn schon nicht beim Essen, hier finden würde."
Jetzt war ich es, die das erste Mal leise auflachte. Aber es war kein fröhliches, sondern ein eher ironisches Lachen.
"Wieso lachst du?", wollte er wissen.
"Ist nicht so wichtig", verweigerte ich und sah auf meine Füße.
"Doch, sag, wieso lachst du?"
"Okay, auf deine Verantwortung. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber glaub mir, das tust du nicht."
"Was tu ich nicht?", fragte Shawn verwirrt.
"Du kennst mich nicht", antwortete ich gelassen.
"Das glaubst du."
"Nein, das weiß ich."
"Ich hatte gestern noch etwas Zeit, ein wenig über dich herauszufinden. Dein Name ist Kassy Bole, du bist in Ravenclaw, bist im fünften Jahr und Vertrauensschülerin. Du bist mit Victoire Weasley und Teddy Lupin befreundet, was ich ehrlich gesagt nicht erwartet hätte. Außerdem bist du ziemlich gut im Unterricht und du hast eine Schwester, die Saiph heißt."
"Nicht schlecht", gab ich zu. "Aber tut mir leid, das war nur die Bestätigung dafür, dass du tatsächlich nichts über mich weißt."
Ich nahm mir das Buch vom Tisch und schlüpfte schnell in meine Schuhe. Dann stand ich auf und drehte Shawn den Rücken zu, um zu gehen.
"Du hast gestern gesagt, du würdest mich kennen", ließ Shawn mich innehalten.
"Ich habe gesagt, ich weiß wer du bist, und dass dich jeder als Persönlichkeit kennt", entgegnete ich.
"Ach, wirklich?"
Normalerweise wäre ich jetzt einfach schnell aus dem Raum gegangen und hätte mich versteckt, aber Shawn löste das gleiche Gefühl aus, was auch Melody im Zug in mir ausgelöst hatte.
Er würde sich in spätestens drei Wochen ohnehin nicht mehr an mich erinnern und ich war es auch nicht wert, ein Gesprächsthema unter seinen Freunden zu sein - das hatte mir Melody oft genug an Beispielen ihrer Freunde bewiesen.
"Was willst du hören", sagte ich und drehte mich zu ihm um. "Das, was alle über dich glauben zu wissen oder das, was du wirklich bist."
"Was alle über mich wissen", sagte er ohne zu zögern.
"Du heißt Shawn Mendes, bist in Gryffindor, Vertrauensschüler und Schulsprecher. Du bist Jahrgangsbester und hast Spitzennoten. Ein sehr begnadeter Quidditchspieler, aber das Angebot des Kapitäns hast du abgelehnt. Jeder mag dich, obwohl niemand weiß, woher du wirklich kommst, denn du stammst ganz sicher nicht aus dem britischen Raum. Deine besten Freunde sind Dave Owen und Lewis Flint. Du hast eine kleine Schwester, die keine Hexe ist. Und du trägst zwei verschiedene Socken."
Shawns Miene war völlig unbeeindruckt und auch mein Hinweis auf die Kombination einer schwarzen mit einer hellgrauen Socke ließ ihn kalt.
"Und jetzt erzähl mir, wer ich wirklich bin."
"Ich habe keine Ahnung", gab ich ehrlich zu.
"Siehst du, du kennst mich auch nicht."
"Ja, aber ich habe es ja auch nie behauptet, oder?"
Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging wirklich.
Ich hatte es zwar nicht gesehen, aber ich war mir sicher, dass Shawn sich in den Sessel gelehnt und gelächelt hatte.
Denn so gut kannte ich ihn dann doch schon.
ϟ ϟ ϟ
Da haben die beiden dann ja doch schon einiges zusammen erlebt :D
Wie fandet ihr Maddox' Auftritt?
Haltet ihr Shawn für einen Stalker oder ist er einfach nur nett?
Was wird das Nachsitzen wohl mit sich bringen?
Danke für die 1K Reads (mit nur 7 Teilen - die 7 ist magisch ;)), jetzt schon, das macht mich ein wenig sprachlos xD
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 13.09.2017 (Wednesday)
[09.09.2017]
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