Kapitel 25 ϟ Tomato
Breakeven - The Script ♪♫
Ich wusste gar nicht, was passiert war, doch als ich meine zusammengekniffenen Augen wieder öffnete, befand ich mich auf einem weichen Teppich in einem offenen Wohnzimmer, dem Küchentisch gegenüber.
Shawn war nirgends zu entdecken. Ich schniefte nach wie vor und fühlte mich noch elender, da ich appariert war - denn das machte es nicht wirklich besser.
Ich versuchte langsam zu atmen, mich zu beruhigen, aber es klappte nur bruchstückhaft.
Shawn trat aus einer Tür und sah sich suchend nach mir um. Er schien jedoch wenig überrascht zu sein, mich an derselben Stelle zu finden, an der er mich zurückgelassen hatte.
Ohne ein Wort hob er mich hoch und ich ließ es einfach geschehen. Er trug mich zurück durch die offene Tür, aus der er gekommen war, und setzte mich auf dem Wannenrand ab. Das Badezimmer.
"Ich ...", setzte er an, wusste aber nicht, was er sagen sollte.
Mein Blick wanderte an ihm hoch und blieb an seiner blutenden Nase hängen. "Scheiße!", entfuhr es mir. Das war alles meine Schuld.
"Halb so wild, ohne fies zu sein, du siehst schlimmer aus", murmelte er. "Sorry ... ich lass dich allein."
Er verließ das Bad und ich sackte in mir zusammen. Das Wasser war in die Wanne eingelassen, ein wenig Schaum schwamm an der Oberfläche. Ich streifte langsam meine Klamotten ab und tunkte einen Fuß in das Wasser. Es war warm, aber nicht zu heiß. Die perfekte Temperatur.
Ich hockte im Wasser, die Knie ans Kinn gezogen und mit den Armen umschlungen und versuchte mich an das letzte Mal zu erinnern, als ich gebadet hatte. Es musste ewig her sein.
Das Vertrauensschülerbad hatte ich noch nicht benutzt, bis jetzt hatte ich noch keine Zeit dazu gefunden. Doch ich nahm es mir vor. Baden tat ab und zu gut und auch wenn es weit länger dauerte als Duschen, fand ich gerade die Vorzüge wieder.
Nach einer Weile bewegte ich mich wieder, tauchte unter, wusch mich. Obwohl ich gestern Abend geduscht hatte, fühlte ich mich dreckig.
Die Wassertropfen leisteten den Tränen in meinem Gesicht Gesellschaft, die Stelle an meinem linken Rippenbogen tat weh. Sie wies bereits eine bläuliche Färbung auf, ebenso wie die Quetschung an meinem rechten Oberarm.
Ich fühlte mich so elend. Nicht, weil ich verletzt war, weil mein Vater mich verprügelt hatte, sondern weil Shawn verletzt war. Weil mein Vater Shawn verprügelt hatte.
Dass es nicht beabsichtigt war, machte es irgendwie nur noch schlimmer.
Shawn musste mich jetzt hassen. Ich hatte ihn in diese Situation gebracht, mein Vater war auf mich wütend und er hatte die Schläge abbekommen. Eine Erklärung war ich ihm auch noch schuldig, doch das würde ich nicht leisten können.
Und abhauen konnte ich auch nicht, denn zaubern durfte ich nicht.
Zaubern.
Mein Zauberstab.
Ich war so schnell aus der Wanne gesprungen, dass die Hälfte des Wassers das Bad durchflutete und meine Rippen sich vor Schmerz meldeten. Ich schnappte mir schnell die Handtücher, die Shawn mir raus gelegt hatte und wickelte damit zuerst meinen Körper und dann meine Haare ein.
Ich stürmte aus dem Bad und fand Shawn in der Küche stehend den Zauberstab schwingend Essen kochen.
"Ich hab dir Klamotten von mir raus gelegt, die du anziehen kannst. Der Pulli ist vielleicht ein wenig groß, aber die Jogginghose passt mir seit Jahren nicht mehr, die sollte also in Ordnung sein."
"Mein Zauberstab!", brach es aus mir heraus und Shawn hob den Blick von den Töpfen.
Er musterte mich eine Weile und ich war mir unsicher, ob ich das als gutes oder schlechtes Zeichen interpretieren sollte.
"Hab ich geholt", sagte er schließlich. "Ich bin nochmal zurückappariert, direkt in dein Zimmer, und konnte ein wenig von deinem Zeug mitnehmen. Ich wusste nicht, was wichtig war, also ... dein Rucksack steht da."
Er deutete mit dem Finger durch den Raum auf das schwarze Sofa.
"Da drin sind dein Zauberstab, das Buch von deinem Nachttisch und die Briefe, die auf deinem Schreibtisch lagen. Keine Angst, ich habe keinen gelesen. Oh, und das Federset, was danebenlag. Mehr habe ich nicht zusammensammeln können, ich hab jemanden auf der Treppe gehört."
Das verstärkte mein schlechtes Gewissen nur noch mehr. Ich schuldete Shawn so viel und wollte ihn dankend umarmen, doch ich stand immer noch nur in einem Handtuch vor ihm und fing langsam an zu frieren.
Deswegen nahm ich ohne eine Antwort die kleine Jogginghose und den dunkelroten Pulli in die Hand und lief zurück ins Bad. Ich lehnte die Tür nur an, stellte mich dahinter und zog mich blitzschnell um, ohne mich nochmal abzutrocknen.
Meine Haare rubbelt ich mit dem Handtuch etwas trockener und ließ die feuchten Spitzen einfach über meine Schultern fallen.
Der Versuchung in den Spiegel zu blicken konnte ich nicht stand halten. Es war nur kurz, doch ich sah genauso schlimm aus, wie vermutet. Meine Wange war rot und brannte nach wie vor. Meine Augen waren etwas aufgequollen und das einzig gut aussehende war Shawns dunkelroter Pulli, auf dem der weiße Schriftzug "OBEY" geprintet war. Ich verstand zwar den Sinn hinter dieser Aufforderung nicht, beließ es aber einfach dabei.
Schnell stürmte ich aus dem Bad und ehe Shawn sich versah, hatte ich meine Arme um seine Brust geschlungen und meinen Kopf in seiner Schulterhöhle vergraben.
"Es tut mir so leid", nuschelte ich in sein T-Shirt. "Es tut mir so verdammt leid."
Shawn drückte mich an sich und ich spürte, wie er seinen Kopf auf meinem ablegte.
"Das muss es nicht. Es war nicht deine Schuld. Geht es dir gut?"
Wir ließen uns los und sein besorgter Blick tat mir im Herzen weh.
"Ja, es tut weh, aber es ist in Ordnung."
"Das ist es nicht", widersprach er mir bitter. "Das, was passiert ist, ist nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht."
"Aber ich komme damit klar", erwiderte ich leise.
"Bist du sicher? Die Quetschung am Arm sah schlimm aus."
"Das geht wieder weg, das haben sie bis jetzt alle getan", kommentierte ich trocken.
"Wie - das war nicht das erste Mal, dass er dich geschlagen hat?"
Ich versuchte nicht zu lachen. Es war verrückt, wie dies alles für mich die Normalität bildete.
"Was denkst du? Er ist noch nie so ausgerastet wie heute, aber ja, es ist nicht das erste Mal, dass er mich geschlagen hat. Und vermutlich auch nicht das letzte."
Shawn suchte nach den passenden Worten, doch blieb stumm. Ich verübelte es ihm nicht, denn es gab keine passenden Worte. Es war die Wahrheit, die bittere, harte Wahrheit.
"Es ... tut - "
"Nein", unterbrach ich ihn. "Sag nicht, dass es dir leid tut. Du kannst nichts dafür, genauso wenig wie ich was dafür kann."
Ich belog mich selbst, denn es fühlte sich so an, als sei alles meine Schuld. Dad gab mir dieses Gefühl, schon so lange, aber ich wusste, dass diese Lüge Shawn beruhigte. Wenigstens das konnte ich ihm geben, er sollte meine Probleme nicht auch noch mit sich rumschleppen.
"Und ich will kein Mitleid", fuhr ich ruhig fort. "Ich steh das durch, auch allein."
"Das war so Gryffindor-Unravenclaw-mäßig, dass es fast weh tat", schmunzelte Shawn leicht. "Egal was du dir einredest, das hat nichts mit Mitleid zu tun. Ich kann aufhören, das zu sagen, aber Kassy, beim Merlin, du bist. Nicht. Allein."
Wir schauten uns eine Zeit lang an, direkt in die Augen und ich fühlte mich in diesem Moment so verletzlich, so klein und schwach, doch ich sah nicht nur mich. Shawn war an meiner Seite, er gab mir Kraft, war meine bessere Hälfte. Ich war nicht allein. Auch wenn ich mich so fühlte, Shawn hing mit mir zusammen da drin.
Ich konnte nicht anders, als ihn nochmal zu umarmen, diesmal länger. Er drückte mich so fest an sich, dass mein Rippenbogen wieder ein wenig schmerzte, doch ich ignorierte es einfach. Ich wollte nicht, dass Shawn mich losließ. Ich brauchte diese Umarmung so dringend.
"Und es wird das letzte Mal gewesen sein", murmelte er in meine Haare. "Das fucking letzte Mal, dass er dir weh getan hat. Dafür sorge ich."
Shawn machte mir bewusst, was geschehen war. Ich konnte nie wieder nach Hause zurückkehren. Nie wieder, ich konnte nicht und ich wollte nicht. Ich hielt das nicht mehr aus.
Ich wollte mich nicht mehr schlagen lassen.
"Wieso kochst du?", fragte ich, weil mir der Geruch von Tomaten in die Nase stieg. "Und wieso Tomaten? Ich dachte, du hasst Tomaten!"
Shawn lachte und ich spürte an meinem Gesicht, wie seine Brust bebte. Automatisch drückte ich ihn enger an mich.
"Ich hasse Tomaten, ja, aber Tomatensoße schmeckt trotzdem."
"Wir haben gerade erst gegessen", erinnerte ich ihn an das Abendessen vor etwa drei Stunden, bei dem wir uns beide nicht zurückgehalten haben. "Und sag Tomate nicht so komisch."
"Es ist kurz vor zwölf und ich habe keinen Sekt. Und ich sag Tomate gar nicht komisch, du sagst es komisch. Mitternachtssnacks gehen auch, wenn du keinen Hunger hast. Und ich weiß nicht, wie es mit dir aussieht, aber ich habe schon wieder Hunger. Prügeleien stressen mich."
Er brachte mich tatsächlich zum Lachen. Wie konnte dieser Junge so perfekt sein? Wie konnte ich so viel Glück haben, in ihm einen so guten Freund gefunden zu haben? Womit hatte ich ihn verdient?
"Gib's doch zu, du wolltest nur angeben", grinste ich in sein T-Shirt.
"Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest angeben und meine Nase wieder richten."
Er ließ mich los, sodass ich seine Nase begutachten konnte. Etwas trockenes Blut klebte noch an seinem Philtrum, sonst sah er jedoch unverletzt aus.
"Ich weiß, man kann nichts sehen, aber in Wahrheit tut es scheiße weh", gab er zu.
"Du musst dich also zusammenreißen, nicht gleich los zu flennen?"
"Total, ich würde schon längst heulen, aber ich kann mich ja nicht von einem Lauch in meinem Pulli trösten lassen."
Dafür kassierte er einen Schlag gegen den Oberarm, den er mit Humor wegsteckte.
"Ich würde dir ja wirklich gerne helfen, aber ich darf nicht zaubern. Ich kann dir allerdings zeigen, was du machen musst. Ist nicht schwer."
Wir reparieren Shawns Nase, luden uns seine durch Zauberei gekochten Spagetti mit der Tomatensoße auf zwei Teller und setzten uns auf seinen kleinen Balkon.
Gerade rechtzeitig. Wir aßen keine zwei Minuten, da piepte Shawns Uhr und über ganz London erhob sich ein buntes Feuerwerk.
"Frohes neues Jahr, Kassy", flüsterte Shawn.
"Ja", flüsterte ich zurück und schloss die Augen. "Ein frohes neues Jahr, Shawn."
Wir aßen die Nudeln auf. Shawn hatte recht gehabt, ich war komischer Weise wirklich hungrig gewesen. Wir beobachteten das Feuerwerk eine weitere halbe Stunde, dann wurde uns zu kalt und wir gingen rein.
Aufräumen erledigte Shawn für uns - natürlich mit Magie - und während ich Richtung Sofa lief, rief ich: "Angeber!", über meine Schulter. Hinter mir ertönte nur das schallende Lachen, welches ich so sehr liebte.
Ich schmiss mich in auf das weiche Polster und reckte neugierig meine Nase über die Lehne. Jetzt musste ich Shawns Wohnung erst mal unter das Omniglas nehmen.
Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Shawn. Ich wusste nicht, wie ich diesen Duft beschreiben sollte, aber ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen.
Die Wohnung an sich ließ mich jedoch skeptisch werden.
Für einen siebzehnjährigen Jungen war sie ziemlich stilvoll eingerichtet und erschien auf den ersten Blick viel zu ordentlich. Doch wenn man näher hinschaute, entdeckte man überall Dinge, die an Plätzen lagen, wo sie nicht hingehörten. Schlüssel, dreckige Socken, Taschentücher, Briefe und leere Verpackungen.
Die Küche, das Wohnzimmer und der Flur bildeten einen Raum, der mit großen weißen Fliesen gedeckt war. Die Möbel waren überwiegend weiß oder schwarz, das einzige Naturholzstück war das eine Regal, welches an der Wand hing.
Die Küche sah sehr modern aus, auch das Wohnzimmer. Das Sofa, auf dem ich saß, war schwarz und deutlich bequemer, als es zuerst wirkte. Zwei weiße Kissen lehnten in den beiden Ecken und eine weiße flauschige Decke ruhte in einem Korb neben dem Tisch. Der besagte Tisch war so schwarz wie das Sofa und stand auf dem großen weißen Teppich, auf dem wir vorhin gelandet waren.
Neben der Tür zum Badezimmer befand sich eine weitere, ich vermutete Shawns Schlafzimmer dahinter. Links neben der Tür zum Bad stand eine Kommode an der Wand, auf dem ein Gegenstand thronte, der meine Augen auf die doppelte Größe wachsen ließ.
"Ist das ein Fernseher!"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, doch Shawns Gestalt erschien sogleich neben mir.
"Ja, wieso? Hast du noch nie einen gesehen?" Er lachte, verstummte aber, als ich nicht antwortete. "Das ist nicht dein Ernst, oder?!"
"Natürlich habe ich schon einen gesehen, aber falls es dir nicht aufgefallen ist, Zuhause", bei dem Wort spürte ich einen Stich im Herzen, ließ es mir jedoch nicht anmerken, "stand keiner im Wohnzimmer. Dad hält nicht viel von Muggelzeug. Er benutzt ihn nur, wenn etwas Wichtiges in der Muggelwelt passiert und er für die Arbeit informiert sein muss."
"Das wollte ich dich eh noch fragen: Als was arbeitet dein Dad eigentlich?"
Shawn setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich zog ein Bein an mein Kinn.
"Als Auror, aber ... "
"Was?", entfuhr es Shawn. "Und du - "
"Jetzt lass mich doch ausreden", beschwerte ich mich lachend. "Ich wusste, dass du das sagst. Aber es gibt nicht nur Auroren, die im Außendienst arbeiten. Gerade du solltest das wissen."
Er zuckte mit den Schultern.
"Das ist wie in der Muggelwelt mit der Polizei und dem Militär. Während du als Soldat zum Militär willst und dich an den Galgen hängst - "
"Jetzt übertreibst du", warf er grinsend ein.
"Ich liebe Übertreibungen. Mein Vater arbeitet mehr als Polizist, Aufsicht in Askaban, Streife durch Orte, an denen die Zaubererpopulation höher ist, jede Menge Papierkram im Ministerium. Sein spannendster Auftrag war bei der Quidditch-Weltmeisterschaft, als er als zusätzliche Aushilfskraft vor dem Stadion die Schutzzauber aufrecht erhalten musste."
"Na gut", hob Shawn abwehrend die Hände. "Überzeugt. Trotzdem liefere ich mich nicht an den Galgen, nur weil - "
"Du fängst schon an wie Teddy", seufzte ich schmunzelnd.
"Zum interessanten Teil: Willst du das Wunderding arbeiten sehen?", schlug Shawn vor und nickte dem Fernseher zu.
"Da fragst du noch?", freute ich mich und fühlte mich wie an meinem sechsten Geburtstag. "Was können wir gucken?"
"Was hältst du von einer Serie?"
Sofort schoss mir das Bild von den vielen kleinen bunten Pferden, die Regenbögen hinter sich hergezogen oder sich teleportierten, in den Kopf. Ein Mädchen aus meiner früheren Schulklasse hatte diese Serie immer geschaut, egal wann ich bei ihr war (was äußerst selten passierte, aber vorkam). Selbst an ihrer Geburtstagfeier.
"Sind wir ... nicht schon ein wenig zu alt für sowas?", fragte ich zögerlich.
Daraufhin klärte Shawn das Missverständnis auf und erläuterte mir, was Serie bedeutete. Es gab angeblich auch noch andere Serien außer My Little Pony. Ich willigte ein.
"Ich hab auch schon eine Idee, was wir gucken können. Es ist eine kanadische Serie, ich muss hier ja mal ein bisschen Heimat rein bringen."
Shawn strahlte, während ich lachte. Er hatte echt nicht mehr alle Federn an der Spule.
"Sie heißt The 100. Du wirst sie lieben."
Ich brauchte eine Weile, um mich an die sich bewegenden Bilder zu gewöhnen. Es war anders als die Bilder in der Zeitung und das letzte Mal hatte ich vor über fünf Jahren in weitaus schlechterer Qualität das Vergnügen gehabt. Doch nach der zweiten Folge fühlte ich mich, als hätte ich mein ganzes Leben Fernsehen geschaut und Shawn hatte recht, ich liebte die Serie. Auch wenn ich nicht verstand, wieso das Reh zwei Köpfe hatte und was radioaktive Strahlung sein sollte, denn wirklich hell war es nicht.
In der vierten Folge - es war schon mitten in der Nacht, doch weder Shawn und ich waren müde - stoppte Shawn den Fernseher plötzlich. Zuerst wollte ich fragen, wie er es geschafft hatte, das Bild ohne seinen Zauberstab einzufrieren (denn er spielte die Serie nicht über einen DVD-Player ab), doch dann kam mir die Frage blöd vor und ich sah ihn einfach nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Mir ist gerade noch was eingefallen, ich hole es schnell", sagte er einfach nur und stand auf.
Jetzt konnte ich das fragen, was schon seit geraumer Zeit in meinem Kopf rumschwirrte: "Sag mal, Shawn, wenn du nur in den Ferien hier bist, wer hat die Wohnung denn dann in der Schulzeit?"
Shawn blieb in der Tür zu seinem Schlafzimmer stehen und neugierig, wie ich war, versuchte ich an ihm vorbei einen Blick auf sein Bett zu erhaschen, doch der Winkel war zu spitz.
"Die Wohnung ist Eigentum meiner Großtante, sie wohnt hier in der Schulzeit, nun ja, manchmal. Sie arbeitet in London und wenn sie spät abends ab und zu unterwegs ist, dann will sie nicht so weit reisen. Jetzt gerade ist sie bei meiner Oma, also ihrer Schwester, auf dem Land."
Ich nickte nachdenklich. Ein wenig Skepsis blieb bestehen, denn welche Hexe Anfang siebzig richtete ihre Wohnung so ein?
Shawn kam mit einem kleinen Päckchen aus seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich, bevor er sich wieder zu mir aufs Sofa setzte.
"Das hier ist für dich", sagte er und streckte mir das Geschenk entgegen, was in etwa so groß wie meine Handfläche war. "Zu Weihnachten. Ich wollte es dir eigentlich schon früher geben, aber du weißt ja, was dann passiert ist ... ja, ich hoffe, es gefällt dir."
Hitze stieg mir in mein Gesicht. Drachenmist. Ich hatte kein Geschenk für ihn. Natürlich hatte ich keins, meine Freunde und ich schenkten uns nie was.
"Das kann ich nicht annehmen", brachte ich hervor, obwohl ich es sehr gerne getan hätte. "Ich hab nichts für dich, ich fühle mich, als würde ich dich ausnutzen."
"Das stimmt nicht, du wusstest davon nichts und das hab ich mich Absicht gemacht, damit du ja nicht auf die Idee kommst, mir was zu schenken. Das hier soll was besonderes sein und ich glaube, du hast es ganz dringend nötig."
Er drückte mir das Geschenk in die Hand und ich staunte. Für die Größe war es viel schwerer als erwartet. Langsam öffnete ich die Schleife, entfernte das Band und schließlich das Papier.
Eine kleine braune Pappbox. Zögerlich schielte ich zu Shawn hoch. Er bedeutete mir nur, weiter auszupacken, was ich tat.
Zum Vorschein kam ein Kompass.
"Der ist ... wunderschön", hauchte ich und fuhr mit dem Finger über das Glas. Das Zifferblatt wurde von einem schweren goldenen Rahmen gehalten, in dem kleine Verzierungen eingraviert waren.
"Wo ist Norden?", fragte ich.
Shawn lächelte und zeigte über seine Schulter. Die Nadel deutete genau dort hin. Wieso sollte er mir einen Kompass schenken, den ich dringend nötig hatte? Was war der große Plan dahinter?
Die Fragen beiseiteschiebend bedankte ich mich mit einer Umarmung und genoss für den kurzen Moment seine Nähe.
Ich legte den Kompass und die Box auf den Tisch. Wir schauten die vierte Folge zu Ende, die fünfte gleich hinterher. Schließlich war es kurz nach vier und die Müdigkeit überfiel uns.
"Du kannst in meinem Bett schlafen, ich zieh aufs Sofa um", entschied Shawn und war schon wieder aufgesprungen.
"Nein, ich kann dir nicht auch noch dein Bett wegnehmen", widersprach ich. Nicht aus reiner Höflichkeit - ich wollte wirklich keine Umstände machen.
Shawn schien das zu verstehen, zumindest, als er meinen entschlossenen Blick sah. Er hatte wohl schon gelernt, dass mein Dickkopf nicht leicht zu durchbrechen war. "Schön, dann schläfst du auf dem Sofa. Aber ich hole dir noch ein Kissen und eine wärmere Decke."
"Danke."
Er verschwand erneut in seinem Zimmer und ich starrte müde auf den Tisch. Sofort fiel mein Blick auf den schönen Kompass. Plötzlich fing die Nadel an, sich zu drehen.
Eine Falte legte sich auf meine Stirn und ich beugte mich vor. Mein Blick folgte der Nadel. Sie deutete genau auf Shawn, der am Schrank stand und im obersten Fach kramte.
Nun hob ich den Kompass aus seiner Box und entdeckte einen kleinen Zettel, auf dem ich Shawns Handschrift identifizierte. Sie schien so ordentlich plötzlich ganz anders.
Damit du nicht immer durchs halbe Schloss rennen musst, wenn du mich mal wieder anschreien willst. Frohe Weihnachten, Shawn xxx
Ich biss mir auf die Lippe. Ein riesiges Lächeln erschien auf meinem Gesicht und ich schloss kurz die Augen. Das war das süßeste Geschenk, was ich je erhalten hatte.
Als Shawn plötzlich mit dem Bettzeug neben mir stand, erschreckte ich mich und in mir stieg sofort Peinlichkeit auf. Schnell legte ich den Kompass in die Box und diese auf den Tisch.
"Danke", versuchte ich von der Situation abzulenken. "Wann stehen wir morgen - oder eher gesagt heute - auf?"
"Ich würde sagen, wir schlafen aus. Ich kann das lange, also wenn du vor mir aufwachst, die Küche funktioniert auch ohne Zauberei."
Das schadenfrohe Grinsen erschien auf Shawns Gesicht und ich stieß die Luft aus. "Warte bis September, dann siehst du ganz schön alt aus."
"Das bezweifle ich nicht", gab Shawn zu und legte das Bettzeug auf dem Sofa ab. "Deswegen nutze ich das jetzt noch schön aus."
Ich bekam eine noch nicht benutzte Zahnbürste von Shawn, ebenso wie ein T-Shirt zum Schlafen. Es war mir ein wenig zu groß, doch das störte mich wenig. Shawn hatte mich heulen gesehen, mein Ruf war ohnehin zu Nichte gemacht worden.
Am nächsten Morgen wachten Shawn und ich zeitgleich auf, da irgendwelche Jugendlichen draußen im Hof ihre übrigen Silvesterknaller zündeten. Shawn zauberte uns Frühstück, welches wir bei der nächsten Folge The 100 aßen.
Danach wollte ich mit Shawn in mein Zimmer apparieren, um mir Klamotten zusammenzupacken. Wir hatten meine zwar gewaschen und über Nacht trocknen lassen, doch das konnte nicht über drei weitere Tage so gehen.
Allerdings kamen wir nicht weit, denn ich fühlte mich, als hätte Shawn uns mit voller Wucht gegen eine Wand rennen lassen.
"Was ist passiert?", fragte ich und konzertierte mich darauf, nicht zu kotzen. Shawn schien es ähnlich zu gehen. "Keine Ahnung ...", murmelte er.
"Hat Dad einen Apparierschutz eingerichtet?", stellte ich eine Vermutung auf.
"Beim Dumbledore, das kann sein."
Shawn versuchte es ein weiteres Mal, allein, hatte jedoch keinen Erfolg. Jetzt erklärte sich auch, wieso Dad mich noch nicht zurückgeholt hatte - mich ausfindig zu machen war in seinem Posten im Ministerium kein Problem. Er wollte schlichtweg einfach nicht, dass ich zurückkam.
Glücklicherweise bewahrte ich meine Hausaufgaben in meinem Rucksack auf und Shawn hatte ausnahmslos alle mit hergebracht. Nachdem wir also in London für mich shoppen waren, setzten wir uns an unsere Aufgaben.
Die folgenden zwei Tage verliefen ähnlich. Hausaufgaben, Essen, Reden. Ich half Shawn bei der Zauberkunsttheorie und er mir bei Kräuterkunde. Wir schafften es, die erste Staffel (so hießen alle Folgen zusammen) von The 100 zu beenden und verbrachten einen Nachmittag in Shawns Lieblingscafé.
In einer Nacht schauten wir ein Eishockeyspiel und Shawn erklärte mir die Regeln. Während er mich mit Fakten bombardierte, unter anderem dass ein Spieler aus London jetzt nach Toronto gewechselt hatte, versuchte ich immer noch zu verstehen, was Abseits bedeutete. Denn so ähnlich sich Eishockey und Quidditch auch waren, Abseits ergab einfach keinen Sinn.
"Das ist wie das Stutschen beim Quidditch", versuchte Shawn es mir zum dritten Mal zu erklären. "Bei Quidditch darf nur ein Spieler in den Torraum fliegen. Beim Eishockey ist es ähnlich, ein angreifender Spieler darf nur in den Torraum, also hinter die blaue Linie, wenn der Puck auch im Torraum ist. Der Puck muss also vor dem Spieler hinter der Linie sein, sonst ist es Abseits. Es gibt dann allerdings noch das verzögerte Abseits ..."
Und ab da wurde es wieder unverständlich. Ich glaubte, dass das verzögerte Abseits was damit zu tun hatte, dass die Spieler manchmal einfach ohne Grund umdrehten und auf die andere Seite des Feldes fuhren, als stände ihnen ein Geist im Weg.
"Da!", rief ich im letzten Drittel. "Jetzt war der Spieler im Torraum, obwohl der Puck noch nicht drin war!"
"Das ist eine der zwei Ausnahmen", erklärte Shawn. "Er ist rückwärts gefahren und hatte den Puck sicher bei sich, dann ist das erlaubt."
"Sag mal, wer denkt sich solche bescheuerten Regeln aus", seufzte ich und griff nach dem Popcorn.
Am Montagmorgen machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Wir entschieden uns gegen das Apparieren, da es Shawn jede Menge Kraft kostete, mich mitzunehmen und ich keine Lust auf eine Zugfahrt voller Übelkeit hatte.
Also nahmen wir tatsächlich die U-Bahn. Ich war so aufgeregt wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal mit der Tube fuhr. Es fühlte sich auch fast so an, denn das letzte Mal war gute acht Jahre her.
Bei der Station King's Cross angekommen verließen wir die U-Bahn und liefen durch den riesigen Bahnhof, bis hin zum Zugang des Gleises neundreiviertel. Wir waren spät dran, die Uhr zeigte bereits fünf vor elf an, als wir auf der anderen Seite der Mauer raus kamen.
"Zeit für einen Abschied", sagte ich und lachte, um meine wahre Enttäuschung zu verbergen. Die letzten vier Tage zählte ich zu den Schönsten meines Lebens. "Vorerst."
"Sehen wir uns direkt morgen?", fragte Shawn im Bezug auf die Nachhilfestunden.
"Gerne. Dann gebe ich dir auch das Geld für die Klamotten wieder."
Er musste mir Pfund auslegen, da sich kein Geld in meinem Rucksack befunden hatte, nicht mal Galleonen. Mein ganzes Taschengeld ruhte in Hogwarts, abgesehen von drei Galleonen, die einsam und allein in meiner Nachttischschublade einstaubten.
"Das musst du nicht, das geht - "
"Nein", fuhr ich dazwischen. "Du kriegst das Geld in Galleonen zurück und damit Punkt, Aus, Ende. Bis morgen."
Ich winkte ihm und drehte mich um, um in den Zug zu steigen und die Abteile nach meinen Freunden abzusuchen. Zu gerne hätte ich Shawn zum Abschied umarmt, doch das hätten zu viele Schüler gesehen. Wir bekamen schon komische Blicke zugeworfen, weil wir uns nur unterhalten hatten.
Einmal sah ich Shawn noch, als Cliff und er mir und Alia im Gang entgegen kamen. Seine Augen lagen kurz auf mir, doch er fing sich wieder. Unsere gemeinsame Zeit war fürs Erste vorbei.
Es war wieder alles beim Alten, dazu gehörten auch unsere Rollen. Er war Shawn und ich verdammt nochmal einfach nur Kassy.
ϟ ϟ ϟ
Ich liebe dieses Kapitel so sehr, denn es bringt die beiden irgendwie näher zusammen :)
Denkt ihr, Kassy kehrt irgendwann nochmal nach Hause zurück?
Wie fandet ihr Shawns Geschenk?
Sorry, dass das Update erst so spät kommt, aber ich war vorhin bei Maze Runner 3 im Kino, nachdem ich letzte Woche schon die Schauspieler gestalked hab.
Der Film hat mich voll fertig gemacht, ich hab am Ende echt heftig weinen müssen und habe anderthalb Stunden später immer noch gezittert.
Ich weiß nicht, wann der Film in Deutschland rauskommt, aber geht ihn euch anschauen. Wenn ihr vorher das Buch gelesen habt, heult ihr Rotz und Wasser.
Mein Talent, immer solche schönen Abschlussworte zu finden xD
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 01.02.2018 (Friday)
[28.01.2018]
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