Kapitel 21 ϟ TIME
A Sky Full of Stars - Coldplay ♪♫
"Ich ... gehe ins Bett, bin echt müde."
Drei Stirnrunzelnde Blicke.
"Heißt du jetzt Davina, oder was?"
"Henry!"
Olivia schlug ihm gegen den Arm.
"Nein", entgegnete ich. "Ich hab letzte Nacht nicht so gut geschlafen, bin schon den ganzen Tag so erschöpft."
"Kassy, es ist neun Uhr."
"Henry, das weiß ich. Ich kann die Uhr lesen."
Und komme zu spät, wenn du nicht bald aufhörst, mich zu nerven, und endlich gehen lässt, schob ich in Gedanken nach.
"Na schön, dann geh doch."
"Bist du jetzt eingeschnappt, weil ich freiwillig euren Spaß verpasse?", lachte ich.
"Du scheinst deinen Schlaf uns vorzuziehen."
Nein, nur Shawn.
"Oh Merlin, Henry", seufzte Olivia. "Komm schon."
"Danke, Liv. Ich denke, ihr kommt erst gegen zwölf nach?"
Ivy und Olivia nickten. Ich wünschte meinen Freunden eine gute Nacht und ging durch den vollen Gemeinschaftsraum in unseren Schlafsaal.
Ein schneller Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich wirklich spät dran war. Shawn erwartete mich um zehn nach neun vor unserer Wendeltreppentür, nun war es drei nach neun.
Ich hatte immer noch keine Ahnung, was er vor hatte. Auf der einen Seite war das aufregend, auf der anderen beängstigend. Vor allem, dass ich ihm so blind vertraute.
In den letzten zwei Tagen schlichen sich viele Gedanken in meinen Kopf, ob Shawn mir vielleicht eine Falle stellte und mich dann mit Flint den Astronomieturm runter schmiss. Allerdings erreichten diese Überlegungen mich nicht wirklich.
Ich zweifelte nicht an Shawns Vertrauenswürdigkeit. Dafür gab er sich zu viel Mühe, verriet mir zu viel über sein Leben und lachte zu ehrlich.
Ähnlich wie Melody, nur Shawn kam mir nicht so dumm vor. Ich hatte dazu gelernt, ein Fehler wie bei Melody würde mir nie wieder unterlaufen.
Ich zog mir einen frischen Umhang an, wechselte die Socken und Schuhe. Raus aus den weißen Socken und den schwarzen Nikes, die ich meist zum Unterricht trug, und rein in meine neonorangenen Socken und weinroten Chucks. Eine grausame Farbkombination, aber die Chucks waren hoch genug, sodass man die Socken nicht sehen konnte.
Ich rechnete zwar nicht damit, aber nur für den Fall, dass ich erst nach Mitternacht zurückkommen sollte, türmte ich meine Decke ein wenig auf, positionierte ein paar Kissen und zog die Vorhänge meines Himmelbettes zu.
Schließlich belegte ich mich mit einem Desillusionierungszauber, den ich durch das Training mit Shawn nun auch einwandfrei beherrschte.
Leise huschte ich die kleinen Treppen runter, versuchte, im Gemeinschaftsraum niemanden anzurempeln und hoffte, dass keiner bemerkte, wie ich die Tür öffnete.
Die Wendeltreppe rannte ich nach unten, doch bevor ich die Tür am Fuße öffnete, verschnaufte ich kurz, damit Shawn mich nicht für eine Irre hielt. Um Punkt zehn nach neun öffnete ich die Tür.
"Shawn?", flüsterte ich in den leeren Gang hinaus.
"Hier drüben", hörte ich ihn antworten.
Seine Schritte kamen näher und dann spürte ich eine Hand gegen meinen Arm schlagen.
"Ups, sorry", entschuldigte er sich amüsiert.
Eine Hand tastete sich an meinem Arm entlang, bis sie meine Hand fand und sich unsere Finger verschränkten.
Ein Kribbeln zog sich durch meinen Arm, mein Magen drehte sich um, eine Gänsehaut lief über mein Gesicht. Ich war froh, dass Shawn das breite Lächeln auf meinen Lippen nicht sehen konnte.
"Bereit?", fragte er, das Grinsen unüberhörbar.
Ich nickte, bis mir einfiel, dass er mich ja nicht sehen konnte. "Ja", flüsterte ich mit trockenem Hals und verfluchte mich dafür, dass ich klang, als würde ich erwürgt werden.
Shawn leitete mich durch die Gänge und obwohl die Fackeln das Gemäuer erhellten, verlor ich schnell die Orientierung. Ich war mit meinen Gedanken woanders, weit weg, irgendwo in einer Welt, wo Shawn mir erklärte, wieso ich es so sehr genoss, seine Hand zu halten.
"Wir sind da."
Shawns Stimme war leise, trotzdem erschreckte ich mich stark. Er riss mich aus meiner Fantasiewelt und schien es zu merken.
"Geht's dir gut?"
Wieder das Grinsen. Gab es eigentlich eine Zeit, in der Shawn nicht fröhlich sein konnte?
"Ja. Wo sind wir?"
Shawn lachte leise. Seine Stimme klang rau, das Lachen brach leicht und ohne dass ich es wollte, hielt ich es für verdammt sexy.
"Du warst echt woanders, oder? Lass dich überraschen."
Ich hörte ein Rascheln und spürte prompt einen Schlag auf meinem Kopf. Wie Schmiere lief mir etwas Heißes über das Gesicht und ich beobachtete Shawn dabei, wie auch er wieder sichtbar wurde.
"Guter Desillu-Zauber übrigens."
Jetzt konnte ich das Lächeln sehen. Shawn wirkte kein bisschen müde. Eher aufgeregt, energiegeladen und fröhlich. So wie immer eigentlich.
"Komm", wies er mich an, griff wieder nach meiner Hand und zog mich um die letzte Kurve.
Ich erblickte die Tür und meine Augen wurden groß.
"Oh", verließ die Verblüffung meine Lippen. Natürlich wusste ich, wo wir waren. "Das könnte wirklich Ärger geben, wenn wir erwischt werden."
"Das bezweifel ich aber", beruhigte Shawn mich und zog ein Schlüsselbund aus seinem Umhang. "Heute Abend ist kein Unterricht, hab extra nachgeguckt."
"Woher hast du den Schlüssel?", wollte ich wissen. Ich war zugegeben echt beeindruckt.
"Ich war mal Schulsprecher", lautete Shawns einzige Antwort und ich musste lächeln.
Auch er grinste mich frech an, zog mich neben ihn und schloss die Tür wieder zu. Schweigend liefen wir die Treppe nach oben. Shawn mit seinem leuchtenden Zauberstab vorne weg, ich dicht hinter ihm.
Oben auf dem Astronomieturm angelangt wehte ein kühler Wind. Shawn zündete eine Öllampe an, schwang dann seinen Zauberstab und aus dem alten Schrank neben der Treppe, in dem normalerweise jahrzehntealte Tintenfässer, Teleskope und Pergamentrollen vergammelten, flogen eine Decke, ein Teller mit Pasteten und zwei Butterbiere.
Sie breiteten sich ordnungsgemäß in dem freien Platz in der Mitte des Turms aus und ich staunte nicht schlecht. Teddy hätte das jetzt als ein Date betitelt, doch ich sah es als einen freundlichen Akt Shawns, um mich auf andere Gedanken zu bringen, so wie er gesagt hatte.
Das hatte er definitiv geschafft.
Niemand von uns sagte was, Shawn setzte sich einfach auf die Decke und klopfte neben sich. Ich folgte wie ein Hund.
"Wieso machen wir eigentlich ständig was Verbotenes?", fragte ich, jedoch keinesfalls vorwurfsvoll gemeint.
"Ich muss dir ja irgendwie irgendwas beweisen", grinste Shawn.
"Du musst mir nichts beweisen", lachte ich. "Ich mag dich auch so."
Er lächelte mich breit an und suchte den Kontakt zu meinen Augen. Ich ließ es zu. Zwei Sekunden, dann schaute ich weg und tat so, als würde ich meine Beine dehnen.
Shawn fing ein Gespräch an, indem er mir seine Lieblingspastete anbot und ohne große Schwierigkeiten kam unsere Konversation ins Rollen. Ich fühle mich wie an unseren Dienstagvormittagen, nur dass es nun Donnerstagnacht war und wir auf dem Astronomieturm Pasteten aßen, Butterbier tranken und in den Himmel starrten.
Als der kleine Mitternachtssnack beendet war, ließ Shawn die leeren Flaschen und den krümeligen Teller verschwinden und legte sich auf den Rücken.
Zögernd legte ich mich neben ihn und stellte fest, dass die Decke echt weich war. Ich ging von einem Polsterungszauber aus.
Stille legte sich wie eine zweite Decke über uns, doch es war keine peinliche. Es war angenehm, nur dem Geschrei einiger Eulen und dem Rauschen der Baumwipfel zuzuhören.
Die Sterne am Himmel leuchteten hell, kaum eine Wolke war zu sehen. Es war die perfekte Nacht, es war wunderschön.
Ich fühlte mich sehr wohl neben Shawn. Mittlerweile war ich an seine Anwesenheit gewöhnt und genoss es. Irgendwann spürte ich Shawns Finger neben meinen.
Es verschaffte mir eine Gänsehaut und ich spürte, wie ich rot wurde. Ich musste lächeln. Dass ich meine Finger nicht wegzog, musste Shawn als ein Zeichen gesehen haben und kurz darauf hielt er wieder meine Hand. Ich schloss kurz meine Augen und fing den Moment ein.
Ich wusste nicht, was mit mir passierte, aber ich liebte dieses Gefühl. Es machte mich glücklich.
"Shawn?", fragte ich nach einiger Zeit in die Stille hinein.
"Hm?", kam es zurück.
"Willst du wirklich Auror werden?", sprach ich meine Zweifel aus. Shawn bestätigte meine Frage mit einem Nicken. "Ist das nicht gefährlich?"
Shawns Gesicht drehte sich zu meinem. Er musterte mich nachdenklich.
"Wegen der momentanen Situation?"
Jetzt war ich es, die nickte.
Sowohl in der Muggelwelt, als auch unter den Zauberern gab es große Unstimmigkeiten.
Russland stritt sich mit der Ukraine um eine dumme Insel und zog ganz Europa mit rein. Das Zaubereiministerium war ein Teil des Zusammenschlusses, welcher krampfhaft versuchte, die russische Zaubervereinigung an das Geheimhaltungsgesetz zu erinnern.
In Amerika kandidierte ein fetter alter Sack, der stark einem Orang-Utan ähnelte, als Präsident und bekam auch noch Zuspruch, eine dämliche Mauer zu bauen. Ich war erleichtert, als der MACUSA eine enge Zusammenarbeit mit der mexikanischen Zauberergesellschaft verkündete.
In Syrien rumorte der Hexenkessel auch, der ganze Orient stand Kopf. Auch dort unterstütze das Ministerium die Zauberer mit Auroren; Die acht Todesfälle im Juni blieben nicht die einzigen.
"Natürlich ist es gefährlich, du weißt nie, wo sie dich hinschicken. Am Anfang würde ich logischer Weise erst mal in Großbritannien bleiben, aber hier geht es ja auch wieder rund."
Während in Australien fast ein Zaubererkrieg stattfand, da sich das australische Ministerium mit den eingeborenen Hexen und Zauberern um ihr Land und die magischen Rituale stritt, drohte das britische Feuer wieder aufzulodern.
Obwohl Voldemort vor mehr als 17 Jahren getötet und seine Rebellion vernichtet wurde, häuften sich die kleineren Anschläge auf Muggelgeborene, der Rassismus lebte wieder auf, wobei er meiner Meinung nach nie ganz verschwunden war.
Auroren verschwanden spurlos, das Ministerium erhielt Drohungen und noch heute ist die Fahndungsliste der Todesser von 1998 lang.
"Du hast gesagt, du hast einen Plan B", erinnerte ich mich.
Shawn seufzte auf. "Jetzt muss ich dir wohl erzählen, wie der aussieht, was?"
"Nein, nicht wenn du nicht willst", stellte ich klar.
"Weißt du, das was ich dir jetzt erzähle, weiß sonst niemand. Nicht mal Dave."
Er setzte sich auf. Ich zog die Stirn kraus und setzte mich ebenfalls. Unsere Hände lösten sich und sofort wurde mir kalt. Seine große Hand hatte meine gewärmt.
"Ich komme nicht von hier", gestand er.
"Das weiß ich, das hört man", grinste ich.
"Was soll das denn bedeuten?", empörte er sich.
"Hast du dich mal selbst gehört? Allein schon, wie du Tomate sagst!"
Shawn stemmte die Hände in die Hüfte. "Ich betone das richtig, ihr sagt das komisch!"
Ich konnte ihn nicht ernst nehmen. Ohne es zu wollen, brach ich in Gelächter aus.
"Du bist zu süß, wenn du dich rechtfertigst", presste ich hervor, in dem Versuch, nicht zu laut zu sein.
Shawn tat das mit einem Lächeln ab und kratze sich am Kinn. Verdammt, war das sexy.
Alles klar, Kassy, reicht dann auch. Danke.
"Also, wo sagen sie Tomate so komisch wie du? Amerika?"
Er schüttelte den Kopf. "Kanada."
"Kanada?", wiederholte ich laut und Shawn bedeutete mir, ruhig zu sein. "Aber was ... tust du dann hier? Ist deine Familie umgezogen?"
"Nein, meine Eltern und meine Schwester Aaliyah leben in Kanada, ich gehe hier nur zur Schule."
Der Fakt, dass Shawns Schwester fast so hieß wie meine verrückte Freundin, brachte mich zum Schmunzeln.
"Aber warum hier? Warum gehst du nicht nach Ilvermorny?"
"Amerika halt. Meine Mutter kommt aus England, sie hat hier noch Familie. Meine Großtante ist auch eine Hexe und hat Mum quasi gezwungen, mich herzuschicken. Beste Ausbildung der Welt, weißt du? Und Harry Potter hat Hogwarts zu Ruhm verholfen."
"Und McGonagall hat das einfach so erlaubt?" Auch wenn die alte Hexe mich in den letzten Wochen mit ihrem Verhalten überrascht hat, konnte ich das kaum glauben.
"Meine Großtante ist mit ihr zur Schule gegangen, sie hat ein gutes Wort für mich eingelegt. Dass meine Mum Engländerin ist, hat geholfen. Ich bin ziemlich froh, dass ich hier gelandet bin."
Er lächelte mich an, ich lächelte zurück. Als er mir in die Augen sah, erwiderte ich den Blick und versank kurz in meiner eigenen Welt. Da ich nicht wusste, was nun zu tun war, räusperte ich mich leicht.
"Also willst du nach der Schule nach Kanada zurück?", fragte ich weiter. Shawns Leben schien im Gegensatz zu meinem ernsthaft interessant.
"Als Plan B, ja. Ich würde, wenn das mit dem Auror nicht klappt, gerne in der Außenstelle beim CAWAU arbeiten."
"CAWAU?", wiederholte ich lachend. "Was soll das bitte sein?"
"Canadian Wizard Authority", erklärte Shawn mir amüsiert. "Gewissermaßen ein Ableger der MACUSA, nur speziell für Kanada."
"Also sozusagen als Verbindungsmann, wie Olivias Vater?"
"In der Art. Dann wäre ich ab und zu in Kanada und würde meine Familie sehen, aber kann gleichzeitig auch in England bleiben, wo alle meine Freunde leben."
"Das klingt echt cool. Weitaus sicherer als Auror."
"Aber bestimmt nicht so aufregend."
Da musste ich ihm zustimmen. Auror war verdammt aufregend, vor allem, wenn man es erst mal von der Patrouille weggeschafft hatte. Bei Shawn sah ich diese Chance deutlich, immerhin war ein herausragender Zauberer.
Ich hatte auch schon überlegt, Auror zu werden, aber das, was momentan in der Welt passierte, ließ mich ein wenig zurückschrecken.
"Vielleicht kannst du mich ja - "
"Pscht!", unterbrach ich Shawn. "Hast du das gehört?"
Wir lauschten den seltsamen Geräuschen, die von unten zu kommen schienen. Panisch sah ich Shawn an. Sein Blick war ernst, etwas, was ich bei ihm bis jetzt nur äußerst selten gesehen hatte.
Es klang, als würde jemand die Tür aufschließen. Kurz darauf hörte man die Stimmen aufgeregter Schüler, die die Treppe rauf kamen.
"Scheiße", fluchte Shawn und sprang auf.
Er ließ die Decke verschwinden, zog mich auf die Füße und sah sich panisch nach einem Versteck um.
"Der Schrank!", schlug ich vor und deutete auf den großen Holzkasten.
"Da sollen wir zu zweit reinpassen?", zweifelte er.
"Du kannst dich auch den Turm runter schmeißen", konterte ich und zog ihn zu unser einzigen Hoffnung.
"Fehlt nur noch, dass wir in Narnia landen."
"Was zu Hölle ist Narnia?"
Es war kaum zu glauben, aber wir passten tatsächlich in den Schrank. Der untere Teil war leer, nur Staub und ein paar Spinnen hatten sich angesiedelt.
Shawn stieg zuerst hinein, setzte sich mit dem Rücken an die Seitenwand und ich kletterte nach. Da es der Platz nicht anders zuließ, musste ich mich zwischen seine Beine setzte, sodass mein Rücken an seiner Brust lag.
Gerade noch rechtzeitig zogen wir die morschen Schranktüren zu. Mit einem letzten Zauberstabwink löschte Shawn die Öllampe und dann hielten wir beide die Luft an.
"Bleibt bitte ruhig!", versuchte Professor Ronio die Klasse zum Schweigen zu überreden. "Setzt euch an eure Plätze, damit wir anfangen können. Wir sind ohnehin schon spät dran."
Man hörte Stühle rücken, Tintenfässer, die aufploppten, Teleskope, die ausgeklappt und eingestellt wurden und das Rascheln der Pergamentrollen, die Professor Ronio austeilte.
Ich spürte Shawns leisen Atem warm an meinem Ohr. Bei jeder anderen Person hätte mich das abgestoßen, aber jetzt gerade beruhigte es mich.
Die Gespräche der Klasse erstarben, Professor Ronio erzählte etwas, was ich vom Inhalt her nicht verstand und Shawn zog mich enger zu sich.
Seine Arme waren um meinen Bauch geschlungen und fast automatisch legte ich meine Hände auf seine. Sein Daumen drückte meinen Zeigefinger, fast so, als wollte er sagen, ich sei nicht allein.
Ich dankte ihm sehr dafür.
Hätte ich hier alleine oder mit einer anderen Person gesessen, wäre ich in Panik ausgebrochen. Es war eng und stickig, der Geruch wurde zu Gestank, die Präsenz vergammelter Pergamentstücke und verrosteter Teleskope erdrückte mich fast.
Zu wissen, dass Shawn hinter mir saß und diese Sache mit mir durchstehen würde, half mir, langsam zu atmen. Sein Griff wurde nicht lockerer, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, er würde mich zunehmen enger an sich drücken.
In jeder anderen Situation hätte ich mich unwohl und bedrängt gefühlt, doch jetzt verhalf es mir zu Sicherheit. Ich war kurz davor, auszuticken, doch Shawn hielt mich am Boden.
Aus Minuten wurden Stunden. Shawn hatte mir ganz leise ins Ohr geflüstert, dass die Stunde wohl verlegt wurde und es ihm unendlich leid täte.
Irgendwann spürte ich meinen Hintern nicht mehr, weil mein Steißbein eingeschlafen war, ebenso wie mein linkes Bein. Nur Shawns gleichmäßiges Atmen veränderte sich nicht.
Meine Augenlider wurden schwerer, die Unbeweglichkeit machte mich schläfrig. Ich hatte in der letzten Nacht tatsächlich nicht gut geschlafen, das spürte ich nun deutlich.
Mein Kopf gegen Shawns Schulter gelehnt schloss ich die Augen, nur kurz. Mir war langweilig. Vermutlich hätte es niemand gehört, wenn ich mich leise mit Shawn unterhalten hätte, aber ich wollte es nicht riskieren, zwischen dem Federkratzen und Teleskopquietschen doch bemerkt zu werden. Shawn schien es ähnlich zu gehen.
"Kassy!"
Ein Hauchen in meinem Ohr, ein leichtes Rütteln meines Oberkörpers.
"Pst, Kassy, wach auf!"
Instinktiv kratze ich mich am Ohr, da meine Haare mich kitzelten und sah mich verschlafen um. Es war dunkel.
"Die Stunde ist vorbei, sie packen zusammen", flüsterte Shawn.
Ach ja, ich saß mit Shawn in dem muffigen Schrank. Auf dem Astronomieturm. In seinen Armen. Ich war eingeschlafen. Ich war - eingeschlafen - in einem muffigen Schrank - in Shawns Armen.
Fuck.
"Bin wach", behauptete ich leise und jeder Depp konnte hören, wie müde ich war. Deswegen schob ich hinterher: "Tut mir leid."
"Ist doch alles gut, ich habe auch gedöst."
Ich hatte mit Shawn Mendes in einem muffigen Schrank auf dem Astronomieturm geschlafen, in seinen Armen, ach du Trollscheiße, was dachte ich nur.
Draußen hörte man das Rascheln der Pergamentrollen, das Rücken von Stühlen und das Gemurmel der Schüler.
"Ich spür mein Bein nicht mehr", gab ich preis und versuchte es irgendwie zu strecken.
"Ich spüre gefühlt gar nichts mehr", kicherte Shawn. "Meine Beine sind tot und mein Arsch schmerzt seit gut einer Stunde."
Ich traute mich nicht, laut zu lachen, doch ich hätte es getan, wenn wir nicht in diesem Schrank gehockt hätten.
Nach weiteren zwei Minuten ging die Klasse endlich. Angeführt von Professor Ronio liefen sie die Treppe runter und Shawn öffnete vorsichtig die Schranktür. Sofort strömte Sauerstoff in das kleine Kabuff und ich merkte wieder, wie sehr es stank.
Wir spähten hinaus und sahen zunächst nichts. Shawn war schon im Begriff, die quietschende Tür aufzustoßen, als ich eine Bewegung wahrnahm.
"Stopp!", hielt ich Shawn auf und griff nach seinem Arm. Er wich erschrocken zurück. "Da!"
Neben einem der Tische, gerade so in unserem Blickfeld, stand ein Mädchen mit schulterlangen schwarzen Haaren. Sie war nicht sonderlich groß und trug eine schwarze Tasche über ihren Schultern, an der allerlei seltsame Sachen hingen. Unter anderem schwarze Armbänder mit silbernen Steinen, ein Drachenzahn und zu meinem Erschrecken sogar ein kleiner Schrumpfkopf.
"Wer ist das?", raunte Shawn.
Ich wusste nicht, ob es eine Frage an mich oder an ihn selbst war, aber ich antwortete trotzdem: "Ich glaube, dass ist Kimber Payke."
Shawns Kopf drehte sich zu mir und durch das Mondlicht, was durch den Spalt in sein Gesicht fiel, erkannte ich den fragenden Blick.
"Kimber Kristen Payke. Slytherin, sechstes Jahr. Mit Melody in einem Schlafsaal."
"Noch nie was von ihr gehört", murmelte er.
"Sie ist viel für sich allein, so 'ne Art Emo oder so. Mel hat erzählt, dass sie wohl viel Stress Zuhause hat. Sie verletzt sich angeblich selbst, ist depressiv. Ihr Vater ist ein Todesser, beziehungsweise ein Voldemort-Neuzeit-Fanatiker. Ihre Mutter hängt wohl genau wie sie zwischen den Stühlen. Mel sagt, dass ihr Vater sie zwingt, auf die dunkle Seite zu kommen. Sie sollte angeblich sogar nach Durmstrang wechseln. Keine Ahnung, was davon stimmt, aber das ist alles, was ich weiß."
Es blieb einen Moment still, dann trat Kimber weiter in unser Blickfeld. Sie griff in ihre Tasche und zog einen Brief heraus, den sie auf einen der Tische legte.
"Was hat sie vor?", sprach Shawn auch meine Gedanken aus.
Kimber ließ ihre Tasche mit einem Plumpsen auf den Boden fallen und trat zwei Schritte näher an die Turmzinnen.
Ich hielt den Atem an.
"Shawn - sie wird doch nicht etwa - "
Ich sprach den Gedanken nicht zu Ende aus. Meine Gliedmaßen waren wie gelähmt vor Angst. Ich konnte Kimber nur dabei beobachten, wie sie auf die Mauer kletterte.
"Scheiße!", fluchte Shawn in einem Hauch und sah mich panisch an.
Ohne groß nachzudenken stürzte ich aus dem Schrank und stolperte Kimber entgegen. Diese schaute mich überrascht und erschrocken an, dann ließ sie sich fallen.
"Nein! Fuck!", hörte ich mich schreien, sprang auf die Mauer und griff nach unten.
Ob es Glück, Zufall oder Schicksal war, wusste ich nicht, doch ich bekam ihren nackten Arm zu fassen. An meinen Fingern spürte ich die Brandnarben, die sie sich zugefügt hatte.
Kimber war schwer und es dauerte nicht lange, ehe ich das Gleichgewicht verlor.
Als ich von der kleinen Mauer zwischen den Zinnen runter rutschte, heulte ich schon längst. Ich wusste, hätte ich Kimber losgelassen, hätte ich mich retten können. Aber dann wäre sie gestorben. Das konnte ich nicht zulassen.
Doch erneut schien das Glück auf meiner Seite zu stehen.
Das, was in wenigen Sekunden passierte, kam mir vor wie in Minuten. Alles bewegte sich langsam, ich sah jeden einzelnen Moment als Standbild.
Meine Füße, wie sie den Halt verloren. Mein Rücken, der mit voller Wucht auf die Mauer krachte und knackte. Meine freie Hand, die in der Luft ruderte und seltsamer Weise die Mauer erwischte.
Es konnte keine Sekunde gedauert haben. Keine Sekunde, in der ich mich und Kimber an der Mauer festhalten konnte.
Doch die Schwerkraft machte mir einen Strich durch die Rechnung, meine Muskeln versagten, ich schrie auf.
Und dann rutschte ich ab.
ϟ ϟ ϟ
Merry Christmas everyone!
Mein Weihnachtsgeschenk für euch, ein Cliffhanger feinster Art.
"Trotzdem wird letztendlich einer alles verlieren", ich wollte nur mal eben schnell an den Klappentext erinnern ...
Wie fandet ihr das "Date", auch wenn es "gescheitert" ist?
Glaubt ihr Shawn, dass er im Schrank wirklich eingeschlafen ist?
Und die Frage, die ich nicht Fragen will ... was passiert mit Kassy?
Ihr hättet das Kapitel eigentlich schon Donnerstag kriegen sollen und dann wäre heute das folgende gekommen, allerdings habe ich es verpeilt.
Schick, nicht? Für alle die, die es noch nicht mitbekommen haben: ich habe mein Dreijähriges auf Wattpad vergessen und somit verpasst. Ist aber mal wieder typisch für mich :D
Also hier auch nochmal vielen vielen Dank für drei tolle Jahre. Es fühlt sich irgendwie viel mehr und doch viel weniger an.
Anyway, ich wünsche euch allen fröhliche Weihnachten und hoffe, dass wenigstens einer von euch Schnee sieht.
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 31.12.2017 (Sunday)
[24.12.2017]
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