Ein Augenblick
Rosi liegt auf ihrem Bett, die Langeweile zerrt an ihren Nerven. Seit Stunden starrt sie an die Decke und überlegt, wie sie die Zeit totschlagen kann. Ihre Gedanken wandern zu den Spielen, die sie früher gespielt hat, und sie versucht, Varianten zu erfinden, die sie alleine spielen kann. Sie malt sich aus, wie sie imaginäre Gegner in einem Schachspiel besiegt oder eine Partie "Stille Post" nur in ihrem Kopf spielt. Doch alles bleibt fade, sie sehnt sich nach einer echten Herausforderung, nach einem Gesprächspartner. Als die Stunden vergehen, wird Rosi immer unruhiger. Sie bemerkt plötzlich einige Flecken auf ihrer Kleidung und seufzt genervt. Diese Kleidung erinnert sie ständig daran, wie lange sie schon hier gefangen ist. Ihr Blick fällt auf den OP-Kittel, der ordentlich gefaltet auf einem der Stühle liegt. Die sterile, weiße Kleidung scheint im Vergleich zu ihren schmutzigen Sachen fast wie ein Symbol für Sauberkeit und Neubeginn. Entschlossen, etwas zu ändern, zieht sich Rosi langsam aus. Das Gefühl der Freiheit, wenn auch nur kurz, gibt ihr einen seltsamen Trost. Ihr ist es egal, ob Tarek sie durch die Kamera beobachtet. Sie will einfach dieses eine bisschen Kontrolle über ihren Körper zurückgewinnen. Doch kaum ist sie ganz nackt, geht der Lautsprecher an. Die plötzliche Stimme von Tarek lässt sie zusammenzucken. "Ich bringe dir gleich eine Schüssel und einen Lappen zum Waschen", sagt er ruhig, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Seine Stimme hat etwas Beruhigendes, fast Fürsorgliches, das Rosi wütend macht. Wie kann er so tun, als ob er sich um ihr Wohl sorgt, während er sie gleichzeitig in diesem Raum gefangen hält? Sie fühlt sich unwohl und verletzlich, nicht nur wegen ihrer Nacktheit, sondern auch wegen der Unvorhersehbarkeit dieser Situation. Ihr Puls rast, und sie fragt sich, was Tarek als Nächstes vorhat. Doch im Moment bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu warten und sich den Bedingungen dieses bizarren "Spiels" zu fügen. Die Tür öffnet sich. Sein Blick wandert langsam von oben nach unten über ihren Körper, und sie fühlt sich wie unter einem Brennglas. Schnell verschränkt sie die Arme vor der Brust, als ob das den Blicken etwas entgegensetzen könnte, als ob er sie nicht im Spiegel gesehen hätte. Sie beobachtet jede seiner langsamen Bewegungen, ihre Augen verfolgen ihn aufmerksam, während er mit einer Schüssel, Seife, einem Handtuch und einem Waschlappen in den Raum tritt. Etwas hält er hinter seinem Rücken verborgen. Langsam nähert er sich ihr, und Rosi weicht instinktiv ein paar Schritte zurück. Tarek streckt die Hand aus und berührt sanft ihre Wange. "Du bist wunderschön", flüstert er mit einer dunklen, warmen Stimme, die voller Faszination zu beben beginnt. Rosi bleibt stumm, gefangen in ihrer eigenen Angst. Ihr Herz schlägt wild, ihr Hals, abgeschnürt und sie kann nichts tun, außer sich starr an den undurchdringlichen Ausdruck in seinen grünen Augen zu klammern. (Was für schöne Augen) denkt sie sich und ein warmes Gefühl breitet sich bei Rosi aus. Er bemerkt ihre Starre und tritt einen Schritt zurück, seine Augen gefangen in ihren. Mit einer fast theatralischen Geste holt er hinter seinem Rücken eine kleine Parfümflasche hervor. "Ich habe diesen Duft heute für dich gekauft", sagt er. "Ich habe daran gerochen und wusste sofort, dass er perfekt zu dir passt. Vielleicht magst du ihn ja." Tarek stellt die Flasche neben dem Handtuch auf den Tisch. Dann, in einem beiläufigen Ton, fügt er hinzu: "In einer Stunde gibt es Abendessen." Ich habe eine Haxe, die seit Stunden in der Räuchertonne gart. Ich hoffe, sie schmeckt dir." Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht er sich um und verlässt den Raum. Rosi atmet nun tief durch, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Die Verwirrung, die sie bisher im Griff gehalten hat, lässt allmählich nach. Er hat ihr nichts getan, obwohl sie in diesem Moment vollkommen wehrlos war. Vorsichtig nähert sie sich dem Waschtisch und beginnt, sich zu waschen. Das warme Wasser auf ihrer Haut fühlt sich erfrischend an, wie eine dünne Schicht Normalität in dieser albtraumhaften Situation. Nachdem sie sich gereinigt hat, greift sie neugierig nach der Parfümflasche. Sie öffnet den Verschluss und schnuppert vorsichtig daran. Ein zarter, blumiger Duft mit einer süßen Note von Vanille steigt ihr in die Nase. Ein Lächeln zieht sich durch ihr Gesicht. Sie liebt Vanille, und zu Rosis Überraschung muss sie zugeben, dass der Type eine gute Wahl getroffen hat. Zögernd sprüht sie etwas auf ihre Handgelenke und hinter die Ohren. Der Duft hüllt sie ein, wie eine vertraute Umarmung, ein flüchtiges Stück Normalität in einer Situation, die alles andere als normal ist. Auf dem Punkt genau, eine Stunde später tritt Tarek ein, ein Tablett in den Händen. Darauf liegt eine saftige Haxe, begleitet von Süßkartoffel-Pommes, Brokkoli und einer Flasche süßlichem Wein. Rosi spürt sofort den knurrenden Hunger in ihrem Magen. Langsam erhebt sie sich vom Bett und nähert sich dem Tisch. Sie setzt sich und betrachtet das liebevoll angerichtete Essen. Er greift nach ihrer alten Kleidung, offensichtlich bereit, den Raum wieder zu verlassen. Doch bevor er zur Tür hinausgeht, ruft Rosi impulsiv: „Bleibst du bitte und isst mit mir?“ Tarek bleibt stehen, eine unerwartete Überraschung spiegelt sich auf seinem Gesicht wider. „Ich habe nur für dich gekocht,“ antwortet er zögernd, seine Stimme verrät einen Hauch von Unsicherheit. Rosi schenkt ihm ein warmes Lächeln. „Das macht nichts, wir können es uns ja teilen“, eine Spur von Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie weiß, dass sie Gesellschaft braucht, dass sie jemanden braucht, um die erdrückende Einsamkeit zu vertreiben. Tarek zögert einen Moment, lässt dann die Wäsche abrupt fallen und setzt sich ihr gegenüber. „Ich habe keinen Hunger, iss ruhig“, sagt er mit einem leichten Kopfnicken. Rosi nimmt eine Gabel und beginnt zu essen. Die Aromen explodieren auf ihrer Zunge. „Wie war dein Tag?“, fragt sie, bemüht, die Spannung im Raum zu durchbrechen. Tarek lehnt sich zurück, ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. „Ich habe gearbeitet“, beginnt er, „da ist so ein Typ bei der Arbeit, der regt mich jedes Mal auf. Ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht umzubringen.“ Seine Hand schlägt auf den Tisch, und Rosi sieht die Adern an seinen Armen, die Stärke, die sich darunter verbirgt. Für einen Moment erschreckt sie die Gewalt in seiner Stimme, doch sie zwingt sich, weiterzufragen: „Was tut er denn?“ Tarek zuckt mit den Schultern, sein Gesichtsausdruck wird düster. „Er macht mich lächerlich, stellt mich dumm dar, als hätte ich keine Ahnung von meinem Job.“ Rosi kichert unerwartet. „Hast du denn Ahnung?“ Er lacht herzlich, seine Zähne blitzen weiß in dem schummrigen Licht, und Rosi kann nicht anders, als seine Attraktivität zu bemerken. Wäre er nicht ihr Entführer, hätte sie sich vielleicht, bei einem zufälligen Treffen in einer Diskothek an ihn rann gemacht. „Schmeckt es dir?“, fragt Tarek plötzlich, und Rosi nickt begeistert. „Es ist wahnsinnig lecker, du kannst wirklich gut kochen. Wo hast du das gelernt?“ Sie sieht, wie sich seine Gesichtszüge verhärten, seine Augen einen tristen Schleier annehmen. „Von meiner Schwester“, antwortet er, seine Stimme klingt plötzlich kalt und distanziert. Eine unbehagliche Stille legt sich über den Raum, wie eine dicke, unsichtbare Decke. Rosi bemerkt die plötzliche Veränderung in ihm und fragt zögerlich: „Ist sie Köchin?“ Tarek senkt den Blick, seine Hände ballen sich zu Fäusten. „Sie ist tot“, murmelt er, springt auf und marschiert zur Tür. „Mein Vater brachte erst sie und dann meine Mutter um. Iss jetzt, du brauchst Kraft.“ Ohne ein weiteres Wort verschwindet er aus dem Raum, und Rosi bleibt allein zurück, erschüttert von der grausamen Offenbarung. Die Mahlzeit, die sie eben noch genossen hat, schmeckt plötzlich wie Asche in ihrem Mund. Später legt sie sich auf das Bett, doch die Worte, die Tarek gesprochen hat, lassen sie nicht los. Sie versucht, sich an eine glücklichere Zeit zu erinnern, an die Tage mit ihrer Mutter, doch die Schatten der neuen Realität drängen sich unbarmherzig in ihre Gedanken. Rosi kann nicht anders, als sich zu fragen, ob Tarek nur das Produkt seiner schrecklichen Kindheit ist. Vielleicht ist er in der Dunkelheit verloren gegangen, unfähig, den Weg zurück ins Licht zu finden. Sie zieht die Decke über ihren Körper, der noch immer die Kälte des Raums spürt, und versucht, den tröstenden Duft des Parfums einzuatmen, das Tarek ihr gegeben hat. Ein kleiner Luxus inmitten dieses Albtraums. Mit einem letzten, schweren Seufzer schließt sie die Augen und lässt die Dunkelheit sie umarmen. Doch selbst im Schlaf kann sie dem Sturm der Emotionen nicht entkommen, die in ihrem Inneren toben. Sie weiß, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegt, und doch kann sie sich nicht helfen, dass ein Teil von ihr, ein winziger, verwirrter Teil, sich nach der Wärme in Tareks Augen sehnt.
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