●S T A T I O N 4: D E N●
S T A T I O N 4: D E N
Ein weiterer gellender Schrei durchbricht die Stimmbänder der am Boden liegenden Mutter und lässt mich vor Furcht zittern.
Als Emilia damals auf die Welt gekommen ist, war ich nicht dabei, sondern saß mit unserer Haushälterin Arista in der Küche unseres Hauses und erledigte Hausaufgaben.
Vor Mamas schreien hatte ich mich gefürchtet, doch sie waren schnell wieder ausgeklungen und Arista meinte, dass es eine erstaunlich schnelle und vor allem unkomplizierte Geburt zu sein scheint. Als ich Emilia daraufhin, als ich zu meiner Mutter durfte, gesehen habe, fand ich sie hässlich. Sie war tiefrot, wie eine Fleischwunde und Haarlos wie ein nackter Regenwurm. Und doch liebte ich sie von der ersten Sekunde an, wie niemanden anderen zuvor. Ich war stolz darauf eine kleine Schwester zu haben, auf die ich von nun an aufpassen konnte und vor allem, dass ich nicht länger die Jüngste im Haus war.
»Na endlich. Atme tief durch und press mein Kind«, fordert die Alte sie nun auf, nachdem ihre Finger kurz davor unter ihrem Rock verschwunden waren.
Keuchend folgt die junge Frau ihrer Aufforderung und presst, wobei sie die Hand ihres Mannes so fest umschlingt, dass auch ihm ein leiser Schmerzenslaut entschlüpft. Ich beiße mir auf die Lippe um bei seinem Gesichtsausdruck nicht doch zu kichern.
Meine Arme werden immer schwerer und schwerer und mein Kopf beginnt wieder unangenehm zu jucken, doch ich reiße mich zusammen. Beiße die Zähne zusammen und schaue auf das verkrampfte Gesicht der Frau. Ich wollte eigentlich immer Kinder haben, aber mir wäre beim besten Willen nicht eingefallen, dass es so schmerzhaft sein könnte.
»Jetzt! Mach genauso weiter! Der Kopf ist schon beinahe vollständig zu sehen!« Die Alte beugt sich glücklich vor und tätschelt die Hand der Mutter, die verbissen weiter presst und dabei gellende Schreie ausstößt die jedem der Passagiere durch Mark und Bein gehen. Ich traue mich nicht ihr noch länger ins Gesicht zu sehen und wende den Blick ab. Es kommt mir vor wie Stunden, in denen ich bereits hier stehe und die beiden Frauen vor den Blicken der anderen schütze.
»Broschkowitz!«, donnert die Stimme des jungen Mannes der nach wie vor die Stellung am Fenster bezieht und uns unseren momentanen Standort zuruft.
Broschkowitz. Die Namen werden immer seltsamer. Befinden wir uns überhaupt noch in Deutschland? Ich bezweifle es. Man wird uns bestimmt alle aus dem Land transportieren, um uns in einer Gegend rauszulassen in der niemand jemals zuvor gewesen ist.
»AH!«, ein letzter Schrei entweicht der Frau, bevor sich gespenstische Stille über den Waggon legt. Kurz darauf hört man ein leises klatschen gefolgt von einem herzerwärmenden Weinen. Neugierig spähe ich hastig über die Plane, die ich nach wie vor eisern umklammere und sehe das pinke Geschöpf, mit den winzigen Gliedmaßen und dem leisen Hauch eines dunklen Haarschopfes. Meine Augen weiten sich vor Glück.
»Herzlichen Glückwunsch! Es ist ein kleiner ungeduldiger Satansbraten. Ein Prachtburche, wenn ich das so sagen kann.« Ich beobachte, wie die Alte Frau den Kleinen so gut es eben geht, mit Tüchern abwischt und ihn anschließend in eine Decke wickelt um ihn auf die Brust der Mutter zu legen, die sowohl überanstrengt als auch glücklich lächelt. Ihrem Mann stehen Tränen in den Augen, als er sich vorbeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn drückt, bei dem sie die Augen schließt.
»Du warst großartig«, flüstert er und schaut schluckend zu dem Kind, welches in dem Moment zu schreien aufgehört hatte, als man es auf die Brust der Mutter legte.
Vorsichtig hebt er einen Finger und legt ihn auf die Wange des Kindes, wo er ihn langsam abwärts schiebt. Ein wackeliges Lächeln macht sich auf seinem Gesicht breit.
Flink und vor allem sorgfältig beginnt die alte Frau den Schoß der Mutter zu reinigen, nachdem auch die Nachgeburt es aus ihr geschafft hat. Angewidert schaue ich auf das viele Blut. So viel Blut. Tiefrot und überall auf dem harten Boden und der stickigen Luft verteilt.
»Ich kann nicht viel mehr ausrichten, meine Liebe. Wir müssen uns gedulden, bis wir unser Ziel erreichen.« Seufzend streckt sie den Rücken durch und schenkt mir zum ersten Mal wieder ihre Aufmerksamkeit.
»Ein Wunder dass du noch stehst«, sagt sie naserümpfend und mustert mich schweigend.
»Wie heißt du?«
Ich blinzele überrascht und antworte ihr eilig.
»Rahel.«
Sie nickt nur und putzt sich notdürftig das Blut, welches an ihren Händen klebt ab, bevor sie eine Hand nach mir ausstreckt.
»Hilf mir hoch.« Zögernd lasse ich die Plane runter, um sie neben die jungen Eltern liegen zu lassen und die Alte beim Arm zu packen und sie hochzuziehen.
Sie taumelt einige Male, ehe sie ihre knackenden Gelenke wieder in die Richtung bewegt, aus der sie gekommen ist.
»Vielen Dank, Mutter! Ohne dich wäre großes Unheil geschehen«, meldet sich der Mann zu Wort und schnieft leise.
Zur Antwort brummt sie nur etwas unverständliches vor sich her und lässt sich von mir wieder in eine Sitzende Position helfen.
Kurz zögere ich, bevor ich mich auf den Platz neben ihr niederlasse und ihr verstohlene Blicke zuwerfe, die sie sofort bemerkt, denn ihre dunklen Augen fixieren mich im nächsten Moment.
»Na los, sprich.«
Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Zunge, die mir inzwischen am Gaumen klebt und schüttle hektisch den Kopf.
»Nein, es ist nichts.« Sie nickt und lehnt sich schnaufend zurück.
»Wo sind deine Eltern? Sind sie hier?«, fragt sie mich nach einigen Sekunden der Stille.
Die Menschen im Waggon reden wieder miteinander, wenn auch etwas leise, da die junge Frau eingeschlafen ist. Wahrscheinlich durch die Anstrengung.
»Nein sie sind nicht hier. Meine Mutter und Schwester werden in einem anderen Waggon transportiert«, erzähle ich ihr und kann dabei sehen, wie Frieda uns neugierige Blicke zuwirft. Mit einem Mal fühle ich mich stolz. Stolz, weil ich bei einer Geburt helfen durfte. Stolz, weil ich dem ganzen standhalten konnte ohne auch nur einmal zu schwanken. Vielleicht klingt es dumm, doch ich fühle mich glücklich, glücklicher allemal.
»Birkenau!«, durchbricht ein weiteres mal die Stimme des Mannes die Ruhe im Waggon, die lediglich von einzelnen Unterhaltungen begleitet wurde.
Die Geschwindigkeit des Zuges nimmt immer mehr ab, wie ich bemerke, denn der Zug rattert nicht länger laut über die Gleise. Birkenau. Es klingt nicht so schlecht oder komisch wie Broschkowitz.
»Wir halten! Wir halten!«, jubelt der Mann aufgeregt und hastig stürmen einige andere der umherstehenden auf das schmale Fenster zu, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.
Als der Zug vollständig steht, bricht Panik aus.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top