●S T A T I O N 2: B R I N G E N●
S T A T I O N 2: B R I N G E N
Der Schweiß rollt mir übers Rückgrat und wird gierig von meinem Stoffkleid eingesogen. Meine Haare trage ich offen, wodurch sie mir gegen meinen Willen an Stirn und Nacken kleben, aber anders als andere Mädchen bin ich nicht fähig einen ordentlichen strengen Zopf zu flechten. Selbst Emilia kann das, dabei ist sie gerade einmal sechs Jahre alt, während ich ganze acht Jahre älter bin als sie. Vater hat stets gesagt, ich sei mit zwei linken Händen gesegnet, womit er wahrscheinlich recht hat.
Ich habe genau dasselbe Haar wie Mutter, lange blonde Locken, die mir bis zu den Hüften gehen. Dabei hätte ich sie eigentlich schneiden müssen.
Ich kratze mir unauffällig den Kopf, aus Angst das jemand davon etwas bemerkt.
Niemand traut sich in die Nähe von Leuten die offensichtlich an Ungeziefer im Haar leiden. Noch nie in meinem Leben hatte ich Läuse. Noch nie.
Doch auf dem Hof mit den Tieren gemeinsam im Heu schlafen zu müssen ließ keine andere Möglichkeit zu.
»Wie heißt du?«, fragt sie mich weiter und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich schaue wieder in diese forschenden braunen Augen, die mich mustern und muss mich heftig zusammenreißen, um nicht mit meinen beiden Händen in mein Haar zu greifen und die geschundene Kopfhaut noch weiter mit meinen Nägeln zu zerkratzen.
Es juckt.
»Rahel«, antworte ich ihr und erschrecke über den Klang den meine Stimme hat. Rau und kratzig.
»Hast du auch einen Familiennamen Rahel?«, fragt sie weiter und rutscht ein Stück weiter zu mir, wodurch ich meinen Rücken noch weiter in die Ecke zwänge, die ich glücklicherweise erreichen konnte.
»Breslauer. Mein Name ist Rahel Breslauer.«
Sie nickt und lächelt. Eine große Zahnlücke erscheint und wirkt auf mich wie ein tiefes schwarzes Loch, welches mich mit sich reißen möchte.
So schwarz wie die vielen Verstecke, die über das vergangene Jahr eine Art Zuhause für Mutter, Emilia und mich dargestellt haben, nachdem man uns unser alles nahm.
Erst kamen die gelben Sterne, dann waren es der Hass und die Verachtung, bis wir schließlich aus unseren eigenen Wänden vertrieben wurden.
Anfangs lebten wir in einem Keller, verbarrikadiert hinter Möbeln, Kisten, Koffern und allerlei Gerümpel. Emilia fiel es schwerer als mir, still zu halten und acht darauf zu geben, ja keine lauten Geräusche zu verursachen. Frau Gripich, die damals genau über uns wohnte kam einmal in der Woche zu uns nach unten, damit sie uns Lebensmittel und Wasser bringen konnte. Manchmal brachte sie auch selbstgebackenes mit sowie Brettspiele für mich und Emilia, dann setzte sie sich oftmals noch einige Minuten zu uns, bevor sie wieder hoch in ihre Wohnung ging. Mutter hatte immer wieder gesagt, was es für ein großes Risiko für Frau Gripich sei, uns in ihrem Keller zu verstecken.
Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem die Deutschen Soldaten bei ihr geklingelt haben, um ihre Wohnung zu durchsuchen. Emilia, Mutter und ich hatten uns zitternd aneinander geklammert und darauf geachtet so flach wie nur irgend möglich zu atmen. Es kamen mir vor wie Stunden, in denen ich die schweren Schritte der Soldaten über mir hören konnte. Stunden der inneren Qual, ob wir nun aufgeflogen waren oder nicht. Stunden die mir vorkamen wie meine letzten.
Doch nach einer kurzen Befragung von seitens der Soldaten an Frau Gripich, hatten sie sich dann endlich zurückgezogen. Zwei Stunden darauf, war Frau Gripich dann zu uns in den Keller gepoltert gekommen, ihr Gesicht so bleich wie Schimmel und in ihren Augen der Ausdruck von purer Angst.
»Ich bin Frieda Kantz. Ich wurde auch von meiner Familie getrennt, da haben wir wohl etwas gemeinsam oder?«, sie lächelt wieder. Ich würde auch gerne lächeln.
Lächeln und lachen und einfach die Beklommenheit von mir abschütteln, welche ich durchgehend an mir haften habe. Wie Schmutz.
Ich nicke wieder und mustere sie etwas genauer.
Sie ist dünn. Noch dünner als ich es bin. Ihre Wangenknochen könnten alles schneiden, so scharf stehen sie ab. Dadurch das ihre Haare ihr aus dem Gesicht zurück nach hinten gebunden sind, sieht an ihrem Kopf alles zu groß aus. Nase, Mund Ohren und Augen. Ihre Augen wirken riesig und fahl in ihrem schmalen Gesicht. Nicht der leiseste Hauch von Glanz ist in ihnen zu finden.
Kinderaugen sind ehrliche Augen. Kinderaugen bringen Glück und Freude.
Die Worte meiner Mutter. Doch zum ersten Mal bin ich anderer Meinung als sie. Sie, die immer in allem Recht hatte. Außer dieses eine Mal.
Sie hat gesagt, dass man uns gemeinsam fort bringen würde. Doch man trennte uns bereits am Anfang der Reise und setzte uns in jeweils andere Waggons.
Sie hat gesagt, dass es nur zu unserem besten sei. Doch nun transportiert man uns mitsamt unseren Ausscheidungen in Güterzügen zu einem uns unbekannten Ort.
Und diese Augen vor mir hängen mit all dem hier zusammen.
»Ich kann es kaum erwarten endlich dort anzukommen. Man munkelt, dass wir uns dort waschen dürfen und das wir gegen Arbeit etwas zu Essen sowie neue Kleidung erhalten«, flüstert sie mir verschwörerisch zu und reißt mich aus meinen trüben Gedanken.
Waschen. Wie lange habe ich mich inzwischen nicht mehr gewaschen?
Eine Woche? Oder sind es doch eher zwei oder drei? Wenn wir uns waschen wollten, füllte man einen Zuber mit kaltem Wasser, weil es zu Riskant war heißes Wasser von einem Ort zum anderen zu transportieren. Es wirkt verdächtig und die Leute treten sich noch feindseliger gegenüber als ohnehin schon. Das kleinste Vergehen wird gemeldet.
Und manche von ihnen sind dem bösen Mann so sehr untergeben, das sie ihre eigenen Kinder an ihn verraten würden.
Denn genau das ist mit dem jungen Herrn Lambach geschehen.
»Und? Freust du dich schon?«, sie rückt noch ein ganzes Stück näher zu mir heran.
Ob ich mich freue?
Worauf sollte ich mich freuen? Ich weiß immerhin nicht, wohin sie uns wirklich bringen werden.
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