9|| LÜGEN TRAGEN CARTERS BEINE


Amanda

Wie am Samstag liegt eine Überraschung in der Luft, als ich am Mittwochnachmittag das Gartentor zum Vorgarten von Miss Stevens Haus hinter mir schließe und den Weg zur Haustür mache.

Ich ahne nichts, als ich den Klingelknopf drücke und wie gewohnt auf die Trippelschritte der kleinen Dame warte.
Alles scheint normal, aber das ist es nicht.

Vielleicht hätte ich mir schon am Samstag Gedanken machen sollen, als Carter von einer zu besuchenden Großmutter sprach. Spätestens vielleicht am Sonntag, als er im Garten meiner Nachbarin gestanden hatte.
Irgendwie habe ich das allerdings verdrängt und so bin ich mehr als überrascht nach zwei Tagen plötzlich wieder auf seine schöne Gestalt zu treffen.

Mit verschränkten Armen lehnt er im Türrahmen zum Salon. Die Arme in den Taschen seines dunkelgrünen Hoodies vergraben, die Oberschenkel nur knapp von einer schwarzen Sportshort bedeckt.
Er sieht gut aus. Die dunklen Haare von Hand zur Seite gekämmt, die Augen klar.
Ein Lederarmband baumelt um sein nacktes Fußgelenk, dass in muskulöse Waden übergeht.

Ich bin nicht sicher, ob ich irgendwann einen Herzstillstand erleide, weil ich jedesmal so untypisch reagiere, wenn ich Carter ansehe.
Vielleicht ist es die Tatsache, dass er auch von innen heraus Schönheit ausstrahlt.

»Hallo, Liebes!«
Melania drückt mich freudestrahlend an sich. Ich kann meinen Blick allerdings nicht von Carter wenden, der mich genauestens mustert. Seine Anwesenheit lässt mich schlucken.

»Ich denke meinen Enkel Carter hast du schon kennengelernt.«
Sie lächelt wissend, lässt ihre Worte dennoch eher nach einer Frage klingen.
Ich bin wie in Trance.
»Flüchtig«, murmle ich an sie gewandt.

Carter scheint diese Antwort zu erheitern.
Seine bis eben noch relativ ausdruckslose Miene wandelt einem unwiderstehlichen Grinsen und er stößt sich elegant vom Türrahmen ab, um die Flüchtigkeit aufzuheben.
Melania geht an ihm vorbei in den Salon.

»Flüchtig also?«
Er grinst. Ich nicke.
»Nun, dann stelle ich mich ein zweites Mal vor, Rosie.
Mein Name ist Carter, Carter Lewis. Melania ist meine Großmutter mütterlicherseits.«
Ich nicke in Zeitlupe.
Mein Aufnahmevermögen ist wegen vorgestern Nacht noch immer nicht zurückgekehrt, aber ich sehe nun um einiges klarer. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Fragwürdig.
Aber nun ergibt alles einen Sinn.
Warum Carter am Sonntag in Melanias Garten stand, warum er von einer Großmutter sprach und warum Miss Stevens ihn am Abend ihres Geburtstags so mütterlich umarmt hat.

Natürlich ist er ihr Enkel.
Aus näherer Sicht sehen sich beide auch durchaus ähnlich.
Die Locken, die Augen.
Sie sind einander nicht aus dem Gesicht geschnitten, aber verwandt, allemal.

»Kommt ihr, Kinder?«

Ich nicke benommen, obwohl, außer dem noch immer grinsenden Carter, Melania das gar nicht sehen kann.
Mit langsamen Schritten löse ich mich aus dem intensiven Blickkontrakt zwischen Carter und mir und gehe vor ihm her ins Wohnzimmer.

Auf dem üblichen Rundtisch stehen Gebäck und Kaffee, den ich voll innerlicher Freude in Betracht nehme, und natürlich das Mensch-Ärgere-Dich-Nicht Spielbrett in Aufstellung von diesmal drei Häusern.
Ich setze mich zögerlich neben Carter.

»Ich hoffe es stört dich nicht, dass Carter uns beiden heute Gesellschaft leistet. Er ist erst am Samstagmorgen hier angekommen und weil wir uns so lange schon nicht gesehen haben, gibt es viel zu erzählen. Außerdem seid ihr beiden im selben Alter. Ich hatte gehofft, Amanda, dass du Carter auch mit zur Schule nehmen und ihm dort alles zeigen könntest.«

Hätte ich Kaffee im Mund gehabt, wäre dies der Moment, an dem ich ihn ausgespuckt hätte.
Nicht, weil er eklig schmeckt, sondern weil die Neuigkeit mich umhaut.
Carter wird mit mir zur Schule gehen?
Bis eben habe ich gedacht, dass er maximal zu Besuch hier ist.
Schule klingt allerdings so, als ob er längere Zeit in Holland verbringen würde.
Und das ist nichts, was mich stören würde. Es ist nur sehr überraschend.

»Ich ... äh ...«

Carters Knie berührt meines unter dem Tisch.
Die Berührung setzt bei mir alle Worte außer Gefecht.
Ich fühle die Röte in meine Wangen kriechen, meinen Puls in die Höhe schießen und all meine Sinne vernebeln.
Was ist denn bloß falsch bei mir?

»Nein, nein, natürlich ist das kein Problem. Ich ... verstehe das natürlich und kann Carter gerne zur Schule begleiten und ihm dort alles zeigen.«
Ich räuspere mich.
Meine Stimme klingt fremd.

»Ich wusste, ich kann auf dich zählen, Liebes! Das ist wirklich nett von dir. Ich würde es auch tun, aber mit seiner alten Oma wird man in der Öffentlichkeit ja nicht immer gerne gesehen.
Außerdem tragen mich meine Knochen nicht mehr sehr weit und da ihr euch an meinem Geburtstag schon so nahe ward, habe ich in dir die beste Begleitung gesehen.«
Ich nicke verstehend und sehe die alte Dame freundlich lächelnd an.
»Es ist wirklich kein Umstand, Melania. Ich passe gerne auf klein Carter auf.«
Ich sehe aus dem Augenwinkel wie er spöttisch zu grinsen beginnt und die Augen eingeschnappt zusammenkneift.
Mein Blick haftet mit Schalk an Melania, die amüsiert kichert.

Das ist dafür, dass du mich unbewusst immer so verlegen machst, Carter!

»Na, dann! Lasst und zu spielen beginnen, ich habe heute gleich zwei Kinder fertigzumachen!«, verkündet Miss Stevens voll Tatendrang und schmeißt ihren Würfel.

Drei Stunden später und bestimmt fünfzehn Spielpartien später, legen wir alle die Figuren nieder.
Es steht Gleichstand und auch, wenn Melania beschwört, dass wir alle geschummelt hätten, geben wir uns, wie jede Woche, mit einem Unentschieden ab.

Carter seufzt erschöpft und lehnt sich tief in den Sessel, als sei er einen Marathon gelaufen.
»Ich spiele nie wieder mit euch beiden!«, murmelt er und erhält eingeschnappte Blicke.
»Willst du etwa behaupten, dass wir unehrlich gewesen sind? Man muss auch verlieren können«, tadelt seine Großmutter und erhebt sich langsam. Niemand hat etwas darauf zu erwidern.

»Möchte noch jemand von euch einen Tee?«, fragt sie auf dem Weg in die Küche.
»Ja«, bejaht Carter und sieht dann zu mir.
»Ich möchte auch einen«, sage ich.

Melania lässt uns allein.
Einen Moment traut sich niemand zu einem Wort.
In der Abenddämmerung ist nur das Geklapper in der Küche zu hören, bis ich das Gespräch aufbaue.

»Wieso wirst du auf unsere Schule gehen? Ich dachte, du wohnst nicht hier.«
»Das tue ich auch nicht. Ich lebe mit meiner Mum in London.«
Das erklärt seinen britischen Akzent.
»Aber in meiner Schule gab es einen Großbrand. Ein Großteil des Hauptgebäudes ist vollständig abgebrannt und darum nicht mehr betretbar. Die Schule wurde bis zur vollständigen Reparatur geschlossen und weil meine Mutter glaubt, dass ich trotz meiner "Ferien" wertvoll Zeit verbringen soll, hat sie mich zu Grandma geschickt. Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr hier, aber Oma ist nicht mehr die jüngste, deswegen komme ich ihr als Hilfe bestimmt gelegen. Ich bin froh mal wieder zu Besuch zu sein, auch, wenn meine Mutter sofort beschlossen hat, mich hier an der Schule anzumelden.«
»Warum wollte sie dich hier? Du hättest doch auch auf eine andere englische Highschool gehen können.«
»Sie ist überängstlich und leider eine sehr beschäftigte Frau. Sie meint, hier würde für die nächsten paar Monate besser für mich gesorgt und ... da hat sie recht.«

»Wow. Ich glaube, ich würde alles dafür geben, dass mir dasselbe passiert. Wenn unsere Schule brennen würde ...« Ich grinse verträumt und denke an all die Nächte, die ich ausschlafen könnte.

So stelle ich mir das Paradies vor.

»Gehst du etwa nicht gerne zur Schule?«, fragt er sarkastisch und beugt sich schmunzelnd vor.
Ich pruste.
»Nicht gerne ist eine heftige Untertreibung. Aber ich bin wohl einfach ein Morgenmuffel, der ungern so früh aufsteht.«
»Verständlich. Ich glaube auch manchmal, dass wir Menschen uns mit frühen Uhrzeiten das Leben unnötig schwer machen.«
»Allerdings. Aber es gibt auch gute Sachen in der Schule. Geschichte und Englisch zum Beispiel, wenn man die nervigen Lehrer den Fächern abzieht.«

»Sind das also deine Lieblingsfächer?«, fragt er leise lachend.
»Jap, Geschichte ist meine Leidenschaft. Ich habe nur leider eine Lehrerin, die mich überhaupt nicht leiden kann und sich wirklich unausstehlich verhält.«
»Wie kann ich das verstehen?«
»Nun ... sie heißt Miss Merlin und hat seit einigen Monaten die verrückte Idee, Lili und mich die gesamte Stunde über auszufragen und zu testen. Ohne Grund hat sie uns in die erste Reihe verfrachtet und jetzt versucht sie zwanghaft, uns beide vor der Klasse zu demütigen. Sie ist echt irre. Zumal mir in Geschichte niemand so schnell etwas nachmacht.«
»Klingt wirklich nach einer schrecklichen Lehrerin. Sehr respektlos. Aber Lili? Ist das deine Freundin?«
Ich lache auf. Natürlich kann er nichts für diese Annahme.

Ja, so ähnlich!

»Ja, genau«, gluckse ich und freue mich auf einmal ihm morgen meine Freundin vorzustellen. Die wird sich auch freuen.

»Was ist daran so lustig?«
Er sieht mich irritiert an.
»Nichts, gar nichts. Ich ... musste gerade nur an etwas denken.«
Er sieht skeptisch aus, sagt aber nichts weiter.
Bestimmt bin ich auf seiner Skala der Merkwürdigkeit eine Stufe nach oben gesprungen.

»Was machst du denn gerne in der Schule? Bist du bei dir Zuhause in einer AG oder so etwas?«, wechsle ich das Thema.
»Ja, in London spiele ich, wie jeder Junge des typischen Klischees, Fußball. Und meine Lieblingsfächer sind Sport und Literatur.«

»Lebst du schon dein ganzes Leben in England?«
»So gut wie, ja. Lange haben wir aber auch in Frankreich, dem Heimatland von meinem Vater gelebt. Zu der Zeit war ich allerdings noch recht jung. Als er dann verstarb zogen meine Mutter und ich nach England. Sie bekam eine Stelle als Dolmetscherin angeboten und deswegen leben wir dort.«

Er ist also ein halber Franzose? Dass muss seine so goldig-braune Hautfarbe und die dunklen Locken erklären.
Er hat wirklich schrecklich gute Gene.

»Dein Vater war Franzose? Sprichst du dann auch seine Muttersprache«, frage ich, mein Interesse nicht verbergend.
»Ein wenig. Aber nicht vollkommen fließend. Meine Mutter hingegen schon. Sie ist ein wirkliches Sprachengenie.«
»Was kann sie alles sprechen und verstehen?«
Ich bin ehrlich interessiert, denn außer ein paar schwacher Spanischausdrücke, kann ich mich nur auf Holländisch oder Englisch verständigen.
Und auch kulturell kommt in meiner Familie nicht wirklich etwas Spannendes zustande.
Ich war noch nie in Frankreich oder Großbritannien.

»Sprechen kann sie Französisch, Deutsch, Holländisch, Englisch und Russisch. Zum Verstehen kommen noch Spanisch, Italienisch und Türkisch und dazu kommen noch die Sprachen, die sie lesen kann, Japanisch und Polnisch.«
Ich bin mehr als beeindruckt.
Seine Mutter muss wirklich ziemlich begabt und lernfähig sein.

»Wow, das ist unglaublich!«
»Das ist es. Aber sie hat schon immer gerne gesprochen. Sprachen sind ihre Leidenschaft, wie für mich das Lesen oder für dich Geschichte.«
»Trotzdem, der absolute Wahnsinn. Ich bin ja schon stolz, dass ich nach drei Jahren auf Spanisch grüßen und mich verabschieden kann.«
Wir lachen beide.
»Das ist doch ein guter Anfang und immerhin etwas«, prustet Carter lachend.

»Ja, ja, lach du nur. Estúpido!«, brumme ich gespielt beleidigt und kreuze die Arme vor der Brust.
Carter bekommt sich bei diesem Anblick erstrecht nicht mehr ein.
»Was?«, bringt er mit Lachtränen in den Augen hervor.
»Ich habe gesagt, dass du ein Blödmann bist!«, schmolle ich.
»Ein Blödmann? Wie kann das sein? Am Sonntag hieß es noch, dass ich ein Gentleman wäre.«

Mir schießt die Scham ins Gesicht.
War ja klar, dass er sich diesen Punkt unseres Gesprächs gemerkt hat.

»Dinge ändern sich«, murmle ich ein wenig leiser.
»Ach, komm schon, Rosie. Ich lache doch gar nicht mehr.«

Lügen tragen Carters Beine.

Erst als Melania aus der Küche zurückkehrt, hört er auf, mich auszulachen und versucht zumindest sein Prusten zurückzuhalten.
Ich gebe zu, drei Vokabeln nach drei Jahren Unterricht, sind tatsächlich keine Meisterleistung.
Aber was soll ich auch machen, bei all diesen blöden Akzenten und Tilde-Zeichen?

Dafür bin ich einfach nicht gemacht.

»Was ist so lustig, Carter?«, fragt seine Großmutter und stellt die Teetassen vor unsere Nasen.
Der Geruch nach Fencheltee steigt in die Luft auf.
Ich nehme mir einen Löffel Zucker in meine Tasse hinzu und tauche einen Keks in das heiße Getränk.
Carter versucht krampfhaft nach Worten zu finden.

Er übertreibt maßlos ...

»Nichts, Grandma. Ich habe nur gerade erfahren, dass der Grat zwischen Blödmann und Gentleman sehr schmal ist.«

»Allerdings«, pflichtet seine Oma ihm bei und zwinkert mir zu. Sie scheint unser Gespräch belauscht zu haben und ich bin es nun, die amüsiert ist, weil sich Melania auf meine Seite stellt und ihrem Enkel ernst auf die Schulter klopft.

Das tut weh, denke ich leise kichernd.

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