5|| MEINE WELT
Amanda
Am Samstagmorgen erwache ich durch Morle, die sich auf mein Gesicht bequemt und unruhig hin und her rollt.
Weil ich sie kenne und weiß, dass sie mein gewärmtes Bett übernehmen will, stehe ich genervt auf und watschle mit offenem Mund ins Badezimmer, um mir ihre vielen Katzenhaare von den Lippen zu waschen.
Kaum bin ich zurück, liegt sie ausgebreitet auf meinem Bett und kuschelt sich in meine Bettdecke, zufrieden, weil sie mich erfolgreich vertrieben hat.
Ich überlege einen Moment und denke an lüsterne Rachegedanken, die sich bei einem Blick von ihr in Luft auflösen. Treu und doch ziemlich gelangweilt von meinem hochkonzentrierten Gehirn starrt sie mir entgegen und wartet so lange, bis ich von selbst verschwinde und sie liegen lasse.
Kaum fünf Minuten später bereue ich wach geworden zu sein. Sieben Uhr steht auf der Digitaluhr des Backofens in der Küche und damit ist die Ruhe im Haus kein Wunder. Mum und Dad haben sich für heute frei genommen, um den ganzen Tag bei Miss Stevens sein zu können. Ich habe die Einladung und das anstehende Fest bereits am Mittwochabend wieder vergessen, als ich versunken begonnen hatte meinen Aufsatz zu schreiben.
Aber Mum hat den Umschlag trotzdem gefunden und sich gleich daran gemacht, uns alle für diesen Tag herzurichten.
Sie hat Dads besten Anzug und ihr schönstes Kleid gewaschen, war mit Leo shoppen gewesen und hat auf einem Wege auch ein wirklich nettes Kleid für mich gefunden. Mum hat einen hervorragenden Geschmack und ich finde das Kleid super, auf den Geburtstag allerdings habe ich trotzdessen wenig Lust.
Seit ich klein bin, gehen wir auf die Gartenpartys unserer Nachbarn und die von Miss Stevens ist zwar bei weitem nicht die Schlimmste, aber ich fühle mich doch jedes Mal unwohl, wenn wir da sind. Mir scheint es immer, als hätte jeder an diesem Abend jemandem mit dem er reden, lachen und gemeinsam essen kann, nur ich bleibe jedes Mal übrig.
In der Nachbarschaft habe ich keine Freunde. Das liegt in erster Linie daran, dass wir keine Nachbarn in meinem Alter haben. Die meisten Häuser um uns herum sind bewohnt von Mitte fünfzigjährigen, die der Rente entgegensehen und ihre Kinder schon längst aus dem Haus geworfen haben.
Auf Feiern habe ich also niemanden mit dem ich reden kann und so sitze ich meistens blöd herum oder versuche mich bei meiner Mutter unterzuhaken, die mein Problem nicht einmal in den Ansätzen versteht.
Sie hat immer gut reden, ist sie doch ein kontaktfreudiger Mensch und so beliebt und nett, dass jeder sie gern hat.
Ich bin da anders. Auf Feiern fehlt mir immer die Stimme und Leute schüchtern mich so sehr ein, dass ich so schnell wie möglich versuche, wieder nach Hause zu kommen. Ich will nicht auffallen oder mich blamieren. Und doch tue ich es meistens.
»Oh, Schatz, du bist schon wach!«
In einen Morgenmantel gehüllt steht Mum hinter mir und reibt sich über das Gesicht. Ein seltener Anblick. Ist sie doch morgens immer der Sonnenschein in Person.
»Konntest du nicht schlafen?«
Ich nicke sanft, während ich mir meine Tasse mit frischem Kaffee fülle und ihn gierig zu trinken anfange.
Mum sieht mich streng an. Sie hasst es, wenn ich Kaffee trinke. Genau darum entzieht sie mir auch die Kaffeekanne, als ich nachschenken will.
»Du hast aber vor heute hyperaktiv zu sein. Amanda, ich habe dir schon mal gesagt, dass du von diesem Gebräu nicht so viel trinken sollst.«
»Ich weiß, Mum! Aber Morle hat mich viel zu früh aus dem Bett geschmissen und jetzt muss ich die verlorenen Stunden mit Kaffee aufholen, sonst bin ich nicht fit für den Geburtstag«, versuche ich zu diskutieren, aber Mum ist stur.
»Gestern Abend wolltest du mich noch fest davon überzeugen, dass du zu alt für solche Feiern wärst.«
Sie hat echt gut aufgepasst.
»Bin ich ja auch. Aber du würdest mich, egal mit welcher Begründung, sowieso dahin schicken, also bleibt mir nur der Kaffee.«
Sie hebt eine Augenbraue, seufzt und gibt mir die Kanne endlich wieder.
»Ich verstehe nicht, warum du jedes Mal so ein Theater machst. Natürlich bist du langsam zu cool für die Familie, aber du sollst dich trotzdem nicht ins Zimmer verkriechen und dein Schneckenhaus zukleben. Man lernt doch immer neue und nette Leute kennen.«
Nein, sie lernt immer neue und nette Leute kennen!
Wenn ich mit überhaupt jemandem auf solchen Feiern rede, oder andersherum, wenn aus Versehen mal jemand mich anspricht, dann nur, um zu fragen, wo denn die Toiletten sind.
Für mich interessiert sich eben niemand.
Das ist in der Schule genauso.
Die Jungen gehen an mir vorbei, sitzen neben mir, unterhalten sich aber mit jemand anderem oder ignorieren mich eben.
Außer Kilian und Cleo habe ich in der Schule niemanden, den ich wirklich als meinen Freund bezeichnen würde.
Und ich brauche das auch nicht.
Ich bin nicht neidisch auf Mädchen, die von den Jungs beachtet und ausgeführt werden. Ich bin auch nicht traurig, weil ich keinen Boyfriend habe.
Ich denke, wenn die Zeit gekommen ist, wird mir der Richtige wohl noch über den Weg laufen.
Ich schwärme für niemanden aus meiner Stufe.
Die Leute sind mir zu unreif. Ab und an habe ich einen Jungen vielleicht mal süß gefunden, aber schnell stellt sich heraus, dass auch die süßen Typen meistens notgeile Idioten sind. Es ist wirklich traurig mit anzusehen, was aus früher und heute geworden ist. Auch Mum regt sich darüber auf.
Sie schwärmt immer, auf welche Weise ihre Eltern sich noch kennen und lieben gelernt haben und wenn sie dann auf heute sieht, fängt sie an die Vergangenheit zu beneiden.
Mir geht es ähnlich.
Nur Daddy nicht. Er ist froh, dass ich mit Jungen noch nichts am Hut habe und es heute nicht mehr üblich ist, mit vierzehn bereits verheiratet zu sein. Er ist empfindlich, wenn es um uns Mädchen geht und irgendwie ist das süß, auf eine Weise aber auch bitter.
»Du verstehst das nicht, Mum.«
»Ich glaube, so viel gibt es da auch gar nicht zu verstehen.« Ihre Stimme wird sanfter und sie streicht mir eine Strähne hinter das Ohr, ehe sie hinter mich nach den Cornflakes greift.
»Kommst du mit ins Wohnzimmer?« Ich nicke und setze mich neben sie auf die Couch. Mum reißt die Tüte Schokochips auf und beginnt gleich damit, sie zu leeren.
Sie hat ein Fable für trockene Cornflakes.
Wenn sie ihre Tage bekommt, sind die kleinen Chips die einzige Lösung um sie bei Laune zu halten. Kläglich sitzt sie dann immer auf dem Sofa, kuschelt mit einem Körnerkissen und wartet bis Dad nach Hause kommt, um sich bei ihm auszuheulen.
Ich wünsche mir manchmal, dass ich auch jemanden hätte. Morle ist eindeutig zu zäh, Leo zu ungeduldig und Mum und Dad sind an vielen Tagen erst abends wieder zu Hause.
Wenn ich alleine bin, wünsche ich mir manchmal jemanden, der sich so um mich kümmert, wie Dad um Mum. Jemanden, der mich liebt, der sich um mich sorgt und auch spätabends noch in den Supermarkt rennt, um eine Packung Müsli zu kaufen.
Eine glückliche, liebevolle Ehe mit anzusehen ist als Single wirklich nichts für alle Tage.
»Was würdest du nur ohne diese Chips machen?«, frage ich amüsiert und klaue mir ein paar auf die Hand.
»Sterben, Mäuschen, das weißt du doch.«
Mum stellt die Tüte unauffällig ein bisschen weiter von mir weg. Bei diesem Essen ist sie wirklich geizig. Innerlich schüttle ich den Kopf.
***
»Motte, bist du fertig?«, schreit Mum von unten und schimpft zwei Sekunden später mit Leo, die unten ebenfalls beginnt laut zu werden und mich zu beleidigen.
»Schneller, du lahme Nuss!«
Ich grinse in den Spiegel und stecke mir auch den zweiten, silbrig glitzernden Ohrring ins Ohrläppchen.
Morle sieht mich vom Fensterbrett aus zu und schreit mir mit Blicken dieselben wüsten Beleidigungen ins Gesicht.
Wie liebevoll unser Heim doch ist.
Als der Stecker sitzt nicke ich mir ein letztes Mal im Spiegel zu und beginne innerlich mich auf den langweiligsten Abend aller Zeiten vorzubereiten.
Als wir geschniegelt und gebügelt endlich das Haus verlassen und zwischen hunderten von Autos das Gartentor zur alten Villa von nebenan öffnen, überläuft mich ein Schauer.
Der Abend ist warm und angenehm, aber ich merke bereits jetzt, dass etwas anders ist.
Etwas Entschiedenes.
Etwas Besonderes.
Etwas Lebensveränderndes.
Die Haustür steht sperrangelweit offen. Bereits im Foyer stehen alte Leute in schicken Anzügen und Kleidern beieinander, halten Champagnergläser in der Hand und unterhalten sich angeregt miteinander.
Miss Stevens hat, wie ich im Laufe der Jahre erfahren habe, eine Unmenge an Bekannten und Freunden. Sie besucht sie oft, trinkt Kaffee mit dem und wem und hält sich damit selbst der Einsamkeit fern, die sie begrüßt, wenn sie zu Hause ist.
An manchen Tagen tut sie mir unglaublich leid und ich würde Melania am liebsten dazu auffordern zu uns zu ziehen, aber auch die Einsamkeit würde niemals ihre gute Laune und liebevolle Art zerstören und deswegen würde sie nicht umziehen wollen.
Kaum setze ich den ersten meiner Füße in die sonst immer so leere Eingangshalle, umschwirrt mich Stimmengewirr und die gute Laune der Gäste.
Melania selbst ist nirgendwo zu sehen, dafür treffen meine Eltern schon an der Tür auf erste Bekannte und kaum stehe ich ganz auf dem mosaiken Boden, bin ich auch schon allein.
In meinen Ohren rauscht es.
Der Geräuschpegel nimmt an, aber keine Stimme dringt mehr zu mir durch oder lässt Worte in meinem Innersten Sinn ergeben.
Ich spüre die Unsicherheit in meinen Zehen und das Unwohlsein am ganzen Körper. Es überschüttet mich, wie ein Schauer Regen und klebt an mir, wie Honig.
Am liebsten würde ich umdrehen und sofort wieder verschwinden. Ich will nicht hier sein. Zu viele Menschen, zu viele Unbekannte und zu viel Zeit, die ich mit Nichtstun verschwende. Das ist nicht meine Welt. Feiern. Nicht so.
Wie mechanisch bewegen sich meine Beine durch den gefüllten Eingangsbereich und nähern sich den geöffneten Flügeltüren zum Wohnzimmer.
Als ich sie passiert habe, bereue ich, dass ich nicht weiter wie ein Butler am Eingang bin und dumm herumstehe. Im Wohnzimmer sind noch mehr Leute. In Grüppchen stehen sie beieinander und wirken bereits so, als sei kein Platz mehr für mich. Ich fühle mich fehl und ungewollt und dafür kann niemand etwas. Es liegt an mir.
Schüchtern überfliegen meine Augen die Gäste. Einige kenne ich bereits aus vorherigen Jahren oder aus der Nachbarschaft. Viel zu viele allerdings sind mir fremd.
Ich senke den Blick, als eine blonde Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an mir vorbeiläuft und mich verloren an einer Stelle stehen sieht. Sie stöckelt vorbei und mit ihr auch der letzte Rest an Wohlbefinden.
Ich gehöre nicht hier her.
Und ich will auch nicht hergehören.
Nervös trete ich zur Seite und versuche langsam die Fliege zu machen. Wieder laufe ich mechanisch, diesmal allerdings rückwärts.
Meine Sandalen gleiten langsam über den teuren Boden und ziehen sich zurück. Die luxuriöse Einrichtung verschwimmt vor meinen Augen und mit ihr meine Orientierung, denn schneller als ich kontrollieren kann, stoße ich gegen jemanden.
Wer auch immer sich zuvor noch angeregt mit einer Reihe Leute unterhielt, wird von mir unterbrochen.
Voll Missgeschick nämlich, stolpere ich über meine eigenen Beine und stoße gegen etwas Warmes, das kurz darauf mit mir und dem Boden Bekanntschaft macht.
Der Aufprall tut nicht weh. Mir geht es körperlich bestens, innerlich zerbreche ich allerdings voll Scham.
Gespräche werden unterbrochen, Stimmen verstummen und weil ich voll Peinlichkeit nicht mehr atmen kann, kneife ich meine Augen fest zu und hoffe inständig, dass das nicht wirklich passiert ist.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, die ich schamhaft still auf dem Boden sitzen bleibe und hoffe das alles wäre nicht passiert.
Neben mir rekelt sich etwas.
Die warme Quelle, der ich mein Ungeschick bewiesen habe, scheint aufzustehen.
Ich hoffe sehnlichst, dass sie mich nicht registriert und einfach dort weitermacht, wo sie eben aufgehört hat. Aber meine Hoffnungen sterben im Bruchteil von Sekunden.
Viel zu schnell.
»Ist nicht deine Welt, was?«
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