43|| AL FINAL

Carter

ZEHN JAHRE SPÄTER

Das Leben ist in etwa so, wie Amanda und meine Großmutter, wenn sie sich am Mittwochnachmittag bei uns zuhause zum Mensch-Ärgere-Dich-Nicht Spielen treffen.

Unberechenbar, nervenaufreibend, ein kleinwenig verlogen, aber in erster Linie ziemlich unterhaltsam.

Nach siebenundzwanzig Jahren auf dieser Erde kann ich die guten und schlechten Tage mittlerweile gar nicht mehr zählen, geschweige denn alle zurückholen und erinnern.

Aber ich weiß auch so, dass ich in gesamter Summe, wenn ich auf mein vergangenes Leben sehe, an mehr Tagen glücklich und zufrieden war und lachen konnte, als das ich weinen musste.

Man macht sich selten Gedanken über das Leben.
Vielmehr nimmt man es hin, ist aufgeregt und neugierig, auf das, was noch kommt, was als nächstes großes Ereignis ansteht, als an das zurückzudenken, was war und nicht mehr zurückkommt.

Jetzt allerdings, nach siebenundzwanzig Jahren des Lebens und vielem Vergangenen, das mich geprägt hat und immer prägen wird, denke ich häufiger über das Leben nach, suche in meinem Kopf nach Erinnerungen, die ich nahe an meinem Herzen halten und niemals weniger wichtig werden lassen möchte, als jeder neue Tag, der gesegnet ist, mit Glück.

Ich denke an mein siebenjähriges Ich zurück.
Sehe den kleinen Rabauken, der seine Leidenschaft für den Fußball entdeckt und die ersten Locken seines Vaters bekommt.
Ich sehe die grünen Augen seiner Mutter, in denen noch so viel Unschuld, so viel Hoffnung, so viel Trotz und so viel Unwissen liegt.
Ich sehe Stärke, die ich damals nicht in mir gesehen habe, als ich meinen Vater habe gehenlassen müssen und mir dafür die Schuld gegeben habe.
Ich sehe einen mutigen Jungen, der es sich zur Aufgabe macht, seiner Mutter niemals zur Last zu fallen und sie so sehr zu lieben, wie sein Vater es von ihm gewollt hätte.
Gleich daneben sehe ich einen typischen, kleinen Jungen, der das Gesicht verzieht, wenn jemand sich küsst und es ekelig findet, wenn zwei Menschen sich so nahe sind.

Er hat noch keine Ahnung, wie süchtig Küsse machen können und wie verrückt er nach einer quirligen Niederländerin sein wird, die ihn auf der Geburtstagsfeier seiner Großmutter wortwörtlich umhaut und bald darauf zum wichtigsten Menschen in seinem Leben wird.

Erst das siebzehnjährige Ich weiß von ihr.
Von ihrem Lächeln, ihrer Art die Sonne scheinen zu lassen und dem sexy, schüchternen, süßen Gemüt, das sie einfach wahnsinnig attraktiv macht.
Es weiß von Amanda und ihrer besonderen Rolle in diesem Leben.
Davon, dass es sie liebt, niemals loslassen wird, sie glücklich machen, jeden Tag seiner Zukunft mit ihr verbringen will.

Aber das siebzehnjährige Ich hat keine Ahnung, wie die Zukunft aussieht.
Was in rasender Geschwindigkeit auf sein Leben zu rast und wie viel passiert.

Es weiß nicht, dass Amanda nach dem Schulabschluss gemeinsam mit Kilian an die Universität in Amsterdam geht, um Geschichtswissenschaften und Businessenglisch zu studieren und es selbst in der Heimat zurückbleibt und sich für eine Ausbildung zum Erzieher entscheidet.
Es weiß nicht, dass ihn das trotzdem nicht aufhält, sie jedes Wochenende besuchen zu fahren und auf sie zu warten.
Es weiß nicht, dass das Warten sich lohnt.

Erst heute, heute weiß mein siebenundzwanzigjähriges Ich, dass sich das Warten auf sie gelohnt hat.
Dass jeder Umstand Wert war, weil Amanda gleich nach dem Studium zurück nach Hause zieht und von dort an keine Nacht mehr von mir getrennt lebt.

Der Carter von heute weiß, dass sie mit zweiundzwanzig Jahren in einem wunderschönen weißen Kleid und einer Rose im Haar zu Amanda Rosalia Lewis wird und ihm verspricht, ihn zu lieben und zu ehren, bis das der Tod sie scheidet.
Der Carter von heute weiß, dass sie nur ein paar Monate später mit ihm auf der Autobahnbrücke, an die sein jüngeres Ich geflüchtet ist, sitzt und ihm mitteilt, dass er Vater einer Tochter wird.
Er weiß, dass er Freudentränen weint und, dass er dieses Mädchen lieben wird, so wie er die Frau liebt, die ihn weitere Monate später tatsächlich Vater werden lässt.

Damit nicht genug weiß das siebenundzwanzigjährige Ich vom fünfundzwanzigjährigen Carter, dass auf Diana Elisa folgt, die das Familienleben aufs Neue perfekt macht und ihn mit ihren braunen Locken an ihren Großvater erinnert, von dem er gern erzählt und von dem er weiß, dass er seine Enkelin dennoch von ganzem Herzen liebt.

Genauso sehr wie auch alle Verwandte die beiden Kinder lieben, kaum dass sie sie kennenlernen.
Meine verrückte Mutter und Schwiegermutter, die jeden Tag zufällig zu Besuch kommen und darum streiten, wer auf die Kinder aufpassen darf, wenn ich Amanda zu einem Picknick am Strand entführe oder zu einer Fahrradtour auf dem Gepäckträger, wie ganz zu Anfang unserer Geschichte.
Meine eigene Großmutter, die mit dem Status als Urgroßmutter prahlt und meine kleinen Engel viel zu sehr verwöhnt.
Mein Schwiegervater, dem ich immer danken werde, dass er mir in vergangenen Tagen so oft beistand, als mein eigener Vater es nicht konnte und von dem ich bis heute für mich selbst lerne, um meinen Kindern ein guter Vater zu sein.
Meine Lieblingsschwägerin, die mittlerweile keine Prinzessin, aber dafür die Coolste Tante aller Zeiten werden möchte.
Morle, die schon so manchen Kinderfingern ausweichen musste und die trotzdem jeden Morgen über den Gartenzaun springt, um uns zu besuchen und natürlich Kilian und Cleo, die Paten unserer Kinder geworden sind und es mittlerweile auch geschafft haben, zusammenzuziehen und sich einen Termin für ihre Hochzeit auszusuchen.

Was damals vor zehn Jahren begonnen hat, hat sich nicht nur bei mir und Amanda zu etwas Festem zusammengebunden.
Auch Kilian und Cleo fanden ihr Glück zusammen, wenn auch mit einigen Hürden mehr, während der Zeit von Kilians Studium, die Cleo hauptsächlich auf Turnieren im Ausland verbracht hat. 

Sie waren eine Zeit lang getrennt – im Guten – aber, wie sagt man so schön: Was zusammengehört, wird auch zusammenfinden.

Und die beiden haben sich gefunden.

Bald sogar für den Rest ihres Lebens.

Und das ist der Wahnsinn.
Es ist der Wahnsinn, was in so wenigen Jahren alles geschehen ist, wie viel ich im Leben schon erlebt habe, wie viel gewonnen und wie viel verloren.

Ich würde nichts verändern wollen.

Es gibt nichts, das ich ändern möchte, denn dann würde ich womöglich nicht hier stehen, wo ich jetzt stehe und ich würde nicht haben, was ich jetzt habe, nicht sehen, was ich jetzt sehe.

Meine Babys.
In dicken, bunten Jacken gehüllt im Garten der alten Villa, die meine Großmutter und Mutter Amanda und mir überlassen haben, kaum das wir verheiratet waren.

Grandma ist zu Gilbert ein paar Häuser weiter gezogen und meine Mutter zu William, den sie als einen ihrer Klienten kennen und später lieben gelernt hat.
Er ist ein netter Kerl und so lange er sie glücklich macht, habe ich kein Problem mit ihm.

Diana rutscht zum bestimmt dreißigsten Mal die Rutsche ihres Klettergerüst hinunter, während Elisa große Freude daran hat, mit der roten Gartenschaufel den Sand im Sandkasten auf den Rasen zu transportieren.
Kichernd lacht sie, wissend, dass ich sie beobachte und in den nächsten zehn Minuten kommen werde, um sie durchzukitzeln und dann zu versuchen, ihr diesen Schabernack auszureden.
Sie ist ein kleiner Teufel verkleidet als der putzigste Zwerg, den ich neben ihrer großen Schwester kenne.

Ein Arm schlingt sich um meine Taille und wie von selbst lege ich meine Arme um Amandas Oberkörper und ziehe sie näher an mich, um ihr einen Kuss aufs Haar zu hauchen und dann wieder zu unseren Kindern zu sehen.

»Na, was machen die kleinen Prinzessinnen?«, fragt mich meine Frau und ich kann das Grinsen aus ihrer Stimme hören, weil sie genau weiß, dass unsere Töchter unbeaufsichtigt nur Chaos anrichten.

»Diana rutscht sich den Hintern wund und versucht seit zehn Minuten nicht direkt hinzufallen, wenn sie unten ankommt und Elisa leert mal wieder den Sandkasten aus«, berichte ich ihr und muss selbst von meinen Worten lachen.

Wie ironisch, mit was man sich als kleines Kind beschäftigt. Was einem wichtig ist und was einen zum Lachen bringt, während es nach wenigen Jahren völlig uninteressant wird und der Sandkasten irgendwann nicht mehr von Interesse sein wird.

Aber so ist wohl das Leben.

Dinge kommen und gehen, Menschen werden geboren und sterben, Kinder werden älter und bekommen irgendwann eigene Kinder.

Das Leben nimmt seinen Lauf.

Aber das ist mir in diesem Moment nicht wichtig.
Es ist nicht von Bedeutung, weil ich im hier und jetzt lebe und mir keine Gedanken um die Zukunft machen möchte.

Sie wird kommen, wenn sie kommen möchte und ich kann und will nichts dagegen tun.

Ich kann nur hier und jetzt sein.
Meine Frau in den Armen halten, sie auf die Lippen küssen und an mein Herz drücken, das sie ebenso bewohnt, wie die beiden Kichererbsen im Garten.

Ich kann bloß alle wissen lassen, dass ich sie liebe, dass sie sich auf mich verlassen können und, dass ich ihnen der Vater und Ehemann sein werde, den sie brauchen, wenn sie traurig sind, etwas von der Seele reden wollen, wenn sie in den Arm genommen werden oder geliebt werden wollen.

Ich kann sie nur wissen lassen, dass ich ihr Zuhause bin.
Dass sie hier zuhause sind und sie immer auf mich zählen können.
Dass wir alle zusammen gehören.

Schulter an Schulter.

——————

❤️

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top