38 || UND PLÖTZLICH IST ALLES, WIE ES FRÜHER WAR (2)


Amanda

Es fühlt sich merkwürdig an, wieder auf niederländischem Boden zu stehen.

Es fühlt sich merkwürdig an.

Und das nicht, weil ich mich in dieser einen Woche so intensiv an England gewöhnt habe.

Und das nicht, weil plötzlich alles anders ist und weil ich jetzt ein völlig neuer Mensch bin.

Das bin ich nicht.

Ich bin Amanda Vine.

Aber es ist merkwürdig, weil das Holland, das ich zurückgelassen habe, jetzt anders aussieht.

Es ist das Holland von früher.
Es ist mein Holland von früher.
Es ist das Holland ohne Carter ...

Er ist in England geblieben.
Er ist bei seiner Mum geblieben.
Sie ist aufgewacht – endlich – und er war sofort weg.

Er war sofort weg.

Als wir für den Kampf um den ersten Platz auf die Bühne kamen, war er weg.
Und mein Dad kam gerade wieder durch die Tür herein.

Er hat gelächelt.

Und als er mich später in den Arm genommen und mir gesagt hat, wie unfassbar stolz er auf mich ist, weil wir insgesamt zweiter Platz geworden sind, hat er mir auch erklärt, dass der Arzt seiner Mutter angerufen hat und das er bei ihr ist.

Ich habe ihn nicht mehr gesehen.
Die Siegerehrung lief bis in den späten Abend und die sechs besten Kandidaten wurden noch lange befeuert und für sich beansprucht.
Ich habe tausenden Professoren die Hand geschüttelt, habe sogar eine Umarmung von Miss Merlin
über mir ergehen lassen und dann sind wir noch feiern gewesen, aber es war nicht dasselbe.

Es war alles nicht dasselbe ohne Carter.
Es war einfach nicht so schön.

Und auch wenn es das eigentlich doch war, weil er an einem besseren Ort war, als in irgendeinem schicken Restaurant mit irgendwelchen fremden Leuten, kann ich mir das nicht wirklich einreden.

Meine Mutter umarmt mich und Kilian am Flughafen so stürmisch, wie niemals zuvor.
Sie hat ein überglückliches Strahlen in den Augen, während ich kurz davor bin mein Gesicht an ihrem Hals zu vergraben und zu heulen.

Ja, zu heulen.

Weil er jetzt weg ist.

Weil er jetzt auf der anderen Seite des Meeres ist.

Und weil er nicht wiederkommen wird.

Weil er dort zuhause ist.

Und weil ich hier zuhause bin und weil wir beide jetzt getrennt sind.

Alle anderen sind einfach nur glücklich.

Kilian trägt das fetteste Grinsen auf dem Gesicht, das ich jemals an ihm gesehen habe.
Er kann es kaum erwarten, seine Eltern zu sehen und ihnen in die Arme zu fallen.
Er kann es kaum erwarten, Cleo wiederzusehen und ihr alles zu erzählen.
Und er ist zugleich so verdammt erleichtert, dass Carter, als sein Freund, endlich wieder richtig glücklich ist.

Auch für alle anderen war es in den letzten Wochen schrecklich, Carter so leiden zu sehen.

Sie freuen sich mehr, als sie ihn vermissen.

Und ich tue das auch.
Natürlich tue ich das.

Und gleichzeitig denke ich, so egoistisch und armselig ich eben bin, daran, dass wir uns jetzt nicht mehr jeden Tag sehen, dass er mir keinen Handkuss mehr geben wird, wenn ich in ein paar Tagen wieder in die Schule muss, dass in dem Zimmer gegenüber kein Licht mehr brennen wird und, dass unser nächster Tanz in der Dunkelheit der Nacht in ferner Zukunft liegt.

Ich vermisse Carter schon jetzt.
Und ich weiß, wie traurig das ist.
Ich weiß, wie dämlich das ist.
Aber ich kann es nicht ändern.

Es ist das, was ich fühle.

Und Gefühle kann ich nicht steuern.

Während also alle zelebrieren und meine Mutter ganz außer sich vor Freude ist, als sie hört, dass Carter bei seiner wachen Mutter geblieben ist, sitze ich hinten auf dem Rücksitz und zerbreche ein klein wenig an der Traumblase, in der ich die letzten Tage gefangen war.

Wieso so naiv, Amanda?

Du hast es doch gewusst.

Ganz tief in deinem Inneren hast du gewusst, dass es so kommen wird und, dass ihr nicht für immer Haus an Haus lebt.

Ja, ich habe es gewusst.

Irgendwo.
Irgendwo tief in mir drin.

Aber manchmal will man die Realität nicht wahrhaben.

Manchmal ist das Träumen schöner, als das, was am nächsten Tag wirklich passiert.

In meinem Fall ist das Träumen weitaus schöner, als die Aussichten der Zukunft.

Wir haben uns nicht einmal verabschiedet!

Wir haben uns nicht einmal verabschieden können ...

Wir sind einfach auseinander gewissen worden.

Er war dort und ich war dort und jetzt ist er dort und ich bin hier.

Nein, mir geht es nicht gut.

Ich freue mich für ihn, aber ich bin unglücklich für mich.

Macht mich das zu einem schlechten Menschen?

Ja, vielleicht.

Aber ich kann nicht ändern, was ich empfinde.

Es überkommt mich einfach.

Und als wir dann zuhause sind, Kilian nach Hause gebracht haben und Dad unsere Koffer im Hausflur abgestellt hat, flitze ich nach oben, schmeiße mich auf mein Bett und lasse meine Maske fallen.

Lasse die Tränen kommen, lasse die Trauer meinen Körper ergreifen und den Selbsthass auf meinen Egoismus wie die Flut über mich schwallen.

Und ich kann das alles nicht kontrollieren.

Ich kann nicht kontrollieren, dass ich weine, meinen Kopf im Kissen vergrabe und laut zu schluchzen beginne, weil ich weiß, dass er jetzt nicht mehr hier ist.

Ich bin schwach und schlecht und ich weiß das alles, aber das macht es nur schlimmer.

Wieso kann ich nicht die Freundin zu ihm sein, die er verdient hat?

Wieso kann ich mich nicht so für ihn freuen, wie er es von mir erwarten kann?

Wieso ...?

x x x x

»Baby?«

Hm.

»Kann ich rein kommen, Motti?«
»Ja, können wir reinkommen, Motte?«

Ich höre die Tür.

Und dann senkt sich das Bett neben mir.

Eine warme Hand streichelt mir über den Rücken.

Mum.

Arme schlingen sich um meine Schulter und schmeißen sich auf mich.

Leo.

»Dad hat es erzählt. Er ist jetzt wohl erstmal wieder in England, was?«, seufzt Mum leise und streicht mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, um mein vom Weinen verquollenes Gesicht zu sehen.

Ich nicke verbittert.
Und dann weine ich wieder.

»Nicht weinen, Motte, Carti kommt doch wieder ...«

Kommt er das wirklich, Leo?

Und wenn, dann wann?

Wann kommt er wieder?

Ich nicke.
Sie ist vier.
Natürlich kommt er wieder.
Natürlich, meine kleine, liebe, unschuldige Schwester.

»Leo, magst du mal Morle holen?«, fragt Mum meine kleine Schwester, die kurz darauf eifrig nickt und aus meinem Zimmer stürmt, um den schwarzen Teufel zu holen.

Ich grinse schwach, als ich an meine Katze denke.
Und dann weine ich wieder, weil ich daran denken muss, wie oft sie mir Carter ausgespannt hat, weil sie ihn komischerweise von Anfang an gemocht hat.

»Och, du Arme«, seufzt Mum und zieht mich dann zu sich, dass ich mit dem Oberkörper in ihrem Schoß liege und sie mich vernünftig umarmen kann.

Schwach verkrieche ich mich im Stoff ihres Pullovers und weine mich weiter aus.

»Warum vermisse ich ihn denn schon jetzt, Mum? Das ist so armselig und peinlich.
Ich habe ihn doch gestern erst gesehen und er ist jetzt bestimmt glücklicher wie noch nie. Wieso bin ich das dann nicht auch?«

»So ist das, wenn man frisch verliebt ist. Man will jede Sekunde mit seinem Partner verbringen. Und die Aussicht auf eine lange Pause kann durchaus traurig machen. Mach dich nicht selbst schlecht, Liebes.«

Sie küsst mich auf die Stirn.

»Aber was ist, wenn wir uns jetzt gar nicht mehr sehen? Was, wenn wir uns jetzt nur noch in der Kamera sehen?
Was, wenn er jemand neues kennenlernt? Ich meine ... wir sind doch noch gar nicht lange zusammen und Fernbeziehungen halten sich meistens nicht!«

»Daran wollen wir gar nicht denken. Und, Motte, du spinnst dir da gerade eine Menge Quatsch in den Kopf. Carter ist nicht der Typ Mann, der sich jeden Tag in eine andere Frau verliebt. Und du weißt das ganz genau.
Hör auf schon jetzt an ihm zu zweifeln, das ist nicht richtig.«

Ich nicke.
Ich weiß das ja.
Aber man macht sich viele Gedanken, wenn man stundenlang allein auf dem Bett liegt und versauert.

»Außerdem ...«, sagt Mum und drückt mich ein wenig von sich, um eine Tüte neben dem Bett aufzuheben und mir zu überreichen.

»Ist Carter gar nicht so weit von dir entfernt, wie du denkst«, beendet sie ihren Satz, grinst dann verschwörerisch und verlässt das Zimmer, um mich mit der Tüte allein zu lassen.

Ich wische mir verwirrt die Tränen aus den Augen und richte mich dann ein wenig, um vernünftig auf dem Bett zu sitzen und die Tüte in Betracht zu nehmen.

Was soll das?
Und was meint sie damit?

Mir die Nase hochziehend und meine Haare aus dem Gesicht streichend, ziehe ich die Tüte näher an mich und stoße auf einen weißen Umschlag, der die Öffnung zusammen hält.

Vorsichtig ziehe ich das weiße Papier hervor und öffne den verklebten Briefumschlag, um eine Karte mit einer rosaroten Rose auf der Vorderseite vorzufinden.

»I'm always with you.
And I swear,
I won't leave,
till it's over.
I hope,
you always know.
That I'm here
with you –
shoulder to shoulder«

In geschwungener Carter-Schrift stehen die Zeilen unseres Liedes in der Karte und spenden mir einen leisen Trost, den ich niemals glaubte, zu bekommen.

Mit einem Mal sind die Tränen versiegt und die Schmetterlinge kriechen zurück aus ihren Verstecken und umschwirren mein Herz, das wieder einmal einen Takt zu schnell schlägt.

Die Karte beiseitelegend, die Neugier meine Glieder kontrollieren lassend, öffne ich ich die Tüte und staune nicht schlecht, als ich auf den kuschelweichen Stoff eines weißen Pullovers stoße, der in seiner Größe nur einer ganz bestimmten Person gehören kann.

»Du weißt, ich liebe ihn, aber, ich weiß, du liebst ihn mehr :)«, steht auf einer Haftnotiz mitten auf dem Baumwollstoff und mir huscht ein kleines Lächeln über die Lippen, als ich lese, was er da schreibt.

Er hat recht.
Ich liebe diesen Hoodie.
Aber hauptsächlich, weil er immer und für immer nach Carter riecht.

Mit einem Mal wieder (dämlich) fröhlich vergrabe ich den Pullover an meinem Gesicht und kann nicht glauben, dass ich auch nur einen Moment Zweifel an all dem gehegt habe.

Carter lässt mich wirklich total bescheuert neben ihm aussehen.

Denn er gibt sich so viel Mühe und ich habe nichts besseres zu tun, als um ihn zu heulen.

Oh, Mann, Amanda ...

Der Pullover ist längst nicht alles, was sich in der Tüte befindet.

Neben einem Jahresvorrat an unseren Lieblingssüßigkeiten, steht auf einem Notizzettel, dass er mir eine ganze Spotify-Playlist mit all unseren Lieblingssongs zusammengestellt hat.
Und am Boden der Tüte liegt in ein extra Papier verpackt eine weitere Überraschung.

Ein Bilderrahmen.
Mit einem gerahmten Bild von dessen Existenz ich nicht einmal wusste.

Carter und ich auf dem Sofa in Lilis Wohnzimmer.

Er und ich wie wir Kopf an Kopf, Körper an Körper in den albernen Jumpsuits auf dem Sofa liegen und einander festhalten.

»Damals habe ich auf den richtigen Moment gewartet.
Und er kam.
Jetzt warte ich auf den Tag, an dem wir uns wieder sehen.
Und er wird kommen.

Weißt du noch, als ich sagte, dass man von seinem ersten Kuss nicht spricht, sondern träumt?«

Ich nicke, als würde er wirklich vor mir stehen und mich das fragen.

Natürlich erinnere ich mich.

»Na ja, du muss dazu wissen, dass man über den letzten Kuss auch nicht spricht.
Und ich will, dass du mein letzter Kuss bist.«

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Adiós, amigos ... das ist zu viel für mich ... 💕

Bis bald ...

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