37 || UND PLÖTZLICH IST ALLES, WIE ES FRÜHER WAR


Carter

Der Geschichtswettbewerb ist glücklicherweise erst am späten Nachmittag des Freitags, weshalb wir nach dem aufregenden aber mehr als gelungenen Date mittags noch ein paar Stunden schlafen und essen können.

Es fühlt sich an, als seie eine riesige Tonne der Last von meinen Schultern gefallen und hätte mich frei gelassen, jetzt, wo ich Amanda endlich meine Gefühle gestanden und ihr gesagt habe, wie sehr ich sie liebe und schätze.

Ihr Lächeln will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, ihre Küsse wollen nicht aufhören auf meinen Lippen zu kribbeln und allgemein will sie nicht aufhören in diesem wunderschönen Kleid zu strahlen.

Sie ist so wundervoll.

Und jetzt gehört sie ganz offiziell zu mir.

Sie ist meine Freundin.

Sie ist meine Freundin.

Für das Finale ist eine der größten Veranstaltungshallen in London gebucht und heute wollen weder Torben und ich es uns nehmen lassen, Amanda und Kilian beim Quizzen zuzusehen.

Während die beiden um drei Uhr nachmittags bereits abgeholt wurden, fahren Torben und ich erst eine knappe halbe Stunde später mit einem Taxi los und lassen uns durch London transportieren.

Noch immer bin ich bei bester Laune, lächle wir ein Irrer aus dem Fenster des Taxis und kann nicht ermessen, wie stolz ich bin, ihr Freund sein zu dürfen.

Der gestrige Tag war wunderschön und hat mir so sehr gefallen, dass ich kaum mehr genug gute Erinnerungen haben kann.

Womit habe ich das alles bloß verdient?

»Ich freue mich für euch zwei«, unterbricht Torben die Stille mit einem Mal und sieht lächelnd zu mir hinüber.
Ich schaue ihn dankbar an.

»Ihr habt einander verdient«, fährt er fort und klopft mir ehrlich auf die Schulter.
»Und ich weiß, dass du ihr niemals das Herz brechen wirst. Ich vertraue dir ehrlich, Carter.«

Mir flattert das Herz davon.

Dass er das sagt, bedeutet mir unglaublich viel.

»Ich liebe sie. Ich kann und werde ihr niemals das Herz brechen«, bestätige ich seine Worte.

Denn ihr Herz ist meines.

x x x x

Die Halle ist vollgefüllt mit Eltern und Lehrern aus aller Welt, die sich die letzten Teams des Wettbewerbs ansehen.

Torben und ich sitzen ziemlich mittig nebeneinander und fiebern für unsere Freunde und Kinder.

Die bisher drangekommenen Teams waren stark und sind in sehr fixen Buzzerrunden von der Bühne gegangen. Es ist furchtbar spannend und ich kann es kaum mehr erwarten, dass Amanda und Kilian endlich dran sind.

»Sie kommen«, flüstert Torben, mindestens genauso gespannt wie ich, und reibt sich die Hände aneinander, als meine Freundin und ihr bester Freund tatsächlich auf die Bühne treten und sich hinter den kleinen weißen Stehtisch stellen auf dem der roten Buzzer angebracht ist.

Freundlich lächelnd schütteln sie dem Moderator zur Begrüßung die Hand, ehe sie einen Umschlag mit Fragen auswählen und noch einmal tief durchatmen.

Ich spüre Amandas Nervosität  aus der Ferne. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, so wie am Mittwoch schon. Ich versuche ihren Blick einzufangen, versuche ihr irgendwie klarzumachen, dass alles gut ist und gerade als ich glaube, sie würde gar nicht nach mir Ausschau halten, fliegt ihr Blick zu mir und verschlingt mich.

Ich lege eine Hand auf mein Herz. Dann forme ich mit meinen Lippen ein: »Beruhige dich. Ich bin stolz auf dich!« und kann förmlich sehen, wie ein wenig der dicken Luft sich klärt.

Unmittelbar danach geht es auch für meine Freunde los und egal wie stark die Teams zuvor auch waren, gegen meine holländischen Kumpanen kann niemand etwas anrichten.

Wie Maschinen hauen sie eine richtige Antwort nach der anderen heraus und gehen mit einer Bestzeit von der Bühne.
Wir applaudieren tosend und ich kann nicht ermessen, wie stolz ich auf dieses Mädchen bin!

Sie und Lili sind und waren einfach klasse! Unglaublich!

Ganz im Hochgefühl und Jubel versunken, bemerke ich erst nach einigen Sekunden das unruhige Vibrieren meines Handys.
Verwundert zücke ich es aus meiner Hosentasche und sehe wie erstarrt auf den Bildschirm.

Doktor Fisher.

Der behandelnde Arzt meiner Mutter.

Mir rutscht das Herz in die Hose. Ganz plötzlich liegen mein Kopf und mein Körper auf erstarrtem Glatteis und ich bin für einige Sekunden nicht fähig, irgendetwas zu tun.

Warum ruft er mich an?

Es gibt nur zwei Optionen.

Zwei Optionen, die fähig sind, mir mein altes Leben zurückzugeben oder das Leben an sich für immer zu zerstören.
Zwei Optionen, die in zwei völlig verschiedene Richtungen gehen, die mich in den Himmel oder in die Hölle tragen, die mich aufbauen oder zerfetzen können.

Vor Nervosität beginnen meine Hände zu schwitzen, es rauscht in meinen Ohren und ich spüre, wie mein Körper zu zittern beginnt, so ängstlich und überfordert bin ich mit der Situation.

Das Handy in meiner Hand will nicht aufhören zu vibrieren. Immer wieder surrt es erneut vor sich hin und schreit mich an, abzunehmen, während es im selben Moment ruft, es lieber nicht zu tun.

Ich bin zerrissen, bekomme einen Moment keine Luft mehr. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und will mich nicht in Ruhe lassen.

Was ist mit meiner Mutter?

Will ich das wirklich wissen?

»Du solltest rangehen«, kommt es plötzlich von rechts und Torben nickt mir aufmunternd zu.
Ich schaue ihn erstarrt an. Bin unfähig etwas zu sagen oder zu tun.
Er lächelt leicht.

»Es wird sich alles verändern, egal, ob du jetzt abnimmst oder später. Schieb es nicht vor dir her, Carter.«

Er nickt mir zu und erhebt sich dann, um nach draußen zu gehen. Ich folge ihm wie erstarrt, lasse Amanda und den Wettbewerb hinter mir und setze mich draußen neben Torben auf eine Bank, das Handy noch immer vibrierend in der Hand.

Zittrig atme ich ein.
Dann kneife ich mir in mein Handgelenk und nehme trotz der schrecklichen und plötzlich aufkommenden Bauchschmerzen den Anruf entgegen.

»Lewis?«

»Hallo, Carter! Endlich erreiche ich dich!«, tönt die Stimme des Arztes erleichtert in meine Ohren und eine Welle der Hoffnung strömt durch meinen Körper, als ich die relativ frohe und entspannte Stimme des Arztes höre.

»Was ist denn passiert? Ist etwas mit meiner Mutter?«

Eine dämliche Frage.
Natürlich ist etwas mit ihr.
Natürlich geht es um sie.

Ich beiße mir nervös auf die Unterlippe.

»Allerdings! Sie hat heute morgen begonnen ihre Hände zu bewegen und ist vor wenigen Minuten aufgewacht. Du solltest schnell ins Krankenhaus kommen!«

Es rauscht in meinen Ohren und die Worte überschlagen sich in meinem Kopf, dass ich erst, als ich aufgelegt habe, wirklich realisieren kann, was Fisher gesagt hat.

Sie ist aufgewacht!
Ha! Sie ist aufgewacht!
Sie ist wieder wach!

Vom Blitz getroffen erhebe ich mich aus meiner Sitzposition und stoße voller Überraschung und Unglauben die Luft aus, ehe ich mich fassungslos zu Torben umdrehe und mich in nächster Sekunde in seine Arme werfe.

Mir ist scheißegal, dass er der Vater meiner Freundin ist.
Mir ist scheißegal, was er von mir denkt und wie verrückt ich auf ihn wirken muss.

Ich sehe nur den Wasserfall des Glücks, der mich von Kopf bis oben befällt und freudig ausrufen lässt, was sich in Dauerschleife in meinem Kopf wiederholt.

»Sie ist aufgewacht!«, keuche ich und stoße dann einen lachenden Laut aus.
»Sie ist wieder wach!«
Ich lache. Ja, immer lauter kommt mir ein Lachen über die Lippen, bis ich laut juble.

Torben drückt mich an sich.
Er lacht auch.

Und er sah nie erleichterter aus.

»Worauf wartest du dann noch, Junge? Na los, geh schon zu ihr!«

Er drückt mich von sich und schubst mich in Richtung der Straße, wohlwissend, dass ich keine Sekunde länger mehr warten könnte.

In mir ist alles ausgeschaltet.
Ich habe vergessen, wo ich mich befinde, habe vergessen, was zuvor noch Sache war.

In meinen Gedanken ist nur meine Mutter und meine unendliche Erleichterung.

Die Taxifahrt scheint mir Stunden zu dauern.
Unruhig rutsche ich auf dem Rücksitz hin und her und starre aus dem Fenster.
Als das Auto dann endlich vor dem Krankenhaus anhält, bin ich wie von Sinnen.

Mich nicht kümmernd, schmeiße ich dem Fahrer einen Schein in den Schoß und springe dann aus dem Wagen nur um direkt loszusprinten und mit viel zu hoher Geschwindigkeit den Eingang zu passieren.

In mir schaltet alles ab.
Ich habe nur mein Ziel vor Augen und will es erreichen.

Ich will nur noch zu meiner Mutter, sie sehen, sie berühren und nie wieder vermissen müssen.

Jeden Tag, den ich sie vermisst habe, will ich jetzt zurückholen, will ich vergessen und nie wieder im Kopf haben.

Die Leute schütteln den Kopf, als ich sie umrenne, aber sie sind mir ebenfalls egal.

Denn für mich zählt nur meine Mutter und die Tatsache, dass sie wohlauf zu sein scheint, wenn man den Worten des Arztes vertrauen kann.

Immer drei Stufen auf einmal nehmend, laufe ich die Treppe in das Stockwerk ihres Zimmers hinauf und renne durch den Flur bis zu ihrer Tür nur um nach der letzten Ecke einen rasanten Halt zu machen und mir aufs Herz zu fassen.

Ich habe mir diesen Tag oft vorgestellt und er war gut.
Die Vorstellung dieses Tages war gut.

Aber die Realität ist besser.
Sie ist viel, viel besser.

Ihre braunen Haare sind so zerzaust wie immer, wenn sie mit der Hand durch ihre Strähnen fährt.
Ihre Lachfalten sind nicht länger von Kabeln bedeckt und ich kann sogar die kleinen Sommersprossen erkennen, weil sie nicht länger an wilde Maschinen angeschlossen und beatmet wird.

Aufrecht sitzt sie in ihrem Bett und wird von zwei Schwestern durch den Flur geschoben, vermutlich um das Zimmer zu wechseln.

Ich bin unendlich erleichtert, spüre mein Herz aufgeregt und wild nach ihr schreien und bin im nächsten Moment ganz in ihrer Nähe.

Sie trägt ein Lächeln auf den Lippen.

Mir steigen die Tränen in die Augen, als ich es sehe.

Aber dieses Mal weine ich aus Glück.
Ich weine vor Freude und aus purer Liebe.

Und sie tut es mir gleich.

Sie weint ebenfalls vor Freude, als sie mich erblickt und im nächsten Moment die Arme nach mir ausstreckt.

»Mein Baby!«, flüstert sie erstickt und lässt die Krankenschwestern innehalten, als sie mich bemerken.

Ich spüre meine Lippe zittern, hasse mich dafür, dass ich ständig weinen muss und will es in derselben Sekunde nicht ändern, weil sie meine Mum ist und sie mich jederzeit weinen sehen und wissen darf, wie unendlich dolle ich sie vermisst habe.

Schluchzend beuge ich mich zu ihr hinunter und lasse mich von ihr in den Arm nehmen, wie sie es immer schon getan hat, wenn ich traurig war.

Ihr vertrauter Geruch kommt mir mit einem Hauch von Krankenhaussterilität entgegen, aber mich kümmert das alles nicht.

Ich kann mich nur freuen, dass sie noch immer nach meiner Mutter klingt, dass sie nach ihr riecht und auch endlich wieder die richtige Körpertemperatur hat.

»Ich habe dich so vermisst!«, hauche ich leise und spüre, wie sie mich noch enger an sich zieht.

»Und ich dich erst, Carter!«

Sie küsst mich auf die Wange.

»Und ich dich erst.«

Wir halten uns eine Ewigkeit in den Armen.
Erst durch die Krankenschwestern, die sie und das Bett auf eine andere Station bringen wollen, wird unsere Umarmung getrennt.

Ich klammere mich an ihre Hand, während wir mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk tiefer fahren und sie auf einer normalen Station ein Zimmer bekommt.

Als die Schwestern endlich verschwinden, lasse ich es mir nicht nehmen, mich wieder an sie zu schmiegen.

Mir ist es egal, wie weich mich der Moment macht.

Ich bin von Natur aus sehr emotional.
Aber das stört mich nicht.

»Ich war wohl sehr lange weg, was?«, fragt Mum, als wir endlich allein sind.

Ich lächle und nicke.
Aber all die Zeit des Leids scheint mir mit einem Mal nur halb so schlimm, beinahe schon vergessen.

Es zählt nur noch das jetzt.
Und das jetzt ist gut.

»Viel zu lange, Mum, aber das tut nichts zur Sache. Alles, was zählt, ist, dass du wieder bei mir bist.«

»Das werde ich immer sein, mein Schatz!«

Sie sieht mich ernst an und drückt dann meine Hand.

Ich küsse ihr den Handrücken, dann umarme ich sie ein zweites Mal.

»Nun musst du mir aber mal erzählen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Wie war es in Holland, wie kommst du hierher und was ist mit dem Mädchen, das du kennengelernt hast?«

Ich lächle.

Und dann beginne ich von Amanda zu erzählen und davon, wie toll sie ist.

Und dann ist es plötzlich, als wäre meine Mutter nie weg gewesen.

Wir führen unsere Gespräche einfach dort weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben.

Nur dieses Mal sind wir vereint.
Und das von Angesicht zu Angesicht.
Nicht mehr per Telefon.

»Sie heißt Amanda ...«

—————

Tatatata ...!

So langsam fügt sich alles zusammen, was?

Carters Mutter ist am Leben und er hat sie endlich wieder.

Aber ist jetzt wirklich wieder alles gut?

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