30|| HEISSER ... FUSSBALL
Amanda
Es ist Donnerstag.
Donnerstag und von Carter fehlt jede Spur.
Er ist die ganze Woche über nicht in die Schule gekommen.
Kein Handkuss am Morgen, kein Rosie, keinen seiner charmanten Witze, keine seiner Lehren, keine Träne mehr, aber auch keines seiner ansteckenden Lachen.
Es ist einfach ruhig.
Ruhiger.
Ruhiger, als jemals zuvor.
Es ist lächerlich, zu sagen, dass das Leben ohne Carter komplett verdreht ist.
So ist es nicht.
Denn Carter ist auch nur ein Mensch, nur ein Schüler, und nach so kurzer Zeit bestimmt nicht der Kern des Lebens.
Irgendwie geht es weiter.
Irgendwie tut es das immer und er ist ja nicht für Ewigkeiten aus der Welt gestrichen, bloß für diese Woche.
Trotzdem traue ich mich zu sagen, dass der Alltag ein anderer ist und das ein wichtiger Mensch in seinen Fugen fehlt.
Ich habe Carter, seit ich ihn im Wohnzimmer mit seiner Großmutter allein gelassen habe, nicht mehr gesehen.
Das Haus von Miss Stevens ist wie ausgestorben.
Gardinen hängen vor den Fenstern – vor Carters Fenster –, der Briefkasten wird nicht geleert, niemand verlässt das Haus und auch am Fenster sehe ich nie jemanden stehen.
Dass er zuhause ist, weiß ich.
Meine Mutter kocht für Melania und ihren Enkel Essen und scheint auch das ein oder andere Wort mit ihnen gewechselt zu haben.
Aber außer der Tatsache, dass es ihm schlecht geht und er Zeit braucht, ist aus ihr nicht viel herauszubekommen.
Ich weiß das alles natürlich.
Man kann es sich denken.
Trotzdem bin ich von der schlagartigen Distanz verletzt und fühle einen leichten Schlag der Zurückweisung.
Die Schule macht es mir auch nicht leichter.
Immer wieder sprechen mich Cilia und ihre Kumpanen an und wollen wissen, wo Carter ist, wann er wiederkommt und was er denn hat.
So dreist wie sie sind, haben sie mir sogar unterstellt, dass ich ihm ihre Telefonnummern nicht mal überreicht habe und er sie doch sonst sofort angeschrieben hätte.
Ich kann nur immer wieder mit den Augen rollen und ermüdet den Kopf schütteln, weil ich vor lauter Lächerlichkeit und Genervtheit nicht mehr weiter weiß.
Ist es das, was Carter den ganzen Tag ertragen muss?
Dass ständig jemand seinen Namen ruft, ihm hinterherläuft, ihn betatscht und etwas von ihm will?
All diese Mädchen?
All diese Jungen?
Sogar die Lehrer, die so entzückt von seinem britischen Akzent, seiner Fußballkunst und dem Selbstbewusstsein sind?
Es ist immer wieder, als würde mir jemand die Augen öffnen und mir zurufen: »Hier! Schau hierher! Siehst du, was er durchmachen muss? Siehst du, wie anstrengend das ist, wenn man angehimmelt wird und die Welt dir diese Erwartungen anhängt, denen du dich annehmen und dafür immer stark sein musst? Siehst du, wie ermüdend das ist? Wie kräftezehrend das ist?«
Carter ist kein Promi, nur ein netter Kerl, der gut zu jedem ist.
Aber sogar auf dieser verhältnismäßig kleinen Persönlichkeit lastet so viel und niemand bemerkt, wie anstrengend das ist.
Niemand ist rücksichtsvoll, wirklich ehrlich oder menschlich genug, es einfach ruhen zu lassen.
Alle denken sie an sich und handeln für sich, benutzen, um ihr Ziel zu erreichen, den guten Glauben einer ehrlichen Person.
Wie fühlen sich erst berühmte Sänger, Schauspieler oder Fußballer?
Solche Menschen, die in den Medien hoch- und runtergenommen werden, die immer perfekt scheinen müssen und die kaum ein Privatleben haben, weil an jeder Ecke Fotografen, Moderatoren und die nervige Publik kleben?
Ich kann mir das alles kaum vorstellen.
Aber ich sehe jetzt mit eigenen Augen, dass all dieses Aufsehen, dieses Anhimmeln und dieser Ruhm nichts wirklich lebenswertes ist.
Ich sehe ein, dass Carter vor Menschen wie Cilia lieber wegrennt, als sie um sich zu haben.
Ich sehe ein, dass er die Ruhe eines Dorfes neben dem Krach der Großstadt genießt.
Ich sehe ein, dass man in seiner Position irgendwann an den Zeitpunkt gelangt, an dem einem alles zu viel ist und an dem man weint und davonläuft und sich zurückzieht.
Genau dieser Zeitpunkt ist jetzt.
Genau jetzt.
Jetzt, wo sich zeigt, dass das Leben auch zu den angesehenen, den Menschen, die man als Idol und besonders bezeichnet, hart ist und auch sie mal weinen und ahnungslos und schwach und unperfekt sind.
Menschen eben.
x x x x
»Glaubst du, dass Carter noch kommt?«, fragt mich Cleo und lässt ihren Blick, genau wie ich, über die Tribünen und das Feld gleiten, um nach dem Lockenkopf Ausschau zu halten.
»Ich weiß es nicht«, seufze ich und zucke mit den Schultern.
Es ist Donnerstagnachmittag und das Fußballfeld hinter der Schule proppenvoll mit Eltern, Schülern und Lehrern, die dem Fußballturnier unserer Schule gegen die Nachbargymnasien und Gesamtschulen entgegenfiebern.
Die letzten Wochen haben Lili und Carter von nichts anderem geschwärmt und gesprochen.
Fast jeden zweiten Tag sind sie zusammen trainieren und joggen gegangen.
Unsere Fußballmannschaft hat schon seit Jahren kein Turnier mehr gewonnen und wir waren immerzu leicht besiegbare Beute für unsere Gegner.
Mit Carter hat unsere Mannschaft nach Tom Amstong, einem Abiturienten von vor zwei Jahren, dem letzten Fußballsternchen unserer Schule, einen ziemlich leistungsstarken und erfahrenen Spieler gewonnen.
Noch aber ist er nirgendwo zu sehen und es scheint offen gesagt auch nicht, als würde er noch kommen.
Unsere Mannschaft steht lustlos und motivationslos am Spielfeldrand und scharrt mit den Füßen, während die letzten Minuten vor Spielbeginn vergehen und Carter nicht auftaucht.
Die ersten Gegner sind stark.
Die letzten Spiele haben wir haushoch gegen sie verloren und das stets zu Kilians Wut und Frust.
Er ist nicht gut auf seine Gegenspieler zu sprechen, würde einem von ihnen am liebsten die Arroganz aus dem Gesicht spielen, aber bis jetzt ist daraus nichts geworden.
Ich beobachte das Spielfeld mit starrer Miene.
Ich sehe jeden einzelnen unserer Spieler und könnte den Kopf schütteln.
Wie hat Carter es geschafft, dass sie alle sich an ihn klammern, wie Ertrinkende an einen Rettungsring?
Wie ist das möglich und wie soll man es schaffen, diese Menschen nicht zu enttäuschen, obwohl man auch nur einer von ihnen ist, den das Leben spurt?
Es ist gar unmöglich, das sehe ich selbst.
Und es ist natürlich nicht falsch, sich einzugestehen, mit einem besseren Spieler auch ein besseres Spiel haben zu können, aber wie schwer ist das für diesen einen, angeblich besseren, Spieler?
Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht.
Nicht nur wegen Carter, denn es ist nicht richtig, plötzlich, weil es einen nun selbst betrifft, nachzudenken und vorher nie.
Aber ich habe nachgedacht und genauer hingesehen, durch Erfahrungen und Fehler, die ich gemacht und aus denen ich gelernt habe.
Und plötzlich liegt mein Fokus
auf anderen Dingen.
Plötzlich wird mir das ein oder andere klarer und plötzlich spürt man sogar, wie kostbar dieses eine Leben ist und wie wertlos wir es behandeln.
Das Pfeifen des Schiedsrichters startet das Spiel.
Lili ist die Nummer fünf und spielt im Mittelfeld.
Ein weißes Trikot liegt um seinen Körper und kontrastiert seine Gegner, die schwarz gekleidet sind.
In den ersten Spielminuten kann unsere Mannschaft mühelos standhalten und einige gute Schüsse abpassen und in Richtung des gegnerischen Tores bringen, aber man sieht die Spielkraft der schwarz-gekleideten Spieler, die im Gesamtbild dominieren.
Trostlos sehen wir die erste Halbzeit dabei zu, wie unser Team sich überrennen lässt und kaum ist das erste Gegentor gefallen, gibt es kaum ein Halten mehr.
Die schwarzen Trikots rasen über das Feld und passen sich die Bälle zu, während unsere Spieler sich gehen lassen und den Mut schon wieder verloren zu haben scheinen.
Mit verzogenen Mienen starrt unsere Schule auf den Punktestand der Anzeigetafel, der uns böse anzulächeln scheint.
»Armer, Kilian, er hat sich so auf dieses Match mit Carter gefreut«, murmelt Cleo mitfühlend, als es zur Halbzeit pfeift und Kilian mit seinen Mitspielern und einem Rückstand von drei zu null den Platz verlässt.
Ich nicke leidig, denn sie hat recht. Kilian hat so viel Spaß beim Training gehabt, wie lange nicht mehr.
Carter ist ihm als guter Freund – so wie uns allen – sehr wichtig geworden.
In der zweiten Halbzeit scheint der Mut allgemein gesunken zu sein.
Die Zuschauer um uns herum haben kläglicher Weise ihre Plakate abgenommen und jubeln längst nicht mehr so laut, wie noch zu Anfang.
Mit einem Piff ertönt das Zeichen der zweiten Spielzeit und unsere Spieler treten zurück aufs Spielfeld.
Kilian lässt ein wenig enttäuscht die Schultern sacken und wendet genervt seinen Blick von den protzigen Gegenspielern ab, die mit schadenfrohen und eingebildeten Gesichtern über das Feld tänzeln und sich etwas dehnen.
Coach Flicker steht mit ernster und monotoner Miene am Spielrand und versucht die Laune zu heben und Motivation zu machen, aber wirklich aufbauende Worte scheint er mit so einem Punktverlust nicht machen zu können.
Langsam laufen die weißen Trikots wieder ein, wappnen sich einer ähnlichen Spielphase wie der letzten, bis jemand von den Umkleiden plötzlich: »Teambesprechung!«, ruft und damit die Aufmerksamkeit aller auf sich lenkt.
Er joggt aus den Türen unserer Umkleiden, hat roterwärmte Wangen und zieht sich das weiße Trikot über, während er läuft.
Er ist blasser als sonst, aber seine braungebrannte Haut dominiert noch immer an seinem so hübschen Körper.
Um die langen Locken zurückzuhalten, hat er ein weißes Stirnband aufgesetzt, wie immer trägt er seine Ringe an den Fingern und auch sonst scheint nichts an seiner Haltung ermüdet, traurig oder erschöpft.
Im Gegenteil.
Seine selbstbewusste Maske lacht uns Zuschauern entgegen und er läuft so selbstsicher und elegant, das wirklich jeder ihn anstarren muss.
Cleo neben mir quietscht erfreut.
»Da ist unser charmanter Traumprinz, was, Motti? Jetzt treten wir diesen eingebildeten Gymnasiasten mal so richtig in den Hintern!«
Sie ist sofort Feuer und Flamme, während ich noch damit klarkommen muss, dass er wirklich da ist.
Hat er Nachricht bekommen, dass es seiner Mutter besser geht?
Hat das Krankenhaus sich gemeldet und sie ist aufgewacht?
Oder versucht er wieder für alle stark zu sein?
Carter läuft geradewegs zum Schiedsrichter und beginnt mit ihm zu reden.
Ich kann nicht hören, was sie sagen, aber er scheint ein Recht auszuspielen und zwei Sekunden später verlängert sich die Pause um ein paar Minuten um Spieltaktiken nochmal durchzugehen.
Unsere Gegner scheinen darin keinen Sinn zu sehen.
Aber von ihren dämlichen Sprüchen oder der hämischen Mimik, von wegen wir hätten doch sowieso schon verloren, lässt Carter sich nicht blenden.
Er geht zurück zu unserer Mannschaft, lässt sich vom Coach auf die Schulter klopfen und ruft dann seine Kameraden zusammen.
In einem kleinen Kreis stehen sie beisammen und reden sich zu, ehe sie sich trennen und auf dem Spielfeld platzieren.
Ich kann nicht sagen, was es ist, aber als Carter sich vorne an der Mittelfeldlinie platziert, scheint das Spiel ein anderes zu sein.
Die Gesichter unseres Teams sind starr und neutral.
In keinem kann man mehr sehen, dass sie enttäuscht und niedergeschlagen sind.
Auch ihre Haltung ist aufrechter und gängiger. Sie sind undurchsichtig und das scheint auch unseren Gegnern aufzufallen.
Das Spiel geht weiter, aber dieses Mal schwebt Hoffnung und Willenskraft in der Luft und die weißen Trikots ergreifen endlich ihre Chance.
Dass Carter Fußballspielen kann, wird schon nach den ersten Spielminuten klar. Er ist größer als so mancher seiner Gegner und trotz seiner muskulösen und breiten Statur ist er wendig und flink und bringt den Ball nach vorne.
Die Menge tobt, als nach ein paar Umgehungen und Pässen der erste Ball im Tor liegt und wir aufholen.
Die kreischenden Mädchen reißen ihre bunten Plakate mit den Namen der Spieler – zumeist dem von Carter – in die Luft, Eltern rufen die Namen ihrer Kinder und Cleo und ich stehen einfach auf und jubeln für unsere Freunde.
Das erste Spiel nimmt eine drastische Wende und Kilian und Carter sind unschlagbar zusammen. Man sieht deutlich, dass sie trainiert haben, dass sie Spaß und Leidenschaft für das Spiel und ihr Team aufbringen und dieses Mal gewinnen wollen.
Ich sehe unsere Mannschaft förmlich aufgehen. Tor um Tor holen wir die verlorenen Punkte auf und gehen zufrieden mit einem vier zu drei vom Spielfeld ganz zum Unglauben unserer Nachbarschule.
Die nächsten zwei Spiele verlaufen ähnlich.
Unsere Schule jubiliert wie lange nicht mehr und ich bin beinahe heiser, so laut rufe ich meinen besten Freunden hinterher und freue mich für sie.
Am Ende des Tages haben wir tatsächlich seit zwei Jahren ein vollständiges Turnier gewonnen und das ist so unglaublich, das unser Team ausgelassener denn je feiert.
Kaum pfeift der Schiri das letzte Spiel ab, springen sich die Jungen gegenseitig auf den Rücken und reißen sich lachend und freudig zu Boden.
Coach Flicker steht mit hochrotem Kopf am Spielfeldrand und starrt auf den Punktstand, während er die Arme wild in der Luft schwenkt.
Wir Zuschauer springen über die Bande und laufen über den Rasen zu unseren Freunden oder Verwandten, die verschwitzt und glücklich immer noch miteinander feiern.
Cleo und ich halten uns ein wenig zurück. Wesentlich langsamer machen wir uns auf den Weg zu unseren Freunden, um ihnen unseren Glückwunsch auszusprechen.
Kilian liegt mittlerweile mit weit ausgestreckten Beinen und Armen auf dem Spielrasen und kippt sich Wasser aus einer blauen Trinkflasche in sein puterrotes Gesicht. Stolz grinst er gen Himmel.
Cleo steuert direkt auf ihn zu, während ich nach Carter Ausschau halte, der mir mit dem Tosen des Publikums irgendwie verloren gegangen ist.
Cleo schmeißt sich bei Lili angekommen ohne Vorwarnung auf dessen Oberkörper. Er stöhnt schmerzvoll auf, während er gleichzeitig laut loslachen muss und sich nicht von seiner guten Laune abbringen lässt.
Die beiden kabbeln spaßhaft ein wenig umher, während ich endlich Carter entdecke, der bei dem Versuch, in unsere Nähe zu kommen kläglich scheitert.
In Scharen tummeln sich Mädchen aus unserer Schule und den umliegenden Dörfern um ihn und bedrängen ihn mit schmeichelhaften Worten und Blicken.
Ich kann sie aus weiter Entfernung schmachten und schleimen und Carter sichtlich überfordert kraftlos zusammensacken sehen.
Aus näherer Ferne lässt sich seine Erschöpfung doch ansehen. Er hat tiefe Augenringe in seinem blassen Gesicht, seine Augen wirken leicht verquollen und generell ist er nicht ganz bei der Sache. Ihm scheint jegliche Kraft zu fehlen, gegen all die himmelnden Mädchen anzukommen und sich Ruhe zu suchen.
Ich werde an eine Situation von gut einer Woche zurückerinnert.
Carter und ich beim Einkaufen, Jessica und Cilia, die mich zurückgedrängt haben und nicht zuletzt Carters Flucht vor ihnen.
»Kennst du die beiden? Sie verfolgen mich in der Schule auf Schritt und Tritt und, Mann, ich glaube, sie verstehen nicht, dass ich kein Interesse an ihnen habe!«
»Tut mir leid für die Verzögerung! Manchmal verfluche ich mich dafür, dass ich so ungern Streit und schlechte Stimmung habe und mich nicht von Anfang an klar ausdrücken kann. Irgendwie komme ich dann immer in so prekäre Situationen wie gerade eben und weiß mir nicht schnell genug zu helfen.«
Und da ist auch die Sache mit den Handynummern und mein kleiner Eifersuchtsanfall und seine Reaktion darauf.
»Ich will nicht, dass mir irgendwelche fremden Mädchen hinterherrennen, Rosie.
Ich will ihre Handynummern nicht.
Ich will sie auch nicht anrufen oder mich auf einer falschen Ebene mit ihnen unterhalten.
Am allerwenigsten will ich, dass du sauer bist oder diese Zettel an mich überlieferst.
Du hast recht. Du bist kein Flittchen-Lieferant und auch, wenn ich das anders formuliert hätte, triffst du es damit genau auf den Punkt. Ich werde diesen Mädchen nicht schreiben. Sie sind mir vollkommen egal. Sie bedeuten mir nichts.
Aber du schon. Du bedeutest mir eine Menge und ich will nicht, dass du sauer bist. Es tut mir leid, was diese Mädchen gemacht haben. Ich werde das klären. Dich wird niemand mehr derartig benutzen. Dafür sorge ich schon, und wenn sie es trotzdem nicht verstehen, dann kannst du sie getrost in den Wind schießen und ihnen den Zettel in der Luft zerreißen. Ich habe kein Interesse.«
Ich habe kein Interesse.
Er hat kein Interesse.
Anders als all die Male zuvor bin ich heute nicht mehr die Amanda von all den Malen zuvor.
Ich bin die Amanda von heute und die Amanda von heute lässt sich nicht länger einschüchtern oder niedertreten oder belächeln.
Die Amanda von heute weiß es besser.
Sie weiß, dass einer ihrer Freunde Hilfe braucht, dass er die Kraft eines anderen braucht und das ich dieser jemand bin.
Carter will keine belanglosen Gespräche führen oder hören wie perfekt er ist.
Er möchte seine Ruhe von Fremden, die ihn betatschen und bedrängen und überfordern.
Entschlossen setze ich einen Fuß vor den anderen.
Schnurstracks überquere ich die letzten Meter zwischen uns. Durch mein Blut fließt stolze und selbstbewusste Energie und ich bin festentschlossen, die Nervensägen ein für allemal in den Wind zu schießen, so wie Carter es selbst gesagt hat.
Durch die Meute durchzudringen ist schwerer als gedacht. Die Schlangen umringen ihn wie Raubvögel.
Ich quetsche mich unter den verliebten Seufzern und Komplimenten her und schubse hin und wieder achtlos die Mädchen aus dem Weg, die kein Schamgefühl zu besitzen scheinen.
Vor lauter Redegewirr kann ich Carter nur stottern hören, weil ihn niemand recht zu Wort kommen lässt.
Er ist verschwitzt von oben bis unten. Von seinen Locken tropft der Schweiß und glänzt auf seinen Wangen und dem Hals. Selbst auf seinen Wimpern fangen sich Schweißperlen und glitzern im Sonnenlicht.
Sogar in diesem Ausnahmezustand sieht er unwiderstehlich aus.
Es ist ein merkwürdiges Wunder, wie fassettenreich dieser junge Mann ist.
Von außen scheint er stolz und selbstbewusst und unnahbar. Er ist klug und sportlich und dazu ein ziemlich hübscher Mann, von dem man vom Äußeren her niemals sehen würde, wie weich und bodenständig und emotional sein Inneres doch ist, wie verletzlich er sein kann und wie oft er sich doch einfach nur verstellt.
Carter ist das perfekte Beispiel für jemanden, den man von außen nicht beurteilen kann, denn nur wenn man ihn richtig kennt, kann man sagen, dass man ihn wirklich sieht.
Ich sehe dich, Carter!
Ich kämpfe mich weiter nach vorne, bis ich endlich neben Carter steht, der mich aus lauter Überforderung noch gar nicht zu bemerken scheint.
Ich recke mein Kinn in die Höhe, ehe ich fest entschlossen nach seiner Hand greife und sie mit meiner verschränke.
»Dass ihr alle euch nicht schämt! Seht ihr nicht, dass es auch Menschen gibt, die kein Interesse an euch zeigen und die ihr mit eurem Gedränge einfach nur belästigt? Wir armselig, dass ihr alle euch hier versammelt und herumstolziert, denn ich muss euch sagen, dass das Schauspiel hiermit beendet ist. Geht nach Hause und sucht nach eurer Würde! Hier werdet ihr sie nicht finden!«, wüte ich los und drücke Carters Hand fester, um ihn nicht zuletzt hinter mir her an den fassungslosen Gesichter vorbeizuführen.
Ich kann sein Gesicht nur aus dem Augenwinkel sehen.
Sein Mund steht leicht offen, aber er scheint kaum zu realisieren, was mit ihm geschieht oder was er sagt.
Ohne Gegenwehr lässt er mich ziehen.
In mir brodelt es.
In mir brodelt alles auf.
Der Frust der letzten Wochen, die Ungerechtigkeit und die Tränen.
Ich brauche Luft und mit diesen Worten kommt endlich das Gefühl der Genugtuung.
Ich ziehe Carter einfach davon. Ich höre die Mädchen empört nach Luft schnappen, aber das ist mir egal.
Auf halben Weg halte ich dann doch noch einmal inne und drehe mich um.
Mein Temperament geht mit mir durch und ich bin nicht sicher, aus welchen Gründen ich noch etwas hinzufüge oder ob ich es später bereuen werde, aber meine Zunge ist schneller als mein Kopf.
»Ach, und übrigens, hört auf, euch an vergebene Männer 'ranzumachen! Das ist nicht mehr als armselig!«
Ungerührt setze ich meinen Weg fort.
Erst als wir endlich auch bei Cleo und Kilian ankommen, bemerke ich, wie laut ich überhaupt gesprochen habe.
Beinahe ruckartig vereist das Temperament in mir und ich bekomme rote Wangen, als ich die offenen Münder des ein oder anderen sehe, der mir nachsieht.
Peinlich berührt traue ich mich nicht, Carter ins Gesicht zu sehen.
Was er wohl gerade denkt?
Scheiße, was habe ich da nur gesagt?
Er muss mich für vollkommen unmöglich halten.
Er ist ja nicht mal vergeben!
Wir sind nicht zusammen ...
»Mensch, Motte, denen hast du's gezeigt!«, lacht Kilian plötzlich in die peinliche Stille und sieht anerkennend von dem empörten Grüppchen Weintrauben zu mir.
»Allerdings! Aber das haben sie auch nicht anders verdient, jetzt wissen sie wenigstens, was Sache ist«, pflichtet Cleo mir bei und zwinkert mir scherzhaft zu, dass ich wenn möglich noch röter werde.
»Ich ... Ähm ... Also ... Was ich da gesagt habe, das ... Also das war nicht ...«
Ich weiß nicht, was ich sagen kann oder soll.
Da ist Carter ein paar Tage weg und küsst mich zuvor und schon behaupte ich, er sei vergeben.
Natürlich ist er das nicht und falls er doch eines der Mädchen gut fand, dann ...
Die Zweifel kehren zurück und mein Selbstbewusstsein schrumpft mal wieder in sich zusammen.
Ich kann Carter nicht in die Augen sehen, weiß nicht, was er jetzt denkt, oder ob er diese scheinbare Eifersuchtsattacke als unangenehm und kindisch empfindet.
Nervös scharre ich mit dem Fuß, sehe zu Boden und stottere so lange vor mich hin, bis sich urplötzlich zwei Arme um mich schlingen und ich mit dem Rücken an eine muskulöse Brust gedrückt werde.
Carters Hände liegen warm auf dem dünnen Stoff meines T-Shirts und er hält mich so nahe an sich, dass ich erschrocken zusammenzucke.
Carter riecht nach Schweiß und Sport. Trotzdem entspanne ich mich mehr, als das ich geekelt bin.
Seine Nähe raubt mir den Atem. Mein Herz schlägt ein paar Purzelbäume und ich ersticke beinahe, als ich seinen erhitzen Atem an meinem Ohr spüre und er sich von hinten zu mir hinabbeugt.
»Du bist ziemlich heiß, wenn du eifersüchtig bist, meine Rosie!«, flüstert er frech und ich kann sein Grinsen spüren, während er sich wieder aufrichtet und seinen Kopf dann auf meinem ablegt.
»Danke!«, fügt er dann lauter hinzu und lässt meine Anspannung in seinen Armen zu flüssigem Wachs werden.
——————
Uiuiuiui ...
Unsere Motti kriecht so langsam aus ihrem Schneckenhaus?
Was sagt ihr dazu?
Liebe Grüße!
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