3|| MISS-STEVENS-MENSCH-ÄRGERE-DICH-NICHT-TAG
Amanda
Als es um drei Uhr endlich zum Schulschluss klingelt und ich mit Cleo gemeinsam zu meinem Fahrrad schlendere, hat sich meine Laune gebessert.
Die Müdigkeit von heute morgen ist endlich verflogen und auch mein Hass auf Miss Merlin zügelt sich von Sekunde zu Sekunde.
Das Einzige, was mir immer noch schwer im Magen liegt, ist der Aufsatz, den ich schreiben muss. Aber auch an den möchte ich nicht denken, als ich mich von Cleo verabschiede und mit Kilian zusammen das Schulgelände verlasse.
Kilian und ich kannten uns schon noch bevor wir überhaupt geboren waren. Unsere Mütter lagen zur selben Zeit schwanger im
Krankenhaus und durch ihre Freundschaft, gerieten auch Kilian und ich oft aneinander.
Für die Öffentlichkeit sind wir seit dem Kindergarten unbiologische Geschwister und ich weiß, dass das auch immer so bleiben wird.
Cleo kennen wir beide seit der Grundschule. Sie ist neu hergezogen und war zu Anfang ein ziemlich stilles Mauerblümchen. Sie ist ein sehr schüchterner und bodenständiger Mensch, das hat sie für einige langweilig gemacht.
Kilian und ich kannten Cleo nicht. Sie fiel uns gar nicht auf. Aber als wir sie durch Zufall bei einem ihrer Turniere erwischten und sie in Aktion sahen, sollten wir sie kennenlernen. Und zwar von ihrer echten Seite. Seitdem gehört sie zu uns.
»Man sieht sich, Lil' Sister«, verabschiedet sich Kilian.
Ich winke ihm mit einer Hand am Lenker, als er in eine Straße am Damm abbiegt und sich unsere Wege trennen. Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt, aber außerhalb der Schule sehen wir uns tatsächlich nicht oft. Meistens fehlt uns beiden die Lust das Bett zu verlassen und aufs Fahrrad zu steigen, um einander von Gesicht zu Gesicht gegenüberzustehen.
Kilian und ich telefonieren lieber. Meistens gemeinsam mit Cleo, aber Montagabends immer allein. Ich betone immer, weil es an dieser Tatsache keinen Haken gibt.
Der Abend des Montags gehört Kilian und mir.
Er und ich reden manchmal sechs Stunden am Stück. Es hat uns noch nie geschadet lange miteinander zu sprechen. Meistens reden wir über die Schule und die Familie, aber auch Miss Merlin ist ein Thema. Aus ihrer Laune haben Kilian und ich mittlerweile einen Wettkampf gemacht. Der Kampfgeist kocht in uns, wenn wir an unsere Geschichtsstunden denken. Darum lernen wir oft am Telefon miteinander, fragen uns ab, rattern Daten hinunter und quizzen uns gegenseitig. In Geschichte macht man uns beiden nichts vor und das wollen wir jedem
zeigen. Vor allem Miss Merlin, damit sie uns endlich in Ruhe lässt.
»Tschüss, Lili!«, rufe ich dem schlacksigen Brünett nach und fahre eilig weiter nach Hause. Früher hat Kilian diesen Spitznamen gehasst. Er meinte, ich würde ihn verhätscheln und blamieren.
Mittlerweile drückt dieser Spitzname meine Gefühlslagen aus und ist ein sicheres Signal für meine Launen. Kilian weiß, dass wenn ich ihn Lili nenne, alles bestens ist. Darum akzeptiert er diesen Namen.
Mittwoch ist "Miss-Stevens-Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Tag".
Weil Mum Spätschicht auf der Arbeit hat und Dad sich abends mit Freunden zum Poker trifft, ist Leo mittags bei Grandpa und ich theoretisch allein, wenn nicht eben "Miss-Stevens-Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Tag" wäre.
Miss Stevens ist unsere Nachbarin und die Besitzerin der alten Villa, die direkt vor meinem Fenster steht.
Ihr Mann starb vor gut sechs Jahren, kurz nachdem er sich zur Rente niedersetzte.
Meine Familie verstand sich schon immer gut mit den Stevens und ich bin mit dem Spielenachmittag am Mittwoch aufgewachsen, dass ich es gar nicht anders kenne, als nach der Schule mit dem Fahrrad ein Haus früher anzuhalten und abzusteigen.
Der Vorgarten ist bewachsen mit Tulpen und mich umschwirren Bienen, sobald ich das Gartentor geöffnet und hinter mir wieder geschlossen habe.
Ein kleiner Pattweg mit kunstvollen Mosaiken führt durch das duftende Blumenmeer und mündet an einer Holztreppe, die zur Haustür hinaufführt.
Nachdem ich geklingelt habe, dauert es ein paar Minuten bevor ich Schritte hinter den bunten Glasfenstern höre und einen Schatten sehe, der den Schlüssel im Schloss umdreht und mir öffnet.
»Hallöchen!«, begrüßt mich die kleine Dame mit den unzähligen grauen Locken, die sich um ihr rundliches Gesicht formen.
In gelben Jeans und einer weißgeblümten Bluse hält Melania Stevens mir die Tür auf und bittet mich, nach einer beschwinglichen Umarmung, bei der mir ihr herrlicher Duft nach Rosen in die Nase steigt, hereinzukommen.
Die Eingangshalle lässt mich jedes Mal ehrfürchtig die Luft anhalten und auch heute kann ich nicht anders, als staunend umherzusehen.
Der Boden ist gefliest mit Marmorplatten, die immer wieder von beeindruckenden Mosaiken unterbrochen werden. Die beigen Wände, die sich nach drei Meter Höhe in einem ovalen Kreise schließen, sind verziert und bedruckt mit Blumen Malereien, die mir jedes Mal, wie frisch gemalt scheinen.
Eine Wendeltreppe aus Marmor läuft in einem Bogen hinauf in den zweiten Stock und mündet dort auf einer balkonartigen Galerie an der eine Reihe in Gold gerahmte Gemälde hängen.
Meine schwarzen Converse sehen jedes Mal billig aus, wenn ich Miss Stevens durch den Eingang ins Wohnzimmer folge, das durch quadratische Fenster und einen Erker hell beleuchtet ist.
Blumenvasen stehen auf den Fensterbänken und jedem erdenklichen Tisch oder Regal. Auf dem gläsernen Wohnzimmertisch spiegelt sich die Sonne und lässt bunte Schatten über die braune Ledercouch und die gemütlichen Sessel tanzen.
Alles ist fein aufeinander abgestimmt und sieht edel und teuer aus, dass ich Angst habe, mit meinen bloßen Blicken etwas kaputt zu machen. Glücklicherweise spielen wir nicht im Wohnzimmer, sondern auf der gemütlichen Terrasse, die mit weniger imposanten Gartenstühlen möbliert ist.
»Möchtest du Tee, Liebling?«, fragt mich Miss Stevens und mir fällt erst jetzt wieder ein, dass ich atmen muss, um ihr zu antworten. Verkniffen atme ist aus und dann wieder ein und erst als meine Atmung wieder normal geht, nicke ich lächelnd.
Auch nach sechzehn Jahren und der Sicherheit, dass Melania mir niemals sauer wäre, wenn ich eine Tasse fallen lassen würde oder ähnliches, bin ich so unsicher und zugleich beeindruckt von ihrem Wohnhaus, dass ich Angst habe, Fehler zu machen.
Dabei ist nie etwas derartiges passiert und als Leo vor einem halben Jahr mit einem Fußball durch die geschlossene Terrassentür ins Hausinnere schoss und ausgerechnet eine Blumenvase von ihrem Beistelltisch auf die Couch bugsierte, hatte Melania ihr Lächeln nicht verloren.
Kichernd hatte sie ihren Kopf durch das Fensterloch gereckt und gesagt, dass sie Kinder über alles lieben würde. Das glaube ich ihr auch, sie hat ein riesiges Herz, aber das bedeutet nicht, dass wir unbeschadet ihr teures Haus demolieren dürfen. In meinen Augen zumindest nicht.
»Wie war die Schule, Liebes? Erzähl mir mal ein bisschen was von den jungen Leuten. Was treibt ihr so den lieben langen Tag? Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.«
Es tut mir leid, dass es ist, wie sie es sagt. Wir sehen uns innerhalb der Woche tatsächlich nicht oft und auch, wenn Melania es niemals zugeben würde, ist sie an manchen Tagen doch einsam und gelangweilt. Wir kennen Melania, seit wir Nachbarn sind. Sie gehört zu unserer Familie und wir zu ihrer.
Es ist also kein Wunder, dass sie für Leo und mich wie eine dritte Großmutter ist.
»Die Schule war wie immer ziemlich langweilig. Ein paar Test hier, eine Mathearbeit da, nichts besonderes. Und es tut mir leid, dass wir uns so wenig sehen. Die letzten Wochen haben Kilian und ich verbissen Geschichte gepaukt, weshalb ich kaum das Haus verlassen habe.«
»Geschichte also, immer noch wegen dieser bekloppten Geschichte-Tante, die euch auf dem Kicker hat?«
Ich nicke.
»Es ist ein Unding, dass ihr beide wegen so einer Schrulle eure kostbare Lebenszeit in den Wind schießt. Ich glaube, dieser Frau muss mal gehörig in den Arsch getreten werden. Sag mir wann und wo und ich nehme meinen Teppichklopfer mit.«
Entschlossen hebt die kleine Dame ihre Faust und sieht erbost in den Horizont, bis wir beide kichernd innehalten und Lachtränen weinen.
Wenn es eines gibt, dass Melania nicht leiden kann, dann ist das Ungerechtigkeit.
Und das, was Miss Merlin mit uns in Geschichte abzieht, findet Melania so ekelig, dass sie meiner Lehrerin jede Woche neue Schläge androht.
Weil ich weiß, dass ich tatsächlich nur sagen müsste, wann sie wo sein soll, um jemanden in die Pfanne zu hauen, bin ich froh, dass Miss Stevens niemals ohne mein Einverständnis handeln würde.
Spontan würde sie also nicht in der Schule auftauchen und das finde ich auch richtig so. Ich kann nicht noch mehr Probleme mit meinen Lehrern gebrauchen.
»Lass den Teppichklopfer lieber wo er ist.« Ich brauche ein paar Sekunden bis ich mich von meinem Gelache beruhigt habe.
»Ich werde schon allein mit ihr fertig«, beschwichtige ich, um sie zu beruhigen.
»Das weiß ich doch, Liebling, aber wenn nicht, dann weißt du, wo du mich findest.« Ich nicke und komme endlich dazu grüne und blaue Spielfiguren auf das rote und gelbe Startfeld zu legen.
Weil weder Melania noch ich eine Lieblingsfarbe haben, spielen wir jede Woche mit allen vier Farben des Spielbretts. Ich weiß gar nicht, warum gerade Mensch-Ärgere-Dich-Nicht zu unserem Lieblingsspiel geworden ist, aber wir spielen es immer. Vielleicht gerade deswegen, weil wir uns eben doch immer ärgern.
»Du schummelst!«, beschwichtigt Melania, als ich den Würfel mit Absicht fallen lasse und die Augenzahl von einer vier auf eine zwei ändere.
»Gar nicht!«, beharre ich, versetze meine Figur und warte bis sie selbst würfelt.
»Du bist die, die schummelt!«, werfe ich ein und sehe fassungslos dabei zu, wie die kleine Dame aus Versehen die Figuren umwürfelt und sie an anderen Stellen wieder aufstellt.
Wir sehen uns einen Moment starr in die Augen und lassen dann beide gleichzeitig die Würfel fallen.
»Wir sollten uns nichts vormachen, Kindchen. Wir haben beide unehrlich gespielt. Auf ein Unentschieden!«
Sie stößt ihre Teetasse gegen meine und lehnt sich seufzend zurück, als wäre sie einen Marathon gelaufen.
Ich tue es ihr gleich und kann nicht fassen, dass wir jede Woche so enden. Unentschieden. Nur, weil keiner von uns beiden verlieren will.
»Ich glaube, wir sollten aufhören uns jede Woche zu versprechen, heute nicht zu schummeln.«
Sie grinst und nickt.
»Versprechen sind dafür da, gebrochen zu werden.«
»Dann sehen wir uns nächste Woche wohl zur selben Zeit wieder«, bringe ich hervor und erwidere das Lächeln auf ihren Lippen.
Wir sind sehr schlechte Verlierer.
»Das hoffe ich doch, Kindchen.« Wir trinken den letzten Schluck Tee aus unseren Tassen und erheben uns für eine Umarmung.
Ich helfe noch, das Teeservice ins Haus zu tragen und abzuwaschen, ehe ich mich zur Haustür begebe und auf dem Sprung bin zu gehen.
»Tschüß!«, rufe ich durch die bemalte Halle und öffne mir selbst die Tür, als ich noch einmal zurückgehalten werde.
»Warte mal, Amanda! Ich habe noch etwas vergessen.«
Ich halte inne und warte bis Melania mit einem Umschlag auf mich zueilt.
Ich sehe ihr fragend ins Gesicht.
»Das ist die Einladung zu meiner Geburtstagsfeier. Ich werde am Samstag wieder ein Jahr jünger und möchte groß und schön im Garten feiern. Damit der Abend perfekt wird, müsst ihr natürlich auch kommen.«
Sie lächelt mich bittend an und drückt mir den Umschlag in die Hand.
»Oh, wie schön. Natürlich kommen wir. Brauchst du noch etwas? Kuchen, Salat?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein, ich glaube, dass wir von allem genug haben werden. Ich brauche nur ein paar Gäste, die ich verwöhnen darf.«
»Dann sollst du die bekommen.«
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und lächle freundlich, ehe ich durch die Tür nach draußen trete.
»Einen schönen Abend noch.«
»Dir auch, Amanda. Grüß Leo von mir.«
»Das werde ich.«
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