26|| NACH HAUSE


Amanda

»HA!«, schreit Daddy triumphierend und erschreckt Mum so dermaßen, dass sie ihre Karten hinter sich wirft.

Leo und ich lachen herzlich auf.

»Mäuschen, nicht die Karten knicken!«, wiederholt meine kleine Schwester die Worte meiner Mutter und klingt dabei so zuckersüß, dass ich verträumt lachend meine Arme um sie schlinge und sie an mich knuddle, während Mum grummelnd ihre Kartenhand wieder aufhebt und sich darüber ärgert, dass sie seit drei Runden nicht eine einzige Phase weitergekommen ist und Daddy hingegen einen Lauf hat.

Schon seit knapp zwei Stunden spielen vier Phase 10 und auch, wenn Leo noch ein klein wenig zu jung ist, ist dieses Spiel das absolute Familienspiel bei den Vines.
Ich kenne keinen Urlaub, keine Familienfeier auf der wir nicht zusammen Karten gespielt haben und mir würde niemals einfallen, das jemals langweilig zu finden.

»Ich knicke gleich ganz andere Dinge!«, murmelt Mum leise fluchend, als sie unter dem Tisch hervorkriecht und Dad einen mörderischen Blick zuwirft. Der hingegen ist ganz auf seine Siegermasche und uns Kinder fixiert und amüsiert sich noch immer bis aufs Äußerste darüber, dass Leo heute jedes zweite Wort in den Mund nimmt und es wiederholt.

Wir müssen wirklich aufpassen, dass sie kein wahrhaftiges Schimpfwort aufschnappt.

»Können wir weiterspielen, mein Engel?«, fragt Dad spaßeshalber, um Mum noch mehr auf die Palme zu bringen und es funktioniert prächtig. Sie schnaubt angepisst, wirft dann eine Karte ab und erhebt sich, um gleich darauf mit einer Packung Cornflakes zurück ins Esszimmer zu kommen.

»Es geht ja über keine Kuhhaut, wie dich dieser Sieg einnimmt, mein Engel!«, giftet sie und übersieht dabei, dass sie nur so genervt ist, weil auch sie nicht gern verliert.

Meine Eltern sind leidenschaftliche Gewinner und das zeigen sie sich in ihren kleinen, aber liebevollen Konkurrenzkämpfen auch immer wieder.

Ich weiß bis heute nicht, was zwischen den beiden wäre, wenn Leo als erstes Wort nicht Mum in den Mund genommen hätte, so wie es bei mir damals Dad war.
Vermutlich, hätten sich beide ihre Köpfe eingeschlagen, aber glücklicherweise scheinen sich meine kleine Schwester und ich schon als Baby für die richtigen Instinkte entschieden zu haben.

Grinsend sehe ich über den Tisch.
Leo und ich spielen wie immer in einem Team und ich deute ihr, dass sie die von Mum abgeworfene Karte aufnehmen soll.

Die grüne vier ist nämlich genau das, was wir brauchen, um endlich zwei Vierlinge zusammenzuhaben.

Ich überreiche Leo die Karten und sie legt sie auf den Tisch aus. Dad lächelt sie stolz an, während Mum einfach verbissen weiter spielt, als wäre der Abstand zwischen unseren Teams damit nicht noch größer geworden.

Zum Glück können wir alles, was an diesem Tisch geschieht, ausschließlich mit Humor nehmen, denn grundsätzlich ist Phase 10 ein Spiel und wir eine so glückliche Familie, dass uns das nicht zerreißen kann.

Nicht mal die Liebe zum
Sieg.

Als Leo unsere Karte abwirft, hebt sich auf Daddys Lippen ein diabolisches Lächeln und ich kann die Millisekunden fühlen, die vergehen, bevor Mum auf Dad losgeht.

Dieser nämlich scheint ebenso fertig mit seiner Phase, wie Leo und ich und damit ist sein alberner, übertriebener und durchaus provozierender Freudentanz nicht mehr lang entfernt.

Noch bevor Dad seine Karten allerdings auslegen kann, klingelt es stürmisch und lange an der Tür und lässt uns alle zusammenfahren.

Es ist Sonntagabend und schon nach acht.
Wer klingelt so spät noch an unserer Tür?
Wir erwarten niemanden.

Auch Mum und Dad scheinen unsicher und ratlos, ob sie überhaupt an die Tür gehen sollen.
Aber als es ein zweites Mal ununterbrochen klingelt, erhebt sich Dad und bedeutet uns, sitzenzubleiben, während er zur Haustür läuft und sie öffnet.

Wir anderen sind mucksmäuschenstill. Von unserer Spielabend-Laune ist nichts mehr übrig und wir alle lauschen in die Stille hinein.

»Miss Stevens?«, höre ich meinen Vater überrascht im Flur und kurz darauf die aufgeregte Stimme meiner geliebten Nachbarin.

»Torben! Es tut mir leid, dass ich zu so später Zeit noch störe, aber ... mein Enkel, Carter, er ist ...«

Ihre Worte sind abgehackt und unverständlich. Ich verstehe nur die Hälfte ihres Gestammels, aber beim verzweifelten Ausruf nach Carter, stehe ich abrupt mit Leo auf meinem Schoß auf und eile ebenfalls in den Flur.

Dort ist mein Vater gerade dabei die alte Dame ins Haus zu bitten und sie dann noch einmal von vorne erzählen zu lassen.
Sie ist total aufgelöst, hat rot umrahmte Augen und Tränen auf der Wange stehen.
Ihre Hände zittern und die Sorge und Angst, die sie verströmt, füllt den Raum.

Ich spüre sofort, dass etwas Gewaltiges nicht stimmt, dass etwas passiert ist und dass es eindeutig mit Carter zu tun hat.

»Kommen Sie erstmal herein und setzen sich zu uns«, bestimmt mein Vater und schiebt Melania mehr schlecht als recht in Richtung Esszimmer, um ihr einen Stuhl anzubieten.

Mums schlechte Laune ist sofort einem fürsorglichen Laut gewichen und sie kommt keine Sekunde später mit einer heißen Tasse Tee zurück und reicht sie unserem neuen Gast.

»Melania, was ist passiert? Was ist mit Carter?«, fragt Mum sanft und langsam und reicht der aufgelösten Dame ihre Hand. Sie lächelt liebevoll und ich bewundere sie dafür, wie schnell sie ihre Gefühle umlenken und in eine andere Richtung leiten kann.

An anderen Tagen und zu anderen Zeiten hätte ich sie studiert und versucht so zu sein, wie sie, aber heute muss ich mich auf den Kloß in meinem Hals konzentrieren und Melania lauschen, denn sie macht mir Angst.

Was ist mit Carter?
Wo ist er?
Was ist passiert?
Bitte lass ihm nichts passiert sein ...

»Er ... Er ist weggelaufen. Gestern Nachmittag schon«, platzt es aus ihr hervor und allein diese Worte rauben mir den Atem.

Was?
Er ist weggelaufen?
Warum?

Ich erinnere mich an ein glückliches Lächeln und einen charmanten Handkuss, bevor wir beide hinter unseren Haustüren verschwunden sind.

Was ist in so kurzer Zeit passiert?
Wir waren doch lange überhaupt nicht zuhause?
Und bei Lili war alles in Ordnung mit ihm?
Oder nicht?

»Ich habe einen Anruf bekommen. Eleonore, seine Mutter, hatte einen Autounfall. Jemand hat die Vorfahrt nicht beachtet und ist dann in die Beifahrerseite ihres Wagens gefahren. Die Ärzte konnten mir noch keine genaue Auskunft geben, aber sie wollten einen Angehörigen benachrichtigen. Eigentlich haben sie Carter angerufen.
Der Anruf war schon am Morgen auf seinem Handy, aber er hatte sein Telefon zu eurem Wochenendausflug nicht mit, also bin ich drangegangen.
Ich habe ihm erzählt, was passiert ist, als er nach Hause kam und kaum fünf Minuten später, ist er abgehauen.
Ich weiß, er braucht seinen Freiraum. Carter trauert immer mit sich allein. Das hat er nach dem Tod seines Vaters auch immer gemacht.
Jedes Problem, ob sein eigenes oder das der anderen, hat er auf sich genommen und versucht zu lösen und mit sich selbst zu klären. Er ist schon immer der Typ gewesen, der Stärke und Selbstbewusstsein als Aushängeschild mit sich herumtrug, dabei ist er in solchen Situationen genauso emotional und aufgelöst, wie jeder andere Mensch auch.
Gott ... ich habe solche Angst um ihn.
Er ist schon so lange weg, geht nicht an sein Telefon und ich konnte ihn bis jetzt nirgendwo finden.
Ich mache mir solche Sorgen.
Es ist ... Was wenn ... Er etwas Dummes anstellt ...«, schluchzt sie und hält sich dann die Hand vor den Mund, um ihre Tränen und das gerötete Gesicht zu verbergen.

Jedes ihrer Worte reißt mir das Herz aus der Brust und bricht es mir in Stücke.
Melania spricht mit so einer Ehrlichkeit und Wucht, dass sich alle meine Gedanken um diesen Jungen wieder und wieder aufrollen und reflektieren lassen.

Natürlich ist Carter, wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten in Situationen emotional und überfordert und zerstört.

Er ist kein Superheld, kein Mensch mit übernatürlicher Kraft und niemand, auf den man einfach alle Sorgen lasten kann, als hätte er keine eigenen.

Er hat schon seinen Großvater und seinen Dad verloren und ich weiß nicht einmal annähernd, wie viel Schmerz er ertragen muss und musste oder wie alt er dabei überhaupt war.
Aber das alles spielt auch überhaupt keine Rolle.
Denn ich bin mir sicher, dass Carter geliebt wurde und wenn wir Liebe verlieren, dann ist das das Schlimmste auf dieser Welt.

»Ich hatte gehofft, dass ...«, Melania hebt den gesenktem Kopf und sieht mich aus glasigen Augen an,»er bei dir ist oder sich bei dir gemeldet hat. Du bedeutest ihm viel und bist ihm so ungemein wichtig geworden, Amanda, dass ich dachte, er würde vielleicht lieber mit dir reden wollen.«

Ich schüttle unmerklich mit dem Kopf.
Nein, Carter war nicht hier und nein, er hat sich auch nicht bei mir gemeldet.

Ich sehe, wie Miss Stevens ihre Hoffnungen fallen lässt, als sie bemerkt, dass ich genauso schockiert von der Geschichte bin, wie alle anderen am Tisch auch.
Ich bin unwissend.
Ich weiß nicht, wo Carter steckt.
Er hat nicht mit mir gesprochen.

»Nicht? Ich ... Dann ... Also ...«

Melania will aufstehen und vermutlich weiter durch die Dunkelheit irren und ihn suchen.
Ich kann ihre Ängste überall nachempfinden, denn auch in mir breitet sich die Panik aus, weil er schon so lange weg ist.
Auf der anderen Seite aber ist es unverantwortlich sie durch die Nacht zu schicken. Zumal sie Carter vermutlich nicht finden wird.

Er ist ein kluger und gescheiter Junge.

Er ist so klug und so gescheit, dass wenn er nicht gesucht und gefunden werden will, er sich auch nicht finden lässt.

Melania verschwendet, so leid es mir auch tut, nur ihre Kraft.
Ihre Suche ist sinnlos und meine Eltern scheinen da derselben Meinung.

»Melania, ich denke, es wird das beste sein, wenn wir alle einen klaren Kopf bewahren und noch ein wenig warten.
Dass Carter weggerannt ist, ist eine Intuition seines Körpers, der von den neuen Eindrücken überfordert ist und nach Klarheit sucht. Vermutlich fühlt er sich gerade jetzt auch unglaublich allein und von seiner Mutter entfernt. Er wird nachdenken und Angst haben wollen, aber gerade wegen seiner Unklarheit wird er niemals zu impulsiv handelnd und Sachen anstellen, die ihn in Schwierigkeiten stecken. Ich glaube, das beste, das wir machen können, ist warten«, bringt sich meine Mutter sanft redend in das Gespräch ein und hält Melania die Hand.

Mich überläuft eine Gänsehaut, als ich sie reden höre und in gleicher Weise, geht in meinem Kopf ein Licht auf.

Es ist so hell wie ein elektrisches Straßenschild in tiefster Nacht.
Und es ist so deutlich, so grell und so aufkreischend nach Aufmerksamkeit, dass ich mir ganz sicher bin, mich nicht zu täuschen.

»Melania, mach dir keine Sorgen um Carter. Wenn ich eines von ihm gelernt habe, dann, dass er niemals bewusst jemanden verletzten könnte und das würde er, wenn er Dummheiten anstellen würde. Es geht ihm gut. Ich weiß es. Und ich habe auch so eine leise Ahnung, wo er stecken könnte!«

Ja, eine laute Ahnung sogar.

Auf meiner Lippe kauend, sehe ich von meiner Mutter zu meinem Vater, die ebenso tiefe Blicke austauschen und zuletzt am hoffnungsvollen Blick von Melania hängen bleiben.

Ich sehe sie bittend an und zuletzt seufzen sie und nicken leicht.

»Na, schön ... geh ihn schon holen! Aber melde dich und sei mir bloß vorsichtig!«, ergibt sich meine Mutter und hebt drohend einen Finger.
Ich küsse sie stürmisch an der Wange und dann Dad und dann Leo, die ich auf ihre eigenen Beine zurücklasse, und zuletzt sogar Melania.

»Macht euch um mich und ihn keine Sorgen! Ich verspreche, wir kommen heil zurück!«, rufe ich, als ich schon längst aus dem Raum ins Obergeschoss gesprintet bin.

Ich brauche eine Handtasche, Geld, mein Handy und etwas Wärmeres zum Anziehen.

Mit Sack und Pack renne ich die Treppe wieder runter und dann zurück ins Esszimmer.
Meine Eltern sehen mich fragend an.

»Ich brauche ein Feuerzeug!«

Die monotonen und gelösten Blicke verwandeln sich in verwirrte.

»Bitte, fragt mich nicht, wofür! Ich brauche nur ein Feuerzeug!«, rede ich zwischen die stummen Fragen und erwecke meinen Vater damit zum Leben.

Kommentarlos geht er zu einer Schublade der Wohnzimmergarnituren und wühlt darin herum, ehe er ein blaues Feuerzeug in der Hand hält und es mir überreicht.

Ich küsse ihn ein zweites Mal und stecke das Feuerzeug dann in meine Tasche, bevor ich in meine Schuhe schlüpfe, das Haus verlasse, auf mein Fahrrad schwinge und meinem sicheren Gefühl nachfahre.

Wo geht ein Mensch hin, wenn er Heimweh hat?

Nach Hause, natürlich.

—————

x

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top