16|| DADS KNOW IT BETTER


»F!«

»Französische Revolution.«

»Okay. Von wann bis wann?«

»Fünfter Mai 1789 bis zum zwölften November 1799!«

»Nicht ganz, es war der neunte November.«

»Okay. Ähm ... wodurch zeichnet sie sich aus?«

»Naja. Der fudal-absolutistische Ständestaat wurde endlich abgeschafft und durch Propaganda wurden Werte und neue Ideen auf Grundlage der Aufklärung umgesetzt. Die Menschenrechte rückten mehr in den Vordergrund.«

»Menschenrechte, ein gutes Stichwort. Was weißt du so darüber?«

»Naja, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wie wir sie kennen, wurde am zehnten Dezember 1948 in der UN-Generalversammlung verabschiedet. Es gab aber schon Jahre zuvor erste Überlieferungen und Schriften über die Rechte des Menschen. Schon dreitausend Jahre vor Christus steht im Codex Ur-Nammu etwas über die Gleichheit der Menschen. Soweit ich weiß, ist das die älteste Überlieferung bis jetzt.
Die Geschichte der Menschenrechte jedenfalls ist lang. Da wären die Bill of Rights in England 1689, in Virginia, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten Juli 1776, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in einer Nationalversammlung in Frankreich und noch viele, viele weitere.«

»Stimmt alles. Andere wären noch 1215 die Magna Carta, die Leyes Nueves 1542 oder 1791 die Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, also die Erklärung der Rechte der Frau.«

»Am besten bleiben wir bei 1948. Wieso wurden diese Menschenrechte überhaupt beschlossen?«

»Es gab mehrere Gründe. Der zweite Weltkrieg war jedenfalls die größte Prägung. Man wollte ein solches Ereignis für die Ewigkeit verhindern. Was besagen die Menschenrechte?«

»Ganz allgemein gesagt stehen diese Rechte für jeden Menschen auf dieser Welt. Egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht, welches Alter oder die soziale Lage.
Jeder Mensch hat seine Rechte und niemand kann sie ihm wegnehmen.
Welche Menschenrechte kennst du so?«

»Pressefreiheit, die Unantastbarkeit der Würde eines Menschen, Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Leben, das Recht auf Arbeit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und noch viele weitere.«

Während Lili noch zehn weitere Rechte aufführt, fange ich herzlich an zu gähnen.
Es ist bald halb elf und ich bin nach dem feierlichen Gestern todmüde und ausgelaugt.

Meine Augen halten sich nur für meinen besten Freund wacker offen und spielen im Halbschlaf mit ihm unser geliebtes Frage-Antwort-Alphabet. Wie immer bereiten wir uns auf die lustigsten aller Schulstunden – Geschichte – vor und wie immer wissen wir eigentlich, dass uns Miss Merlin nichts anhaben kann.

»Ich glaube, es reicht für heute. Du schläfst mir gleich auf der Computertastatur und sabberst alles voll.«

Kilian grinst mich – selbst müde – durch den Bildschirm an und schmeißt dann seinen Notizblock vom Bett.
Krachend sehe ich, wie seine Karteikarten und der Block Papier an die Wand hinter ihm klatschen und dann zu Boden segeln.

Meinen besten Freund kümmert das allerdings wenig. Mit einem Kissen bequemt er sich in sein Bett und sieht mich an.

»Wir sind gearscht morgen früh«, stellt er fest und gähnt nun ebenfalls.
Ich kann nur nicken, denn er hat leider recht. So müde, wie wir gerade sind, werden wir morgen die ersten beiden Stunden nicht heil überstehen.

»Erteilen wir uns selbst das: Du-Darfst-Mir-Wehtun-Falls-Ich-Einschlafe-Recht?«

Er nickt schläfrig.

»Erlaubnis erteilt. Wenn ich morgen wegtrete, dann schlag mir einfach auf den Hinterkopf. Das kann ja nur gesund sein.«

Ich kichere leise.

»Okay. Und falls ich einschlafe, dann zieh mir an den Haaren. Du weißt, dass ich das hasse.«

Kilian streckt seinen Daumen in die Höhe.

»Hab verstanden, Motti. Aber wehe du bist sauer, wenn ich dir Haare rausreiße.«

»Versprochen. Und jetzt sollten wir echt pennen. Ich sterbe gleich vor Müdigkeit.«

»Me too. Bis morgen.«

Und mit einem letzten Winken verschwindet Kilians Kopf aus meinem Blickfeld und nur die Länge des Anrufs blinkt noch für einige Sekunden neben seinem Profilbild.

Fünf Stunden und achtunddreißig Minuten.

Ja, Geschichte muss wirklich spannend sein.

Aber sie laugt auch aus und obwohl ich zwischen unseren Fragen immer mal wieder etwas gegessen habe, schlüpfe ich in meine hellblauen Esel-Hausschuhe und schlurfe die Treppe nach unten in die Küche.

Zu meiner Überraschung brennt dort noch Licht.
Im Wohnzimmer höre ich es knistern.
Das erstmal ignorierend biege ich in die Küche ab und öffne den Kühlschrank, um mir einen Joghurt zu holen.

Mit Löffel bewaffnet, laufe ich damit ins Wohnzimmer, um zu sehen, wer mir bei meinem Mitternachtssnack Gesellschaft leistet.

»Du bist noch auf, Dad?«

Mit einem Buch von John Green und seiner Lesebrille auf der Nase sitzt mein Vater auf der Couch und liest.

Das letzte Mal, das ich ihn so gesehen habe, muss Jahre her sein. Mein Vater liest zwar gerne, aber er findet meistens keine Zeit dafür.
Er arbeitet oft bis in den frühen Abend und meistens ist er zu dann zu müde, um nicht sofort ins Bett zu gehen.
Wenn er tagsüber dann einmal frei hat, beschäftigt er sich meist mit Leo, liest ihr vor, puzzelt mit ihr oder kocht. Auch im Garten hantiert er manchmal oder geht mal wieder mit meiner Mutter aus.
Sie haben es nach all den Jahren immer noch nicht aufgegeben, sich zu daten.

Und eigentlich ... finde ich das mega süß.

»Ja, Mäuschen, ich habe morgen frei und ich dachte, ich müsste mal etwas für meine Ruhe und Entspannung tun.«

Ich grinse ihn an.

»Störe ich dich?«

Er schüttelt den Kopf und klopft dann auf seinen Oberschenkel.
Mein Grinsen wir noch breiter und wie automatisch setze ich mich in Bewegung und kuschle mich auf seinen Schoß.

Er schlingt seine Arme um mich und küsst mich auf die Haare, während ich meinen Joghurt öffne und zufrieden seufze.

Es ist auch schon eine lange Zeit her, dass wir diese Art von Zweisamkeit genossen haben. Ich werde langsam aber sicher erwachsen. Irgendwie kapselt man sich augenscheinlich von seinen Eltern ab. Man unternimmt mehr mit Freunden, die Schule klaut die letzte Freizeitaktivität und man verliebt sich vielleicht das erste Mal ...

Trotzdem sind gerade Momente wie diese, Gold wert.
Eine enge, lange und absolut sicher geborgene Umarmung von seinem Vater.
Es gibt kein Alter, dass mir diesen Genuss peinlich werden lassen würde.

»Du störst mich niemals, Kleines.«

Er küsst mich erneut und streichelt mir dann durch die Haare. Ich überlege, wann wir das letzte Mal solch eine Ruhe genossen haben.

»Hast du Angst, mich zu verlieren, wenn wir über Carter sprechen?«, frage ich die Stille irgendwann durchbrechend, weil mir das Verhalten meines Vaters gegenüber Jungen immer wieder im Hinterkopf spukt.

Er ist einer der liebenswürdigsten Männer, die ich kenne.
Er ist der beste Dad, den man sich vorstellen könnte.

Aber Jungen sind ihm ein Dorn im Auge. Und das liest und hört man zwar ständig, aber es verkompliziert die Lage, in der ich mich befinde.

Denn ich weiß nicht, ob ich Carter nicht vielleicht doch ein wenig zu sehr mag.

Dad antwortet eine lange Zeit nicht. Seine Hand streichelt nur noch immer durch mein Haar. Irgendwann seufzt er.

»Jeder Vater hat diese Angst, schätze ich. Zumindest irgendwo. Es hat nichts mit diesem Jungen zu tun. Ich kenne Carter nicht und will ihn nicht verurteilen. Er scheint mir ja anständig zu sein und deine Mutter findet ihn klasse«, er lacht für einige Sekunden,»aber für mich ist es trotzdem komisch mein großes Mädchen zum ersten Mal in dieser neuen Art von Kontakt zu sehen und wenn ich mir vorstelle, wie du in ein paar Jahren deine Sachen packst und gehst – also im Grunde genommen all das tust, was dir zusteht und ich mir auch für dich wünsche – da wird meinem alten Vaterherz schwummrig.«

Ich liebe ihn für seine verletzliche Ehrlichkeit.

»Ach, Daddy!«, murmle ich und stelle den leeren Joghurtbecher weg, ehe ich mich an ihn kuschle und ihn fest umarme.

»Du wirst mich niemals los. Selbst wenn ich ausziehe oder die Welt bereise oder einen Freund habe. Das hier ist mein Zuhause. Da wo du, Mum und Leo sind und so wird es immer sein. Da kann auch meine Liebe für einen Jungen nichts dran ändern.«

Er lächelt zufrieden.
So etwas in der Art wollte er wohl einfach mal gesagt bekommen.
Worte können diese Welt heilen.

»Die Liebe für einen Jungen also. Sind wir schon so weit, mein Mäuschen?«

Ich seufze theatralisch und sehe zu den Terrassenfenstern in deren Glasscheiben sich unsere kuschelnden Gestalten spiegeln.

»Ich weiß es nicht. Ich bin mit meinen Gefühlen und Eindrücken einfach überfordert. Ich kenne das nicht. Diese Art von Aufmerksamkeit von jemandem, der in meinem Alter ist, weißt du?«

»Ja, das weiß ich. Diese Schmetterlinge und das kleine wildpochende Herz können einen ganz schön auf Trab halten.«

»Ja, aber zu all diesen schönen Dingen kommt auch noch meine Unsicherheit und das mangelnde Selbstvertrauen in mich selbst. Weißt du, Carter ist, seit er hier ist, ein Traum für jedes Mädchen, das ich kenne. Und das ist er nicht nur, weil er toll aussieht, sondern auch einfach, weil er so zuvorkommend und höflich und nett ist. Er ist so reif und ich bin so ... kindisch.«

»Was macht ihn denn so reif?«

»Naja ... auf der Geburtstagsfeier von Miss Stevens hat er sich vor mir verbeugt und mit dem vollen Namen nach einem Tanz gefragt. Und ... er verurteilt wirklich niemanden in der Schule. Ohne Kommentar setzt er sich neben die schüchternen und unbeliebten und ist einfach nett. Er redet so gehoben, überhaupt nicht jugendsprachlich und er behandelt wirklich alle gut. Er besteht darauf mich zur Schule zu fahren, er entschuldigt sich aufrichtig, wenn er etwas falsch macht und er ist längst nicht so hormongesteuert wie die Typen aus meiner Klasse.
Er ist einfach ... Carter!«

Ich seufze frustriert und verstecke meinen Kopf in der Armbeuge meines Vaters, während dieser zu lachen beginnt.

»Ach, Motti, und wieso bist du so verlegen und behauptest, kindisch zu sein? Wenn er dich so behandelt, wie du es beschreibst und deine Mutter es mir erzählt – Ja, glaub ja nicht, dass ich nicht weiß, dass ihr hier zusammen auf dem Sofa gelegen und einen Sicherheitsabstand von Null Millimetern gehalten habt oder das sein Pullover in deinem Bett liegt! – dann scheint dieser Junge sich doch wirklich mit guten Absichten für dich zu interessieren.«

»Wie könnte er denn, Papa?Ich meine, mein Bett ist voller Kuscheltiere, ist das nicht mega kindlich? Und in seiner Gegenwart bringe ich kaum richtige Worte zustande und stottere irgendeinen Schwachsinn vor mich hin.
Sein Pullover liegt in meinem Bett, weil ich hinten auf dem Gepäckträger auf ihm eingeschlafen bin! Und überhaupt ... an mir ist nichts besonders. Ich trage Pyjamas, bin ein absoluter Geschichts-Freak und nenne meinen besten Freund Lili!
Was sollte jemand wie er an mir finden?
Er spielt Fußball, sieht toll aus, ist ein Gentleman, kann fabelhaft tanzen und mit Kindern umgehen, als wäre er schon vierfacher Vater!
Sogar Morle – diese kleine, miese Verräterin – liebt ihn!«

Frustriert fahre ich mir durch die Haare und sehe auf meine Hände. Es tut gut darüber zu reden. Vor allem mit meinem Vater als Mann.
Er sieht Dinge anders als eine verträumte Frau.

»Ich glaube, du siehst das alles aus einer völlig falschen Perspektive. Weißt du, wir Männer sind ziemliche Volltrottel, wenn es um euch Frauen geht. Wir brauchen ein wenig mehr Zeit, um zu sehen, was für Perfektion uns umgibt. In deinem Alter verhalten wir uns besonders schlimm – da sind wir eigentlich zu nichts zu gebrauchen. Du darfst nicht zu hart sein. Aber vor allem darfst du nicht zu hart zu dir selbst sein. Du darfst nicht denken, dass der Fehler, das dich noch nie ein Junge auf ein Date eingeladen hat, bei dir liegt. Meist sind gerade diese Mädchen, die noch nicht fünfhundert Beziehungen und mit jedem Sex hatten das, was den Jungen hinterher am meisten gefällt.
Mädchen, wie du, sind Persönlichkeiten. Sie schwimmen nicht mit dem Strom, sind klug, tragen ihren Stolz und strahlen in die Welt hinaus, dass sie keine One-Night-Stands sind.
Für viele Männer sind diese Mädchen unnahbar, denn sie sind viel zu kostbar und das wissen sie.
Du hast in deinen jungen Jahren noch niemanden kennengelernt, weil die Jungen keinen Mumm hatten, sich mit dir anzulegen. Du bist zu gut für sie, weil du es nicht verdient hast, schlecht behandelt zu werden.
Amanda, du bist meine Tochter und ich als dein Vater kann dir sagen, dass du noch Zeit hast, um all diese Erfahrungen mit einem Jungen zu machen. Irgendwann wird der richtige an deiner Tür klopfen oder in dein Leben schneien, wie dieser Brite.
Er scheint dich ja wirklich sehr begeistert zu haben und anscheinend, beruht das auf Gegenseitigkeit. Denn eines kann ich dir sagen. Ein Junge, der dir deine Hand küsst, dich wie aus dem letzten Jahrhundert zu einem Tanz auffordert und dich zu nichts drängt, weil er absolut nichts falsch machen möchte, der ist Gold wert.
Ich habe ihn ja noch nicht oft gesehen. Aber als er im
Garten mit Leo getanzt und dich immer wieder verstohlen angesehen und dann heimlich gelächelt hat, da ist auch mein väterlicher Beschützerinstinkt ein wenig gebröckelt.
Ich glaube schon, dass dieser Junge dich gerne hat. Lieber als andere Mädchen. Warum sollte er sich sonst die Mühe machen?
Er wäre über alle Berge, wenn er deine Anwesenheit nicht genießen würde. Aber das ist er nicht. Er ist immer noch hier und versucht dich kennenzulernen. Und ich meine nicht eine Amanda, die  keine Kuscheltiere in ihrem Bett hat oder kein "Geschichts-Freak" ist. Sondern genau die. Genau dieses Mädchen möchte er kennenlernen. Weil du genau dieses Mädchen bist und wenn er das nicht süß findet oder mag, dann ist er an der falschen Adresse.
Du trägst nun mal kunterbunte Pyjamas, hast einen besten Freund namens Lili und bist ein wenig schüchtern. Aber das ist gut so. Das ist sogar perfekt.
Das macht dich doch so klasse und besonders.
Und gerade das ist es doch, was dich für ihn interessant macht. Die Art und Weise wie du existierst!
Glaubst du ehrlich, ich habe mich in deine Mutter verliebt, weil sie zu Anfang vorgegeben hat, jemand anderes zu sein und dann "cool" war?
Nein. Ich habe mich in deine Mutter verliebt, weil sie damals schon so aufgedreht war und ihre Nase nicht aus den Angelegenheiten anderer heraushalten konnte. Ich habe mich in sie verliebt, weil sie die knalligsten aller Schuhe trug, manchmal ein Kissen mit in die Schule nahm und in der Mittagspause eine Cornflakestüte verschlang.
Sie war nicht wie die anderen. Ganz offensichtlich war sie das nicht. Und, bei meinem Herzen, das war verdammt attraktiv. Das hat sie so hübsch gemacht.«

Ich lächle bei diesen Worten. Dad klingt wie ein total verknallter Teenager und das ist niedlich.
Und Mum ... ja, Mum kann ich mir genauso vorstellen.
Sie ist auf ihre ganz eigene Art cool.

»Was ich sagen möchte, ist, dass du es auf dich zukommen lassen solltest.
Verhalte dich in seiner Nähe natürlich, sei du selbst und verstell dich nicht für ihn. Er wird sehen, was er an dir hat und was nicht und wenn er dich mit all deinen Fassetten immer noch ideal findet und er dich in all deiner Vollkommenheit liebt, dann können wir ja mal darüber reden, ob ich ihm meinen Segen schenke.«

Ich kichere. Was würde ich nur ohne meinen Dad tun?

»Du glaubst, er mag mich, wenn ich mich ihm zeige, wie ich bin?«

»Ganz bestimmt, Motti. Denn so bist du am schönsten.«

»Und was, wenn er mich albern findet?«

»Dann ist er nicht der Richtige, ein blinder Narr und eventuell ein toter Mann, weil ich ihn erschießen werde, wenn er dir dein Herz bricht.«

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Ach, ja ... Krisengespräche mit dem Vater können Wunden heilen.

Was haltet ihr von Amandas Eltern?
Mir selbst sind sie sehr sympathisch.

Einen schönen Sonntag noch!

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