13 || FREITAG DER SCHLECHTGELAUNTESTE
Amanda
»Ihr habt echt nicht zu viel von eurer Geschichtslehrerin versprochen.«
»Sie ist dir unsympathisch, was?«
»Unsympathisch ist kein Ausdruck. Diese Frau verhält sich einfach respektlos. Und damit meine ich gar nicht, dass sie sich nur euch beiden gegenüber unfair benimmt. Ich spreche vom gesamten Kurs, denn auch alle anderen haben ein Recht darauf, ihre Geschichtskenntnisse zu teilen. Wie soll sie denn sonst Noten machen?«
»Das haben wir uns auch schon gefragt.«
Es ist Freitagnachmittag und wir – Lili, Cleo, Carter und ich – sind nach einem langen Schultag auf dem Weg zurück nach Hause.
Meine frühen Sorgen, dass Carter mich komisch behandeln könnte, nachdem ich gestern an ihn geklammert eingeschlafen bin, waren vollkommen unbegründet.
Als ich das Haus verlassen habe, ist er wie auch am Tag zuvor aus dem Vorgarten spaziert, hat mich grinsend mit einem Handkuss begrüßt und ist dann ohne Kommentar hinten auf mein Fahrrad gestiegen.
Nicht ein einziges Mal hat er mich wegen gestern aufgezogen oder mich spitz kommentiert. Er war einfach höflich, zuvorkommend und freundlich wie sonst auch immer. Vielleicht war er sogar noch besser gestimmt.
Ich bin heute tief in Gedanken an ihn versunken.
Dieser Junge ist mir nämlich ein großes Rätsel. Er verhält sich so anders, als die beliebten Jungen aus meiner Schule. Er ist irgendwie auf einem ganz anderen Wege beliebt. Auf einem richtigen, ehrlichen.
Während die "coolen" Jungen aus meiner Schule nämlich das Wochenende befeiern, den Mädchen nachgaffen, den ein oder anderen ständig heruntermachen und sich wie die selbsternannte High Society fühlen, ist Carter einfach Carter.
Er ist nett zu jedem, verurteilt niemanden, ist hilfsbereit und aufgeschlossen.
In Kursen, die wir zusammen haben, hat er sich einen Platz gesucht und es sofort geschafft seinen neuen Sitznachbarn für sich zu gewinnen. Er ist einfach cool mit jedem. Er mag jeden und jeder mag ihn.
Wie macht man so was?
Und wie kann man dann auch noch hübsch sein?
Die Haare liegen vom
Winde verweht auf seinem Kopf und sind von unseren Sportstunden am Nachmittag ein wenig verschwitzt. Seine schwarze Sportshorts hat er für den Weg nach Hause einfach angelassen, sodass man freie Sicht auf seine gut gebräunten, langen und muskulösen Beine hat.
Den Oberkörper bedeckt ein dunkelblauer Hollister Pullover, der genauso gut nach Carters Parfüm riecht, wie der Pullover, der noch bei mir zuhause liegt.
Er trägt auch heute dieselben Schuhe wie ich. Seine Füße sind nur viel größer als meine.
Carter wirkt lässig und unbeschwert.
Vollkommen entspannt, als hätten wir nicht gerade Basketball gespielt und wären dreihunderttausendmal von einem Hallenende zum anderen gerast, geht er neben Kilian und mir, schiebt mein Fahrrad und unterhält sich mit meinen besten Freunden.
Er ist ebenso empört von Miss Merlin, wie auch wir es sind.
Aber ich kann mich kaum auf die Gespräche der anderen konzentrieren. Auch über Miss Merlin finde ich heute keine Worte.
Ich bin einfach von so vielen Eindrücken und Geschehnissen überwältigt, dass ich Zeit zum Verarbeiten brauche.
Carter ist so plötzlich aufgetaucht, noch gar nicht lange da und doch ist seit einer Woche schon alles anders.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Bin ich froh damit?
Oder ist das alles hier eine Sackgasse?
Was erwarte ich eigentlich?
Ich frage mich das schon den ganzen Tag.
Denn ich weiß es nicht.
Worüber mache ich mir Gedanken? Was bedrückt meine Stimmung?
Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt will und mich beschleicht das ungute Gefühl, dass es da auch gar nicht viel gibt, wofür man Ahnung braucht. Ich bin einfach ein kompliziertes Wesen, das sich Gedanken über nichts macht.
Oder etwa doch?
Himmel, Amanda, du verwirrst dich selbst.
Ich sehe zu Boden.
Wir laufen alle nebeneinander den Deich entlang.
Cleo ist auf dem Weg zum Reiterhof. Wir anderen wollen nur noch nach Hause.
Kilian schwärmt für ein langes Bad und ich für mein Eis, die Couch und irgendjemanden mit dem man kuscheln kann.
Die Geschichtsstunden waren zäh und mal wieder viel zu einfach. Miss Merlin kann meinem besten Freund und mir einfach nichts mehr beibringen. Wir sind bestens informiert. Das hat auch der geschriebene Test bestätigt, den wir mit einer Bestnote zurückbekommen haben.
Das einzige Schöne bis jetzt.
Bis auf die Ausnahme vielleicht, das Carter gerade jetzt bei mir und nicht bei Cilia oder einem anderen Mädchen ist – Cleo herausgenommen.
Ich kann es nicht erklären, aber ich verspüre tiefe Genugtuung, wann immer Carter sich in den Pausen auf meinen Tisch zu bewegt.
Er ist vielleicht ein allseits begehrter Schüler, aber er hat mich als seine erste Bekanntschaft noch immer nicht ganz ausgetauscht.
Allein die Tatsache, dass er jetzt mit meinen Freunden und mir nach Hause läuft, erfreut mein ahnungsloses, verwirrtes Herz.
Er hätte mit Sicherheit jemanden gefunden, der ihn ebenfalls nach Hause begleitet hätte. Aber er hat extra auf mich vor der Sporthalle gewartet und ist nicht alleine vorgegangen oder dergleichen.
Meines Erachtens hätte es auch sein können, dass er schreiend davonrennt. Denn ich sehe nach einer Stunde Sport aus wie eine benutze Klobürste: Scheiße.
Meine Haare sind fettig und schwitzig und mein Gesicht ist für die nächste Stunde angelaufen wie eine Tomate, egal wie wenig ich mich auch bewege.
Lili, Cleo und natürlich auch Carter sehen gegen mich aus, wie drei Supermodel. Ich bin neidisch auf ihre Körper, die im Gegensatz zu meinem, aller Peinlichkeit aus dem Weg gehen. Niemand von ihnen sieht aus, als hätte er wirklich Sport getrieben. So ein Mist!
»Motte?«
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Was?
Ich starre zu Kilian, der mich irgendetwas gefragt hat. Er rollt die Augen. Cleo schmunzelt bloß. Carter mustert mich aufmerksam. Ich kann seinen Blick nicht deuten. Aber ich fühle mich bis tief unter meine Haut wie ein offenes Buch für ihn.
»Ich habe gefragt, ob du am Sonntag auch bei Cleos Turnier dabei bist? Wir müssen unserem Champion mal wieder zusehen, meinst du nicht?«
Cleo. Sonntag. Champion. Was?
Ich bin verwirrt und irgendwie kommen Kilians Worte nicht bei mir an. Ich bin so verwirrt und so überfordert von meinen eigenen Gedanken, dass ich seine Frage nicht schnell beantworten kann. Sie kommt einfach nicht früher bei mir an.
»J-Ja! Natürlich sind wir dabei!«, stottere ich irgendwann und sehe dann wieder zu Boden.
Gott, was stimmt denn nicht mit mir? Ständig bin ich mit meinem Kopf woanders, bei jemand anderes, das ist doch kein Zustand!
Es macht sich bestimmt niemand solche dummen Gedanken über einen Jungen, den man gerade mal sechs Tage kennt!
Und dieser Junge macht sich mit absoluter Sicherheit auch keine Gedanken über mich.
Er muss mich für absolut komisch und dämlich halten.
Und irgendwie glaube ich, dass meinem Körper das am aller wenigsten von allen Problemen gefällt. Carter soll nicht schlecht oder gelangweilt von mir denken.
Oder soll er es doch?
Oder ist es mir egal?
Ich. Weiß. Es. Nicht!
»Ich frage dich einfach morgen nochmal!«, dringt Kilians amüsierte Stimme durch meine Verwirrung und ich bemerke erst jetzt, dass wir stehen geblieben und er mich wieder etwas gefragt hat.
Fragend sehe ich auf und ein wenig zerknirscht zwischen meinen besten Freunden her. Sie sehen meine Abwesenheit wenig eng. Mit Verständnis und Sänfte begegnen mir vier warme Augen.
Carters lasse ich bewusst aus. Seine Augen nämlich stellen viel zu viele Dinge mit mir an, die ich nicht erklären kann.
Weil niemand etwas sagt, habe ich das Gefühl, schon wieder eine Frage überhört zu haben. Bitter schlucke ich meine tauben Ohren und meinen ignoranten Körper hinunter und versuche Worte zu bilden. Sie kommen mir nur mühselig über die Lippen.
Als hätte ich das Sprechen verlernt.
»Es tut mir leid, Leute. Heute ist einfach nicht mein Tag. Ich ... ich möchte einfach nur nach Hause, mich auf's Sofa kuscheln und Popcorn essen.«
Cleo lächelt auf diese Worte. Kilian kommt dem gleich.
Sie beide wissen, dass Essen und das Sofa/ Bett die absoluten Wundermittel gegen meine schlechten Tage sind. Dabei ist egal, was den Tag schlecht macht. Ob nun meine Periode, Miss Merlin, eine harte Klassenarbeit oder, wie heute, Carter, dessen Anwesenheit mich einfach unsicher und nervös macht.
Heute fühle ich mich ganz komisch.
»Schon okay, Lil' Sister! Ruh' dich aus! Ich rufe dich morgen nochmal an.«
Kilian kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückt mich an seine schlanke Brust. Weil ich mich mies fühle und genau das gebraucht habe, kuschle ich mich enger an ihn und vergrabe meinen Kopf an seinem T-Shirt. Seine Körperwärme schließt sich wie eine Tasse Tee um mein Herz. Sie beruhigt mich und lässt mich wohlfühlen. Einen Moment steht die Zeit einfach still. Es gibt nur meinen besten Freund und die Tatsache, das uns beide – und Cleo! – niemals jemand stürzen kann. Wir werden immer füreinander da sein!
»Danke, Lili!«, flüstere ich leise und lausche dem beruhigenden Herzschlag meines Freundes. Seine Umarmungen haben mir schon immer Frieden geschenkt.
»Nichts zu danken, Motti. Aber sag mir bloß Bescheid, wenn dich etwas bedrückt. Mein Seelsorgetelefon ist vierundzwanzig Stunden am Tag für dich zu erreichen, das weißt du, oder?«, flüstert er mir ins Ohr.
Ich nicke. Ja, das weiß ich.
Wir lösen uns voneinander und Kilian tritt ein paar Schritte zurück.
Grinsend wendet er sich wieder an die anderen. Erst jetzt bemerke ich, dass wir längst am Abzweig unserer Wege sind. Ab hier gehen Carter und ich alleine weiter, denn Cleos Pferdestall ist nicht weit von Kilians Zuhause entfernt.
Sie beide lassen uns jetzt allein. Und ich bin nicht sicher, ob meinem Herzen das gefällt. Oder mir. Oder uns beiden.
Ich schlucke schwer, als auch Cleo sich mit einer Umarmung von mir und einem freundlichen Winken an Carter verabschiedet und meine Freunde davonlaufen.
Mit angehaltener Luft bleibe ich auf der Straße stehen und sehe ihnen nach.
Nicht gut.
Ich will Carter nicht in die Augen blicken. Er hat es gar nicht verdient von mir ignoriert zu werden, aber ich kann einfach nicht anders.
Ich bin aufgelöst und verwirrt und heute ist auch noch Freitag. Diese Faktoren machen es mir wirklich nicht leicht ...
»Was ist los mit dir, Rosie?«
Es ist wie ein Zwang aufzusehen, wenn Carter mit seinem britischsten Akzent diesen Spitznamen für mich auf seine rosaroten Lippen setzt.
Ich habe keine Ahnung ob er das weiß, aber dieser Name stellt unmenschliche Dinge mit mir an. Er beflügelt meine Sinne, weil er sich so gut anhört.
Niemand lässt ein 'O' luftig wie eine Wolke klingen und niemand setzt einem 'Ie' ein so süßes Krönchen auf.
Niemand hat mich je zuvor 'Rosie' genannt, hat meinem Zweitnamen einen Spitznamen gegeben. Carter schon, seit er meinen Namen an Miss Stevens Geburtstag stibitzt hat.
Wieso nur ist dieser Junge so plötzlich so prägnant in mein Leben getreten?
Ich bin schon wieder in meinen Gedanken verschwunden, aber diesmal überhöre ich nicht nur Carter, sondern auch das Geklingel hinter mir.
Erst als der Brite mit einem
»Vorsicht!« erschrocken aufruft und mich in derselben Sekunde an der Taille an sich reißt, um dem Fahrradfahrer Platz zu machen, realisiere ich die Gefahr.
Stolpernd stürze ich gegen Carter und taumle mit ihm ein paar Schritte zurück, ehe ich meine Finger erschrocken in seinen Pullover kralle und fassungslos zur Seite sehe.
Er hat mein Fahrrad fallen lassen, um mich zu retten. Eine Gruppe junger Studenten hätte mich über den Haufen gefahren, wenn er mich nicht weggezogen hätte. Entschuldigend sehe ich ihnen hinterher, ehe ich die Augen schließe, tief ausatme und meinen Kopf vornüber gegen Carters Brust lehne.
Mein Herz klopft unregelmäßig. Der Schock lässt sich schwer verarbeiten.
Carters Herz schlägt an meiner Stirn ebenfalls ein paar Oktaven höher. Seine Hände an meiner Taille festigen sich noch ein Bisschen mehr, mit jeder Sekunde, die ich nicht bereit bin, ihn loszulassen.
Er riecht nach Carter.
Er hat schon immer nach Carter gerochen. Schon am Samstag, als ich ihn voller Ungeschick zu Boden gerissen habe.
Er riecht ganz für sich allein.
Nach Frühling und Zitronenmelisse, Apfel und ...
Ich fühle mich sicher in seinen Armen. Das habe ich schon immer. Carter ist seit unserem ersten Tanz ein Fels in der Brandung. Er hat mich durch die Musik begleitet, hat mich in jeder Drehung und nächsten Bewegung gehalten und geführt und es kam mir nie auch nur in den Sinn, dass er mich fallenlassen könnte.
Wieso zweifle ich dann gerade so an ihm und mir?
Vielleicht, weil die Dinge viel zu gut sind, viel zu perfekt.
Weil Carter einfach so vollkommen scheint – was natürlich Blödsinn ist – und ich mich neben ihm wie die Pelle vom Ei fühle, zumindest in der Öffentlichkeit.
Das liegt gar nicht an ihm direkt, sondern an den Menschen um uns, die ihn und mich einfach in ein anderes Licht stellen.
Ich könnte ewig an seinem Körper lehnen und meine geschlossenen Augen mit samt dem Kopf an seinem Oberkörper verstecken.
Irgendwann jedoch zwingt mich Carter zu ihm aufzusehen.
Seine warmen Finger streicheln unter meinem Kinn und heben es an, bis ich meinen Kopf soweit in den Nacken gereckt habe, das wir uns ansehen.
Seine smaragdgrünen Augen leuchten wie die helle Sonne.
Ich fühle mich beinahe geblendet von ihrer Schönheit. Carter sieht mich sanft an. Seine Lippen sind unscheinbar leicht angehoben und er blickt zaghaft auf mich nieder.
Er mustert mich.
Er mustert mich innig.
Seine Hände an meinem Körper prickeln durch den Stoff des Pullovers. Sie sind wie immer warm und wohlig und sie fühlen sich perfekt an, wenn sie mich dort berühren.
»Was bedrückt mir dein Herz, Rosie? Und wieso ignorierst du mich? Ich kann es nicht ertragen, wenn du mir nicht in die Augen sehen kannst. Sag mir, was habe ich falsch gemacht. Es tut mir aufrichtig leid, was immer es auch ist.«
Es liegt nicht an ihm.
Es hängt nur mit ihm zusammen, wie so viele Dinge in diesem Leben.
Es sind Kleinigkeiten.
Es sind kindische Selbstzweifel und die Publik. Einfach alles.
»Rosie, rede bitte mit mir!«
Er sieht bedrückt aus.
Er sieht traurig aus und ich kann seinen großen, weinerlichen Augen nicht standhalten.
Sie sind so unschuldig, sie sind so rein und freundlich und nett.
Wieso bin ich nur so blöd gewesen?
Wieso war ich so unerträglich und gemein?
Die Probleme liegen doch hauptsächlich an mir.
Ich bin aus unausstehlichen Gründen eifersüchtig und ungerecht. Ich handle selbstsüchtig und widerspenstig und ohne jedes Recht.
Ich habe ihn niemals verdient!
»Es tut mir leid, Carter. Ich bin ein schlechter Mensch und das will ich nicht bestreiten.
Heute ist ein Misttag und ich lasse meine ganzen Gedanken an dir aus. Das ist absolut inakzeptabel! Ich bin nur so ... und in der Schule sind alle so ... Außerdem sind da noch ...«
Diese grässlichen Handynummern, die ich dir geben soll ...!
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