11|| CARTER, DAS KISSEN
Amanda
Carters Erscheinen brennt sich wie Feuer durch die Schule und spätestens in der Mittagspause ist er Gesprächsthema Nummer eins.
An den Tischen hört man sie munkeln, wild diskutieren, rätseln, verliebt seufzen und schwärmen.
Ich bin davon ausgegangen, dass Carter einen guten Eindruck hinterlassen würde, aber das er so beliebt ist, ist schon ein Wunder.
Die letzten Stunden Unterricht hatten wir in getrennten Kursen.
Carter hatte Musik und ich Kunst. Das hat unseren Schultag geschieden und somit auch uns.
Ich habe ihn seit der dritten Stunde nicht mehr gesehen.
Dafür rennen ihm die Mädchen in jeder Pause heimlich hinterher.
Kein Wunder.
Auch in meinen Augen ist Carter ein Augenschmaus, um es einmal ganz ungeniert auszusprechen.
Ich bin von den vielen verliebten Mädchen ein wenig aufgescheucht.
Es versetzt mir einen Stich zu wissen, wie begehrt der Lockenkopf ist und wie viele Mädchen er sofort haben könnte.
Mädchen, die viel hübscher, gebildeter, lustiger und netter sind.
Mädchen, die ihm das Wasser reichen können.
Ich bin mir sicher, dass gar nicht können zu wollen. Ich kenne Carter schließlich gar nicht und er ist bloß ein Bekannter. Irgendetwas aber an meinem Körper gefällt es nicht zu sehen, wie andere Mädchen Carter begehren. Ich kenne diesen Teil meinerselbst gar nicht. Und ich weiß auch nicht, was er zu bedeuten hat.
»Hey! Amanda! Warte mal!«
Cilia und ich sind im selben Mathekurs, aber eigentlich reden wir nicht miteinander.
Ihr Vater ist ein erfolgreicher Anwalt und hat daher genug Geld, um sein kleines Prinzesschen zu verwöhnen.
Ich bin nicht neidisch.
Ihr Leben ist nicht halb so perfekt, wie es vor der Presse manchmal scheint.
Designerklamotten und teure Schminke sind bei weitem nicht alles im Leben.
Cilia ist hübsch, ohne Frage, sie ist sogar bildhübsch. Ein Mädchen, wie sie ist es, das den Jungen meines Jahrgangs gefällt. Zudem ist sie schlau und gerissen. Ein wahrer Traum ... für den ich trotzdem noch nie wirklich Sympathie aufbringen konnte.
Vielleicht, weil sie zumeist unglaublich gestellt und arrogant wirkt und ist.
Sie glaubt, sie sei etwas Besseres.
»Was gibt es?«
Ich bin höflich.
So hat man mich erzogen.
Aber eigentlich gehen mir andere Dinge durch den Kopf, für die ich liebend gern unhöflich sein wollen würde.
Cilia wirft gekonnt ihr schwarzes Haar zurück und bleibt vor mir stehen, ehe sie kurz über ihre geschminkten Lippen tupft und dann zu reden beginnt.
»Du kennst doch den Neuen, oder?«
Ich hebe eine Augenbraue.
Echt jetzt?
Sie hält mich wegen Carter auf?
Wow ... er scheint wirklich Umlauf gemacht zu haben. Und das in nur wenigen Stunden.
»Wenn du Carter meinst, dann ja. Ich kenne ihn ein wenig.«
»Und siehst du ihn heute noch mal?«
Sie sieht mich fragend an und klimpert mit ihren unschuldig langgezogenen Wimpern.
Ich überlege.
Laut seinem Stundenplan hat Carter ebenfalls Nachmittagsunterricht gehabt.
Das würde bedeuten, dass er nun ebenfalls Schulschluss hat. Ob er dann aber auf mich wartet und sich nicht abholen oder wegbringen lässt, weiß ich nicht.
In dieser Stufe gibt es längst volljährige Schüler, die Auto fahren dürfen.
Vielleicht hat er sich mitnehmen lassen.
Ich weiß es nicht genau.
»Ich denke schon«, sage ich trotzdem. Immerhin sind er und ich Nachbarn und ich kann ihn gegebenenfalls auch einfach besuchen.
»Perfekt. Kannst du ihm dann diesen Zettel geben und ihm sagen, dass er mich ruhig mal anrufen soll?«
Mir bleibt das Herz stehen.
Ist das ihr Ernst?
Ich soll den kleinen Lieferboten spielen, damit sie sich an ihn ranmachen kann?
Wie lächerlich.
Und doch sehr verletzend.
Ich nehme mit ausdrucksloser Miene den pinken Notizzettel entgegen und starre, innerlich angewidert, darauf.
»Klar«, murmle ich und versuche mein angefressenes Herz zu ignorieren.
»Wenn du ihm sagst, dass ich das Mädchen bin, neben das er sich in Physik gesetzt hat, dann wird er mich sofort erkennen.«
Sie kennen sich also schon?
Hat er sie so lieblich angesehen, wie Maria heute morgen?
Bestimmt.
Dann ist ihm wohl auch ihre Schönheit aufgefallen.
Sehr bestimmt.
Er muss sie vermutlich sofort gemocht haben.
So wie alle.
»Okay, ich werde ihn informieren.«
Ich senke beschämt den Kopf und stecke den Zettel in meine Jackentasche.
»Danke, Süße!«
Sie lächelt übertrieben und stöckelt dann in Richtung des Schulhofs, die Nase erhoben in die Luft gereckt.
Ich sehe ihr lange nach.
Kurzer, karierter Bleistiftrock, eine weiße Bluse und ein schicker Blazer. Sie hat Style und sieht nicht billig aus. Und wenn Carter zwei Augen im Kopf hat, dann wird er sie jedem anderen Mädchen vorziehen.
Wie könnte er nicht?
Meine Laune sinkt mit jedem Meter Entfernung zwischen uns beiden tiefer und ich kann mich erst wieder bewegen, als Cilia nicht mehr in Sichtweite ist.
Der Tag hatte so schön begonnen, aber jetzt ist der Schönheit Welke gewichen und ich wünsche mir nichts mehr, als einfach in mein Bett zu springen und meine Decke über den Kopf zu ziehen.
Was habe ich mir auch eingebildet?
Das Carter bei meinen Freunden und mir bleibt und wir richtige Freunde werden?
Oder dachte ich, ich könnte ihn trotz der hundert anderen Schülern irgendwie bei mir halten?
Habe ich tatsächlich gedacht, die Bekanntschaft schon vor der Schule hätte etwas zu bedeuten?
Wie naiv konnte ich nur sein?
Carter ist Carter ... und ich bin nun mal einfach nur ... ich.
Mit langsamen Schritten trotte ich über den Parkplatz zu den Fahrradständern, um schnellstmöglich nach Hause ins Bett zu kommen.
Ich brauche meine wöchentliche Verpackung Eis. Das bedeutet, dass Dad heute Abend wieder einen Einkauf tätigen muss, damit ich für den depressiven Freitag auch noch eine habe.
Was für ein öder Misttag.
Und er wird noch mistiger, als ich meine Fahrradschlüssel nicht finde. Das, wie sonst immer in meiner Jackentasche verstaute, Schlüsselbund ist nicht mehr an Ort und Stelle und als ich am Fahrrad gucken will, ob ich ausnahmsweise vergessen habe, abzuschließen, muss ich bitter feststellen, dass auch mein Fahrrad nicht mehr aufzufinden ist.
Panik macht sich in mir breit und ich bin gleichzeitig unglaublich wutgeladen, dass ich ärgerlich gegen den Fahrradständer trete und das Metall zum Donnern bringe.
Seit wann will mich der Donnerstag eigentlich verarschen? Und wer hat mein verdammtes Fahrrad gestohlen?
»Brauchst du einen Chauffeur, Rosie?«
Ich fahre herum, als Carter hinter mir mit der Fahrradklingel spielt und mich dann einmal umrundet.
Er grinst schief bei meinem Gesicht und scheint sich köstlich darüber zu amüsieren, dass ich vor Wut koche.
»Sei nicht böse. Du hattest die Schlüssel heute morgen vergessen und deshalb habe ich für dich abgeschlossen.«
Ich bin sprachlos etwas zu sagen. Die Worte für ein Gespräch oder dergleichen wollen einfach nicht kommen.
Ich bin nur fähig, Carter anzustarren.
»Rosie?«
»Rosie?«
Carter winkt vor meinem Gesicht und sieht mich besorgt an.
Ich schüttle den Kopf und versuche mich zu besinnen.
Was auch immer nicht stimmt, es macht mich wuschig.
»'tschuldigung«, murmle ich mit leicht gesenktem Blick und streiche mir mein offenes Haar aus dem Gesicht.
Carter greift nach meiner Hand. Seine Berührung sprüht Funken und lässt mich gezwungenermaßen wieder aufsehen.
»Du siehst ein wenig blass und kränklich aus.«
»Nein, nein, alles in Ordnung!«
Das Leben kommt langsam in meine Glieder zurück.
»Ach, Amanda. Wenn ein Mensch sagt, es ginge ihm gut, geht es ihm nie wirklich gut. Du kannst die Welt belügen, aber nicht mich.«
»Es ist aber wirklich nichts, Carter. Ich möchte nur bitte nach Hause.«
Er sieht mich forschend an, als ich einen Schritt auf das Fahrrad und somit auch auf ihn zumache.
»Dieses Gespräch ist noch nicht beendet«, bestimmt er, lässt seine Sorgen dann aber fallen und deutet auf den Gepäckträger.
»Ich habe mir den Weg gemerkt. Jetzt bin ich dran, die Lady Heim zu bringen.«
Er sieht stolz aus und ich lasse ihm das.
Ohne Widerrede setze ich mich seitlich auf das Fahrrad und schlinge meine Arme um Carters Taille.
Er scheint davon nicht beeindruckt, streichelt meine Finger bloß einige Sekunden und fährt dann an.
Ich bin verkrampft.
Aber als wir den Kanal entlang nach Hause fahren, der Wind an Carters Rücken bricht und mir damit einen kleinen Schauer beschert, er in einem sicheren und gleichmäßigen Tempo fährt, lockere ich mich und lehne mich, trotz meines kleinen Anflugs von Eifersucht und Zorn, an ihn und schließe mit Genuss meine Augen.
Er hat auf mich gewartet.
Um mich nach Hause zu bringen.
Nur mich.
Carter
Amanda um sich zu haben, ist wie die erfrischende Nordseeluft, die hier in Holland aufweht.
Ihre kindliche Art und ihr Charakter sind ein Wechsel aus Klugheit und Spaß und irgendwie finde ich diese Seiten unheimlich attraktiv an ihr.
Auf Grandmas Party habe ich nicht geglaubt, eine Frau wie sie zu finden.
Aber ihre Gestalt ist eine wahre Erscheinung gewesen, wie ein Sonnenaufgang, und es ist mir nicht möglich sie zu ignorieren, selbst, wenn ich das je wollen würde.
Sie hat fabelhaft ausgesehen in dem weißen Sommerkleid, das seidig über den Boden geschliffen und mit silbernen Strasssteinen besehen war.
Alles an ihr wirkt, als sei es für sie und ihr Lachen gemacht. Es passt einfach und das ist so unglaublich graziös, dass ich nicht wegsehen kann.
Sie ist atemberaubend.
Ein Chaos aus Gefühlen, Gedanken und Wissen bei dem man vollkommen den Überblick verliert, je öfter man sie sieht.
Aber irgendwie zieht mich das an.
Die Unklarheit.
Die Undurchsichtigkeit.
Ich will derjenige sein, der irgendwann den Durchblick hat.
Ich will sie verstehen und sie in all ihrer Vollkommenheit ansehen können.
Das Herzklopfen ist ein Bonus.
Amanda krallt ihre Hände von hinten um meine Taille.
Ihre kleinen Finger liegen verkrampft um den Stoff meines Pullovers, aber ansonsten ist sie entspannt und ruhig.
Sie sagt kein Wort, lehnt ihren Kopf mit der Zeit bloß an meinen Rücken und lässt ihn dort liegen.
Holland fließt wie in Zeitlupe an uns vorbei, aber wie auf dem Hinweg habe ich keine Chance mich auf die Landschaft zu konzentrieren.
Mein Magen kribbelt aufgeregt und macht Hüpfer, wegen 'Mandas Anwesenheit.
Sie macht mich nervös. Aber auf eine gute Weise. Auf eine aufregende Weise.
Die letzten Meter bis nach Hause lasse ich das Fahrrad ausrollen, um möglichst sanft in die Einfahrt zu dem kleinen Familienhaus der Vines zu kommen.
Als ich dann absteigen will und denke, auch Rosie würde sich lösen, bleibt sie stocksteif sitzen. Sie rührt sich keinen Millimeter.
»Weißt du, ich würde dich am liebsten den ganzen Tag festhalten und wärmen, aber ich bin mir sicher, dass das hier der falsche Moment ist.«
Sie erwidert darauf nichts und als ich mich in ihrer Umklammerung reckle, weiß ich auch wieso.
Wie ist es möglich im Schlaf noch süßer auszusehen, als sonst sowieso schon?
Die Lider entspannt geschlossen und ein rührendes Lächeln auf den Lippen, schläft Amanda an meinem Körper.
Das eigene Lächeln fliegt wie von selbst auf meine Lippen und ich kann nicht verhindern, sie einen Moment anzustarren.
»Verstehe. Carter, das Kissen.«
Ich stoße einen lachenden Laut aus und versuche dann ihrer Umarmung zu entkommen, ohne sie und das Fahrrad damit umkippen zu lassen.
Es ist eine kleine Tortur, aber irgendwann habe ich das Fahrrad an die Hauswand gelehnt und Amanda auf meine Arme gehoben, um sie ohne Umschweife ins Haus zu tragen.
Ich weiß nicht, wie dumm ich aussehen muss, als ich klingle und die Tochter des Hausherren in den Armen halte. Als Miss Vine mir öffnet scheint sie jedenfalls ein wenig perplex.
»Oh!«
»Guten Tag, Miss Vine. Ich würde Ihnen gerne die Hand schütteln, aber ich vermute, dass es zunächst einfacher wäre, Amanda in ihr Bett zu tragen. Sie ist auf dem Rückweg hierher eingeschlafen und ich wollte sie ungern wecken«, stelle ich sofort klar und sehe zwischen Amanda und ihrer Mutter hin und her.
Ein Grinsen stiehlt sich auf die Lippen von Miss Vine. Sie scheint amüsiert und macht sofort Platz, um mich die Tür passieren zu lassen.
»Das ist wirklich sehr nett von dir, Carter. Anscheinend war der Schultag heute mal wieder ein wenig lang.
Mottis Zimmer ist hier die Treppe hoch und dann scharf nach links abgebogen die letzte Tür am Gang.
»Danke sehr.«
Ich nicke höflich mit dem Kopf und setze mich dann in Bewegung, um die große Prinzessin in ihr Bett zu tragen.
Amandas Zimmer ist nicht zu verfehlen.
Ihre Tür steht einen Spalt weit offen und als ich sie weiter aufschiebe, erkenne ich sofort das in weiß und türkis gehaltene Zimmer mit den vielen Lichterketten an Wand und Decke, das ich auch sehe, wenn ich von meinem Zimmer zum Nachbarhaus hinübersehe.
Ich weiß, dass auch sie schon erfahren hat, dass ich ihr gegenüber hause.
Wie wir uns dementsprechend verhalten ist albern, aber lustig.
Möglichst sanft, um sie nicht zu wecken, lege ich Amanda auf ihr Bett und versuche mich aufzurichten.
Ihr Griff allerdings ist krampfend. Es ist nicht möglich ihre Fäuste von meinem Pullover zu lösen.
Ich kämpfe ein wenig mit ihr, dann aber lasse ich nach und ziehe den Hoodie einfach aus.
Soll sie ihn doch behalten. Wenn sie ihn unbedingt will.
Ich richte mich auf und streiche das übriggebliebene T-Shirt an meinem Oberkörper glatt.
Amanda rollt sich mit einem zufriedenen Seufzen zusammen und schläft dann selig weiter. Ich lache leise.
Sie ist verrückt.
Nachdem ich ihr, der Bequemlichkeit wegen, dann noch die Schuhe und die Straßenjacke ausgezogen und sie zugedeckt habe, lasse ich sie allein zurück und gehe die Treppe wieder hinunter.
Länger bei ihr zu bleiben, wäre zu auffällig und ich will einen guten Eindruck bei ihren Eltern hinterlassen. Es ist mir wichtig.
Miss Vine steht in der Küche, als ich am Treppenansatz ankomme. Ich möchte höflich sein und klopfe am Türrahmen, damit sie mich bemerkt.
Miss Vine ist eine große und schlanke Frau. Ihr Gesicht zieren einige Lachfalten und gerade die machen sie jünger und sympathischer.
Amanda hat große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, aber das nicht nur vom Äußeren urteilen.
Auch charakterlich sind sie sich ähnlich, handeln mit derselben Eifer und haben denselben Humor.
Sie sind keine komplizierten Menschen. Einfach veranlagt, sehen nicht alles so eng.
Das macht einen Anteil in ihrem Leben leichter und erweckt Wohlgefühl, wenn man in ihrer Nähe ist.
Ich bin gerne mit Amanda.
Sie hat ein unbeschwertes Lachen und einfach etwas an sich, dass sie mir wichtig macht.
»Ich schätze, der Tag war heute einfach sehr lang«, beginnt Miss Vine das Gespräch. Sie sieht ein wenig besorgt aus, als sie so indirekt über ihre Tochter redet.
»Aber ... Wie war denn dein erster Eindruck, Carter? Gefällt dir die Schule?«
Ich setze mich gern an den Küchentisch und plaudere ein wenig. Grandma ist sowieso noch nicht daheim und es ist immer gut, sich mit den Eltern der Freunde vertraut zu machen. Grandma liebt ihre Nachbarn, insbesondere diese Familie und Amanda. Ich kann erahnen wieso.
Miss Vine bietet mir sehr gastfreundlich eine Tasse Tee an, die ich gerne annehme, ehe ich beginne ihre Fragen zu beantworten.
»Die Schule gefällt mir gut. Die Lehrer und meine neuen Mitschüler sind sehr freundlich und mit der Hilfe Ihrer Tochter war es leicht einen Anschluss zu finden. Es war wirklich nett, dass Amanda Zeit hatte, um mir die neue Umgebung zu zeigen.«
»Ach, was. Das hat sie sehr gerne gemacht. Sie war heute morgen bei solch einer guten Laune, die nur verheißen konnte, wie sehr sie sich auf diesen Tag gefreut hat. Normalerweise ist sie morgens sehr träge und erschöpft.«
Ich grinse.
Amanda hat mir da etwas Ähnliches erzählt.
»Ich habe schon von ihrer Müdigkeit erfahren und kann mich dem nur anschließen. Ich bin am Morgen auch nicht in bester Auffassung.«
Miss Vine grinst. Es ist dieses typische Ich-Weiß-Wovon-Du-Redest-Grinsen. Sie ist eine kluge und durchschauende Frau.
»Da habt ihr ja eine nette Gemeinsamkeit. Fehlt nur noch, dass dich deine neue Geschichtslehrerin ebenfalls so hochnimmt, wie sie es bei Lili und Motti tut.«
Es scheint ein Reflex, Kilian und Amanda bei ihren Spitznamen zu nennen. Ich bin amüsiert darüber. Aber Amanda und Kilian scheinen so innig befreundet, dass es kein Wunder ist, dass auch ihre Eltern damit vertraut sind.
»Wir sind tatsächlich im selben Geschichtskurs gelandet. Ich werde mir das Ganze dann schon morgen einmal live ansehen.«
»Ich wünsche dir viel Ausdauer. Amanda ist freitags nach diesen Stunden immer vollkommen ausgelaugt. Sie sitzt den restlichen Nachmittag nur noch mit Eis auf der Couch und frustet sich aus.«
Das ist, was Miss Vine besorgt. Ihre Augen durchzuckt dieser Schleier des Beschützerinstinkts, den ich auch meiner eigenen Mutter zuordnen würde.
»Klingt, als sei es zu viel«, mutmaße ich und bekomme selbst ein beklommenes Gefühl, wenn ich an eine betrübte Amanda denke.
»Na, ja ... es ist kompliziert und nicht halb so schlimm, wie ich es aufgreife. Immerhin liebt Amanda Geschichten und die Vergangenheit. Sie liest nichts anderes, als historische Romane, Bücher mit wahren Begebenheiten oder Berichte aus Zeiten des Krieges oder der Antike. Sie nimmt jede Jahreszahl, jede Persönlichkeit in sich auf. Es ist, was sie wirklich interessiert. Es ist eine Leidenschaft. Das war es schon immer. Und es ist ihrer unendlichen Neugierde geschuldet. Ich finde es toll, dass sie damit sowas wie ein Hobby gefunden hat. Aber manchmal habe ich auch Angst, dass sie sich in etwas hineinsteigert, dass sie es mit ihrer Wissbegierde übertreibt und auch mit dem Drang, es ihrer Lehrerin zu beweisen.
Sie macht sich damit selbst müde und auch, wenn sie das noch nicht einsehen und ein Spiel aus dem Druck macht, habe ich Sorgen, dass sie eines Tages platzt.«
»Ohne Ihnen nahe treten zu wollen, aber Sie sehen aus, als stecke noch mehr dahinter.«
Und ich bin neugierig.
»Ich steigere mich in zu viel hinein. Du darfst nicht zu ernst nehmen, was ich dir hier erzähle. Ich bin eine Mutter und Mütter haben einen unglaublich schrecklichen Beschützerinstinkt, der uns oftmals überreagieren lässt.
In meinem Fall ist es die Angst darum, dass sie durch das viele Lernen und Pauken und generell wegen des Drucks in der Schule und all den Klausuren und Tests, die sie mit Bravour bestehen will, etwas Wichtiges in ihrer Jugendzeit verpasst.
Sie sollte mehr ausgehen, mehr Spaß haben, ein bisschen mehr Lachen und Blödsinn machen. Ich weiß nicht, warum ich gerade dir das jetzt erzähle, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es dir ruhig sagen kann.«
»Sie haben Angst, dass Amanda zur falschen Zeit erwachsen wird«, stelle ich fest und sehe der Mutter meiner neuen Freundin in die Augen.
Ich bin dankbar für ihr Vertrauen. Und das ohne uns wirklich zu kennen.
Miss Vine nickt und starrt einige Sekunden ins Leere.
Ich bin ebenfalls nachdenklich.
Ich kenne Amanda nämlich nicht wirklich. Die kurzen Bekanntschaften machen sie zu einer annähernden Freundin, aber niemanden, den ich wirklich als Vertrauten bezeichnen würde.
Ich bin mir bei Amanda in vielen Dingen unsicher, aber eines ist mir klar.
Ich bin nicht hier, um sie beim Untergehen zu beobachten.
Vielleicht hat Miss Vine recht.
Rosie paukt und lernt und strotzt zu viel. Ich werde mir davon wohl selbst ein Bild machen.
Und vielleicht kann man diesen Dingen dann ja sogar ein wenig Spaß abgewinnen.
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Eine große Entschuldigung für die Verspätung, aber dafür ein etwas längeres Kapitel.
Danke fürs Lesen und bis Morgen!
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